Das neue Bewusstsein
Aus dem Chaos des Alten erwächst eine neue Ordnung. Teil 1/2.
Inmitten des weltweiten Chaos, das durch den zunehmenden Materialismus, die Ausbeutung von Ressourcen und vor allem durch wirtschaftliche Machtinteressen hervorgerufen wurde, vollzieht sich momentan ein grundlegender Bewusstseinswandel. Die bisherige patriarchalische, kurzsichtige und verantwortungslose Vorgehensweise provoziert Kriege und weltweit Hunger und Not. Sie bedroht die biologische Vielfalt und das Leben auf der Erde massiv und wirft die grundsätzliche Frage des menschlichen Überlebens auf diesem Planeten auf. Ausnahmslos alle Menschen sind davon betroffen. Dies wird insbesondere an der psychischen Not offenkundig, die allerorts herrscht und die durch die Coronamaßnahmen noch verstärkt wird. Kein Internet und kein iPhone kann reale menschliche Begegnung und ein Miteinander ersetzen. Kein noch so durchdachter Terminus, kein noch so vehement vertretener Ismus, keine noch so komplizierte Maschine kann unsere Sehnsucht nach dem Eigentlichen stillen. Was aber ist das Eigentliche?
Bereits in den 1940er Jahren hat der Philosoph und Bewusstseinsforscher Jean Gebser in seinem Hauptwerk Ursprung und Gegenwart auf den sich gegenwärtig vollziehenden Bewusstseinswandel hingewiesen (1). Er bezeichnete dieses neue Bewusstsein als integral, weil es alle bisher mutierten Bewusstseinsstrukturen, die sich während der Menschheitsgeschichte entfalteten, bewusst integriert. Gebser zeigt auf, dass sich dieses neue Bewusstsein bereits seit längerem ankündigt, während gleichzeitig das überkommene mental-rationale Bewusstsein in seiner Übersteigerung zusehends zerfällt.
Dank Gebser haben wir klare Hinweise auf die jeweiligen Anzeichen sowohl des Zerfalls der alten Struktur als auch bezüglich der Erscheinungsformen der neuen. Diese Anzeichen zu erkennen ist deshalb so wichtig, weil wir in dieser Zeit des Chaos und des Zerfalls, dieser Zeit der Ängste und Befürchtungen nach einem Ausweg suchen. Wenn wir verstehen, was Gebser uns aufgezeigt hat, wird deutlich, dass die gegenwärtige Krise die Folge der geistigen Haltung des mental-rationalen Bewusstseins ist. Dieses Bewusstsein ist auf das Außen der Dinge, auf das Fassbare und Berechenbare fokussiert und im Besonderen auf die Zerlegung der Welt in Teile.
War zu Beginn das mentale Bewusstsein, zunächst in der Antike und dann in der Renaissance, noch maßvoll und vernunftbetont und hatte die Vernunft noch Einfluss auf die Psyche, wie Gebser schreibt, so ist es heute in der Endphase seines Zerfalls maßlos geworden, und die Psyche bemächtigt sich des mental-rationalen Bewusstseins. Dies ist gegenwärtig überall zu beobachten, sei es in der Politik oder in der von Großunternehmen beherrschten Wirtschaft, oder sei es in der gezielten Manipulation der Menschen durch die Mainstream-Medien.
Dieser Artikel versucht Gebsers Bewusstseinsmodell kurz zu umreißen und widmet sich dem Zerfall unserer momentan herrschenden Bewusstseinsphase. Dabei werden die wesentlichen Erscheinungsweisen dieses Zerfalls sowie die bedeutendsten Hinweise auf das neu aufkeimende integrale Bewusstsein aufgezeigt. Hierzu zunächst ein kurzer Abriss der von der Menschheit vollzogenen Bewusstseinsphasen nach Jean Gebser.
