Das Nest im Unsagbaren
Die Poetik-Ecke VII sucht über unterschiedlichste Sprachen nach der Wahrheit der Stunde.
„Ich richte mir im Unsagbaren ein Nest.“ — Die erste Poetik-Ecke des wohl schicksalhaften Jahres 2022 legt aus drei sehr unterschiedlichen Perspektiven frei, was als Erkenntnis im Augenblick zu fassen ist. Und diese Erkenntnis ist umfassend. Sie verdichtet die Lage gesellschaftlich, politisch und seelisch und fördert — was so nur über Lyrik geht — Schichten zutage, die für das Begreifen des Ganzen nicht unwesentlich sind. Dass mit den Texten von Hanne Hilse, Johannes Weinberger und Tobias Weißert gänzlich verschiedene Lyrik-Sprachen zusammentreffen, macht die Lektüre der Poetik-Ecke VII für Leserinnen und Leser besonders reizvoll.
Hanne Hilse: In diesen Zeiten
In diesen Zeiten
Die nicht enden wollen
Die Lügen nicht, die Hetze nicht
Das Sterben nicht
In diesen Zeiten
Sterben nicht nur Alte und Kranke
Die, die immer schon gestorben sind
In diesen Zeiten
Heißt es oft: „Plötzlich und unerwartet“
Und das sind die Jüngeren
Auch die wirklich Jungen …
Die, die vorher gesund waren
Vor der Spritze
In diesen Zeiten
Sind es immer noch viele
Zu viele, die nichts merken
Nichts fragen, keine Zweifel haben
Die alles glauben, was ihnen erzählt wird
Vierundzwanzig Stunden am Tag
Sieben Tage die Woche
Seit 20 Monaten
Auf allen Kanälen, den offiziellen
In diesen Zeiten
Ist es lebenswichtig und überlebenswichtig
Zu verstehen: Wissen ist eine Hol-Schuld
In diesen Zeiten
Die nicht enden wollen
Entdecken wir das, worauf es ankommt
Es sind die Zeiten der neuen Wege
Der neuen Erkenntnisse
Einer neuen Tiefe
In diesen Zeiten
Finden wir zusammen
Die, die immer schon Fragen gestellt haben
Und die, die ihr Gespür für die Wahrheit
Nicht verloren haben
In diesen Zeiten
Sind Herzen erwacht
Und Gemeinschaften geboren.
In diesen Zeiten
Wurden wir gewahr
Was und Wer zu uns passt
Und Was und Wer nicht
Es sind Zeiten des Abschieds
Und es sind Zeiten des Findens
In diesen Zeiten
In denen Dunkles sichtbar wird
Und Helles erstrahlt
Sind wir dankbar für das Helle
Und auch für das, was wir erlösen können
Johannes Weinberger: Apokalypse
Was du sagst, ist falsch.
Was ich sage, ist falsch.
Was uns gesagt wird, ist falsch.
Dennoch reichst du mir das Salzfass
während dein Kopf in Flammen steht
und ich hole die Servietten aus dem Schrank
Wind zwischen meinen Fingern.
Der Bildschirm lügt
der Tag ist das Spiegelbild eines Tages
wir ausgeschlossen und mittendrin
die Nacht lügt
sie tut nur so
als würde sie uns verschlingen.
Du schluckst eine Tablette
gegen den Druck des Ungesagten
ich richte mir im Unsagbaren ein Nest
an dem du rüttelst
damit du nicht alleine wach bist.
Wir horchen stumm nach draußen
und hören Maschinen.
Schließ das Fenster, sage ich
sonst verirrt sich noch eine Maschine herein
und was ich nicht sehen kann
ist mir gerade zu viel.
Immer öfter müssen wir uns hinlegen
um nicht aus der Welt zu fallen:
stets vor die Wahl gestellt
zwischen Gift und Gift
fehlt uns jetzt nur noch Todesangst
um vielleicht belohnt zu werden
als willige Sänftenträger
der nächsten verordneten Wirklichkeit.
Deine Augen scheuen nach innen
meine Zunge bockt vor neuen Worten
bald werden wir vergessen haben
was wir nie vergessen wollten.
Ich will eine Weile im Schrank sitzen, sage ich
wenn jemand nach mir fragt
sag ihnen, ich sei durch die Tür hinaus gegangen.
Betäubt von Erinnerung
wiegst und drehst du dich
zu einem Lied, das gestern schon verklungen ist.
Ich will mit dir tanzen
bis zum Ende der Geschichte
über die Welt hinaus
aber nicht mehr zurück.
Jede Flucht dreht sich im Kreis
solange wir uns unter unserer Haut verstecken
und hoffen
dass niemand uns entdeckt
bevor wir wieder niemand werden
und all die unbeachtete Zeit
endlich zu nichts führt.
Das nächste Lied
wird den Staub wirbeln
die Tür aufwehen
und auch noch den letzten Blick löschen.
Gute Nacht, sage ich
und du verbeugst dich.
Auf den Knien
grapschen wir nach Sinn
die Münder immer aufgerissen
weil nur Schlucken uns noch wärmt.