Die Bewusstseinsmutationen nach Jean Gebser
In seinem Bewusstseinsmodell beschreibt Gebser fünf aufeinander aufbauende Stufen, die sich in der Menschheitsgeschichte vom Ursprung bis heute vollzogen haben und die jeder einzelne Mensch in seinem Leben erneut durchlebt. Jede Stufe beziehungsweise Mutation, wie Gebser sie nennt, durchläuft eine effiziente aufbauende Phase, in der die neuen Qualitäten herausgebildet und integriert werden und in der das jeweilige Potenzial bewusst wird.
Ist eine Struktur erschöpft, setzt eine sogenannte Defizienzphase ein, in welcher es allmählich zu einer Übersteigerung der gegebenen Qualitäten kommt. Es baut sich eine chaotische Phase auf, in der sich zersetzende und zerstörerische Auswirkungen zeigen und in der gleichzeitig die Qualitäten der neuen Struktur zum Vorschein kommen. Diese Bewegungen führen dann sprunghaft in die Mutation (2).
Die archaische Struktur
Sie ist noch mit dem Ursprung identisch. Sie kennt weder ein Wir- noch ein Ich-Bewusstsein. Der archaische Mensch ist noch eins mit dem Kosmos und im Einklang mit dem Ganzen, ist sich dessen jedoch nicht bewusst.
Die magische Struktur
Sie ist männlich dominant und nach außen gerichtet. Der magische Mensch lebt in einem vitalen und triebhaften Bewusstsein. Raum und Zeit sind ihm nicht bewusst. Die Welt offenbart sich ihm schemenhaft und er kommuniziert mit ihr telepathisch.
Die mythische Struktur
Sie ist weiblich dominant. Der mythische Mensch hat ein ausgeprägtes Gemeinschaftsbewusstsein und ist auf sein Inneres, auf seine Seele bezogen, die er vorwiegend psychisch erfährt. Dabei bildet die Seele noch eine Einheit mit der göttlichen Sphäre, die als weiblich empfunden wird. Dem mythischen Menschen wird erstmals die Zeit als kreisende, rhythmische Naturzeit bewusst.
Dementsprechend stehen sich die Gegensätze nicht — wie in der auf das mythische Bewusstsein folgenden mentalen Struktur — dualistisch gegenüber, sondern sind polarer Natur; sie schließen einander nicht aus, sondern ergänzen sich und verschmelzen zu einer Einheit.
Der mythische Mensch ist durch die Imagination geprägt. Er entäußert, was er in seinem Inneren wahrnimmt, und nimmt das nach außen Gespiegelte wieder zurück, um sich dessen bewusst zu werden. So entstehen die Mythen als Projektionen seiner Seele, die ihm ihrerseits wieder zum Spiegel werden, damit er sich der Inhalte bewusst wird.
Die mentale Struktur
Sie ist wie die magische männlich dominant und daher nach außen gerichtet. Der mentale Mensch setzt sich mit der Materie auseinander und zerlegt die Dinge in ihre Einzelteile, um sie zu analysieren und von ihnen dann auf das Ganze zu schließen. Nicht das ausgleichende mythische Sowohl-als-auch-Prinzip bestimmt seine Weltsicht, sondern ein striktes Entweder-Oder. Der mentale Mensch muss sich entscheiden: richtig oder falsch, gut oder böse, weiblich oder männlich?
Durch die Entdeckung und Anwendung der perspektivischen Gesetze wird dem mentalen Menschen der Raum bewusst, der ihm die dritte Dimension erschließt. Durch die Fixierung der Zeit in den Raum ist die Zeit im mentalen Bewusstsein eine lineare, in die Zukunft gerichtete Konstante mit einem Anfang und einem Ende. Dabei verliert der mentale Mensch seinen Bezug zur Vergangenheit und ist auf die Zukunft fixiert. Die mentale Zeit ist ein irreversibles, unwiederbringliches, vergängliches Geschehen, das in Abschnitte quantifiziert ist, in Sekunden, Minuten, Tage und Jahre.
Die Entdeckung der Perspektive und der Individualität
Mit der Bewusstwerdung des Raumes und der Entdeckung der Perspektive, die es ermöglicht, die Welt in Ausschnitten und Teilen zu erfassen, erwacht im mentalen Menschen sein Ich-Bewusstsein, das ihn aus der mythischen Gemeinschaft in die Individualität treibt und weiter strebend und erobernd in die Welt, um ihrer habhaft zu werden. Mit dem Herausfallen aus der mythischen Gemeinschaft und damit auch dem Aufgehoben-Sein in ihr muss sich das Ich, das nun der Welt beziehungsweise dem Anderen, dem Fremden und potenziell Feindlichen gegenübersteht, bewähren.
Eine Folge dieser Vereinzelung ist daher das Haben-Wollen, ja, Haben-Müssen, das sich nicht nur auf materiellen Besitz bezieht, sondern vor allem auf die Macht über das Andere beziehungsweise über den Anderen.
Denn in der Vereinzelung, ja, im Ausgesetzt-Sein in der Welt, wird die Welt als feindlich erfahren, als voller Gefahren und muss daher beherrscht und unter Kontrolle gebracht werden. Dies gilt nicht nur für den einzelnen Menschen, sondern auch für die imperialistischen Bestrebungen während der Antike sowie in der Neuzeit. In der Neuzeit führte die Zwangs-Christianisierung in der Neuen Welt zur Ausrottung indigener Kulturen, zur Vernichtung ihres Wissens und zur Versklavung. Unterdrückung, Machtausübung und Ausbeutung markieren hier den Beginn eines Umgangs mit dem Anderen, der bis heute besteht.
Die Fokussierung auf Einzelheiten und Teile ermöglicht den Beginn wissenschaftlichen Denkens. Alles fällt nun einer Bewertung anheim, welche dem mentalen Dualismus des Entweder-Oder entspricht, die Welt wird gemessen und messbar gemacht. Gebser schreibt:
„In der vom Menschen gemessenen und gedachten Welt hat die ungemessene und sich selbst denkende Welt, also die mythische Bilderwelt, keinen Platz; im besten der Fälle wird ihr der Gegenplatz zugewiesen; denn für das messende Denken gibt es keine Brücke zu dem Unermesslichen; im Sinne des Maßes ist es nicht oder bestenfalls ist es ein Nichtsein“ (3).
Nicht die fühlende, empfindende Psyche, nicht die allumfassende Seele des mythischen Menschen und sein Miteinander in der menschlichen Gemeinschaft bestimmen das Leben in der mentalen Welt, sondern das Bewusstsein der Vereinzelung, sowohl seiner selbst als auch der durch ihn fixierten Dinge und Gegebenheiten.
Der Mensch steht nun der Welt gegenüber
Der Orientierungspunkt ist nun nicht mehr das Göttliche oder das Allumfassende, sondern der die Welt und die Erscheinungen betrachtende Mensch selbst. Dieser betrachtende und fixierende Mensch ist sich seines Ichs bewusst. Denn nur einem Ich, das der mythischen Welt entsprungen ist, ist ein Gegenüber möglich: hier Mensch, dort ein männlicher Gott, hier das Diesseits, dort das abgetrennte Jenseits. Nur ein solches Ich ist in der Lage, einen subjektiven Standpunkt einzunehmen, das heißt: hier das Subjekt, dort das Objekt, hier das Ich und dort das Du und die ganze übrige Welt. Denken und Vorstellen bestimmen von nun an die Welt des mentalen Menschen.
Dieser enorme Sprung, dieser unerhörte Schritt aus dem mythischen in das mentale Bewusstsein wird an vielen Beispielen in der Zeit der Antike und besonders in der Zeit des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Neuzeit deutlich. Er hat geradezu etwas Gewalttätiges, und gleichzeitig ist er eine Befreiung. Diese Zwiespältigkeit prägt den Menschen dieser Übergangsphasen ins mentale Bewusstsein von Grund auf. Sie tritt im Außen sowohl in den grauenvollsten Gewalttaten als auch in den sich ebenso zeigenden Errungenschaften des neuen Bewusstseins in Erscheinung, wie etwa in der neu entdeckten Perspektive in der Kunst, in den Wissenschaften, in der Technik und im Handwerk (4).
Der Renaissance-Mensch erlebte eine ähnliche Phase des Chaos und der Ängste, ja, auch der Krankheiten, wie wir heute. Er bewältigte den Sprung aus dem mythischen ins mentale Bewusstsein, bei dem es vor allem darum ging, aus dem Gemeinschaftsbewusstsein in ein individuelles Ich-Bewusstsein zu gelangen.
Die Hinwendung war nun nicht mehr nach innen, sondern nach außen gerichtet und damit auf die materielle Welt, die Entdeckungen und die Wissenschaften sowie auf die Quantifizierung und das Zerlegen der Dinge in ihre Einzelteile. Diese Fixierung schließt jedoch eine Verbundenheit mit dem Ganzen aus.
Das Ende der rationalen Epoche
Heute stehen wir am Ende dieser Phase, die Wissenschaft und Fortschritt ermöglichte, indem der Fokus auf die Teile und nicht mehr auf das Ganze gerichtet war. Diese mechanistische Weltsicht reicht heute aber nicht mehr aus, die Welt zu beschreiben oder das heutige Chaos zu bewältigen, was bereits seit 1900 durch die Erkenntnisse der Quantenphysik offenkundig wurde.
Viele Menschen besinnen sich heute wieder auf ihr Inneres, beschäftigen sich mit Zusammenhängen und Verbindungen, bilden Netzwerke des Miteinanders und der Kommunikation und wollen die Welt und sich selbst in der ganzen Tiefe ergründen. Dies sind notwendige Schritte in eine neue Weltwahrnehmung, in der es darauf ankommt, sich dem Ganzen zu öffnen und die jeweiligen Verbindungen zwischen den Teilen wahrzunehmen.
Die momentan immer heftiger werdenden defizienten Geschehnisse der rationalen Bewusstseinsstruktur sind dabei für viele Menschen gerade der Antrieb, in ihre persönliche Verantwortung zu treten und neue Wege in die Zukunft zu beschreiten, sich nicht mehr alles vorgeben zu lassen, nicht mehr in der großen Masse mitzuschwimmen, sondern selbstbewusst den eigenen Weg mit Blick auf das Ganze zu gehen. Dazu gehört eine gewisse Offenheit den Erscheinungen gegenüber und eine Präsenz, die aus eigener innerer Reifung erwächst. Hier steht das menschliche Bezogen-Sein und nicht mehr das Ich im Vordergrund. Auch das lineare Zeitverständnis wird dabei gesprengt, wenn etwa ökologisches Bewusstsein dazu in der Lage ist, aus der Zukunft heraus zu handeln und das Weltganze einzubeziehen.
Präsenz fordert uns dazu heraus, auch unsere Mitwelt und andere Menschen und Wesen in unser Dasein mit einzubeziehen und immer mehr zu verstehen, dass alles miteinander verbunden ist. Nur so können wir uns allmählich als diejenigen wahrnehmen, die in einer gewissen Distanz zu ihrem Ich stehen. Diese Distanz ist deshalb so wichtig, weil das Ich lediglich Ausschnitte erkennen kann und identifiziert ist mit dem, was es erlebt hat. Nur in der Distanz zum Ich — in der Ich-Freiheit, wie Gebser sie nennt - ist es möglich, ganzheitlich wahrzunehmen.
Die integrale Struktur
Sie hat das Ich überwunden. Der integrale Mensch lebt in der Ich-Freiheit und weiß, dass sein Ich eine Instanz in ihm markiert, die von den Begebenheiten der Vergangenheit nicht nur geformt wurde, sondern mit denen es auch identifiziert ist. Im integralen Bewusstsein werden diese vergangenen Ereignisse in einem umfassenderen Sinne nicht nur wahrgenommen und verstanden, sondern auch zu einer Ganzheit. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind im integralen Sinne keine aufeinander folgenden Zeitphasen mehr, sondern Überlagerungen, in denen deutlich wird, dass die Zeit eine integrale Intensität ist. Das Ich steht deshalb auch nicht mehr im Vordergrund. Gebser spricht in diesem Zusammenhang vom Sich als unserem innersten Wesenskern.
Während die Aufgabe der mentalen Struktur die Bewusstwerdung des Ichs und des Raumes war, so ist die Aufgabe der integralen Struktur die Überwindung des Ichs wie des Raumes. Das zentrale Thema der integralen Struktur ist die Bewusstwerdung der Zeit als Qualität und Intensität. Damit ist nicht die quantifizierte, linear verlaufende, in den Raum fixierte und messbar gemachte Zeit, also die Uhrenzeit, gemeint, sondern etwas weitaus Umfassenderes.
Das integrale Bewusstsein nimmt die Dinge und Erscheinungen nicht folgerichtig oder linear wahr, wie es das mentale Bewusstsein vermag, sondern gleichzeitig.
Hier gelangt eine Qualität des magischen Bewusstseins in die Bewusstheit, denn während der magische Mensch die Erscheinungen auch gleichzeitig wahrzunehmen befähigt war, sich dessen allerdings nicht bewusst war, erlangt diese Gleichzeitigkeit im integralen Bewusstsein Bewusstseinscharakter. Mit den Dingen und Erscheinungen, die etwas bereits Bewirktes sind, nimmt das integrale Bewusstsein darüber hinaus auch das sie Bewirkende und Verbindende wahr. Es erkennt über das Äußere der Erscheinungen hinausgehend auch das Innere, das Wesen.
Das Ganze wahrnehmen
Die Aufgabe des integralen Bewusstseins ist es, sich aller uns konstituierenden Bewusstseinsstrukturen einschließlich des Ursprungs, der geistiger Natur ist und der durch alle Bewusstseinsmutationen hindurchscheint, bewusst zu werden und sie in ihrer jeweiligen Qualität und ihren Auswirkungen auf unser Leben wahrzunehmen. Die integrale Struktur ermöglicht ein Durchsichtig-Werden dieser inneren Strukturen einschließlich des Geistigen an sich. Gebser schreibt hierzu Folgendes:
„Die neu in den Menschen einbrechende Kraft ist keine Macht; sie macht ihn nicht mächtiger; aber sie soll ihn wahr machen; sie intensiviert die Bewusstwerdung, hebt ihn aus der Materie- und Psychegebundenheit heraus, wandelt ihn, daß ihm das Geistige durchsichtig wird. Wo dieser Kraftzuwachs in Mächtigkeiten umschlägt, statt als neue ‚Aufgabe‘ bewußt zu werden, zerstört er den Menschen“ (5).
Das integrale Bewusstsein ist also ein ganzheitliches Bewusstsein, in dem sich der Mensch seines vollen Potenzials und seines inneren Wesenskerns bewusst wird. In dieser geistigen Tiefe ist es möglich, sich von den Konditionierungen, persönlichen Befindlichkeiten und der Identifikation des Ichs mit ihnen zu distanzieren und in der Zeitfreiheit und der geistigen Klarheit das nur Vorübergehende von dem darüber Hinausgehenden zu unterscheiden.
Das rationale Bewusstsein, die Defizienzphase der mentalen Struktur
Die defiziente Phase des mentalen Bewusstseins ist jene, in der wir uns momentan befinden. Gebser nennt sie auch die rationale Bewusstseinsphase. Das weltweite Chaos zeigt uns auf, dass die alten Werte und Orientierungen des mentalen Bewusstseins zusammenbrechen. Gebser weist darauf hin, dass es in Mutationszeiten stets zu Störungen und Zerstörungen kommt, und dass der einzelne Mensch in seinem „bis dahin bestehenden und eingespielten vital-seelisch-mentalen Haushalt und Bestand ins Wanken gerät“, sofern er nicht zu einer Einsicht in die geschehende Mutation gelangt:
„Die Neigung zu Chaos, Zersetzung, Zerfall, Untergang und Zerstörung, der Verlust und Verzicht auf einst gültige Werte und das Heraufkommen des Entwerteten, welche in so vordergründiger Weise Ausdruck unserer Epoche sind, erschweren eine Interpretation der Manifestationen des neuen Bewußtseins außerordentlich: denn es ist alles außer seiner Ordnung“ (6).
Im Hinblick auf die Möglichkeiten, den momentan stattfindenden Wandel zu erkennen, geht es in erster Linie darum, die Kennzeichen der gegenwärtig zerstörerischen rationalen Struktur zu erkennen, da sie bei jeder und jedem existenzielle Ängste hervorrufen. Sie sind die Zeichen des Verfalls einer untergehenden Epoche, und wir können sie als Anzeichen ihrer Selbstauflösung verstehen.
Wenn das Rationale mehr und mehr ins Irrationale gerät, Wissenschaftlichkeit sich als manipulierbare Statistik zu erkennen gibt, wenn die einst so stolz verfolgten Zielrichtungen immer ziel- und zügelloser werden, alle Versuche um Klarheit und Ordnung in immer größeres und undurchsichtigeres Chaos führen, indem Entscheidungen vernunftlos, inhaltslos und sinnlos getroffen werden, wie es gerade täglich geschieht, haben wir es mit Aspekten der Selbstauflösung zu tun und sind konfrontiert mit einer großer Instabilität. Und gerade da führt sich die überkommene rationale Struktur ad absurdum.
Den geistigen Grund in uns wahrnehmen
Die überall aufkeimenden Impulse des integralen Bewusstseins befähigen uns dazu, hinter der räumlichen materiellen Oberfläche der Erscheinungen auch das sie Bewirkende, den geistigen Grund der Erscheinungen wahrzunehmen. Dies vor allem und in erster Linie in uns selbst. Die Bewusstwerdung dessen, was uns konstituiert, ist eine integrale Leistung, die Gebser als das Durchsichtig-Werden des Ganzen, also auch und insbesondere des Ursprungs, der geistiger Art ist, beschreibt. Dabei geht es nicht um kategoriale Größen oder Fixierungen, also um äußere Formen, Oberflächen oder Dinge, sondern um Inhalte, um das Wesen und um die geistige Tiefe.
Mit diesen Darlegungen Jean Gebsers haben wir einen Leitfaden, der uns hilft, diese schwierige Zeit zu überwinden, indem wir das Geistige und damit den alles durchscheinenden Ursprung in uns selbst wahrnehmen.
In Teil 2 werden wir uns den Anzeichen der neuen integralen Bewusstseinsstruktur widmen, die seit einiger Zeit wahrnehmbar sind und die es gilt, in ihrer Tiefe und Bedeutung für das Weltganze zu verstehen und in unser Dasein zu integrieren.
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Quellen und Anmerkungen:
(1) Gebser, Jean: Ursprung und Gegenwart. Erster Teil: Das Fundament der aperspektivischen Welt. Beiträge zu einer Geschichte der Bewusstwerdung (Gesamtausgabe Bd. 2). Zweiter Teil: Die Manifestation der aperspektivischen Welt. Versuch einer Konkretion des Geistigen (Gesamtausgabe Bd. 3). Gesamtausgabe in 8 Bänden, Schaffhausen 1986
(2) Die Bewusstseinsstrukturen sind zusammengefasst in: Stachowiak, Marina: temporik-art. Die schöpferische Bewusstseinsgestaltung vor dem Hintergrund der integralen Theorie Jean Gebsers, Reinheim 2017. Teil 2, S. 81 ff
(3) Gebser, Jean, a.a.O., GA, S. 89
(4) Diese Phase des ausgehenden Mittelalters und der Neuzeit ist ausführlich dargelegt in: Stachowiak, Marina: Non est deus. Der Narr und das Ich. Über das syphilitische Bewusstsein der Neuzeit. Reinheim 2018
(5) Gebser, Jean, a.a.O., S. 455
(6) Gebser, Jean: Gesamtausgabe S. 397