Es geschieht mir recht
denken wir im Chor
und wer den Ton verfehlt
oder gar nicht mitsingt
ist ein Splitter in unserem Brei.
Bis meine Stimme versiegt
verspreche ich, dich immer wieder zu erkennen
und deinen Namen zu rufen.
Warte, rufe ich
die Straßen haben Augen
sie sollen uns bei einander sehen.
Jetzt sind alle Häuser aus Glas, sagst du
und ich bücke mich nach einem Stein
aber es gibt keinen mehr.
Mein Körper ist mir im Weg:
ich weiß noch nicht, wohin.
Die Sonne lacht
die Wolken weinen
der Wind singt
wie wir.
Aber irgendjemand muss daran schuld sein
dass der Sonnenstrahl die Dürre
der Regentropfen die Flut
die Brise den Sturm in sich birgt:
wir werden hinter der Hand würfeln
wen es diesmal trifft
und wir werden über die Augenzahl
in unsere bodenlose Tasche lügen
mit sanften Augen und mildem Lächeln.
Unter dem Schafspelz lauert nur das nackte Schaf
die Grube steht jedem offen
der den Blick vom Weg unter den Füßen abwendet
nach dem Glitzern am Horizont.
Während ich den Brunnen vergifte
malst du Augen zwischen die Zeilen
damit das Buch auch dich liest.
Lass uns geradeaus gehen
an den gefälschten Wegweisern vorbei
gehen wir weit weg
von Rechten und Pflichten
Umsturz und Hausrat
Fressen und gefressen werden.
Wenn wir nicht mehr vor unserem Schatten erschrecken
sind wir bereit für die Versöhnung von Tag und Nacht.
Hinter uns
brennen unsere Kostüme, Masken
Uhren und Messlatten
und unsere Haut.
Vor uns
nichts als Möglichkeit.
Zwischen uns
ein Kind der Liebe.
Tobias Weißert: Worte des Jahres
I. Regeln
Keine Maske!
Vermummungsverbot ist Regel!
Dient der Kenntlichmachung
sträflicher Demonstranten.
Demokratisch unbedenklich,
denn: Wer nichts zu verbergen hat,
verbirgt nichts!
Jetzt ist Maskierung Regel!
Aus Öffnungen des Kopfes
kreuchen Viren.
Von Aerosolen transportiert
wird jede Menschenmenge
zum Super-Spreader-Großereignis.
Unmaskiert ist ordnungswidrig,
bußgeldbewehrt!
AHA
ist doch ganz einfach:
Abstand — Hände waschen - Atemmaske
AHA
So sind die Regeln!
II. Solidarität
Ein großer Ruck geht durch das Land.
Erhab’ne Stimmung, nie gekannt,
schafft, was im Klassenstaat nicht geht,
uneingeschränkte Solidarität.
Keiner hält nur für sich die Regeln ein,
fürs ganze Land darf er der Retter sein.
Es schwindet arm, es schwindet reich,
es schwindet Hass, es schwindet Neid,
das Virus macht uns alle gleich.
Das dumme Märchen wird erzählt,
doch Angst ist, was zusammenhält.
Die nackte Angst, ganz individuell erlebt,
macht, dass ein jeder vor dem andern flieht
und nur im eig’nen Haus noch Rettung sieht.
Der Lehrer rennt und lässt die Kinder stehn,
der Arzt will keinen Kranken bei sich sehn,
geschlossen wird Pfarrei und Dom,
der Mitarbeiter sitzt im Home,
die Oma bleibt im Heim allein
und richtet sich aufs Sterben ein.
Und weil das wirklich gar nicht geht,
nennt man es: Solidarität!
III. DIE Wissenschaft
Wer hat das Ganze sich erdacht?
DIE Wissenschaft?
Ein neuer Virus überfällt die Welt.
Gigantisch das Gefahrenpotential.
40 Millionen Tote annual.
Spanische Grippe, Mittelalters Pest
bilden den Maßstab, der das schätzen lässt.
Alarm — Gefahr — die Weltsirene heult!
Ist das Orakel oder wissenschaftsbezeugt?
Von Unbekanntem lässt sich wenig sagen,
mit der Erscheinung stellen sich die Fragen.
Die Wissenschaft sucht hin nach allen Seiten,
ist kontrovers und muss sich streiten.
Wer sagt, er hätt’s zu Anfang schon erkannt
macht sich zum Narren in der Forschung Land,
es sei, er hätte vorher schon davon gewusst
oder auch selbst von langer Hand geplant,
was außer ihm auch keiner ahnt!
IV. Gesundheitsschutz
Am Gestade stehn Heroen
Angela und Karl, der Schmale,
wartend der Tsunami-Welle,
die sie kühn zu brechen wagen.
Atlas gleich, in Badehöschen,
patschen sie wie kleine Kinder
nach dem Abwärtsfluss des Wassers,
jauchzend, trunken ihrer Allmacht.
Für das Volk, das sie regieren,
ist das leider wenig lustig,
denn verödet wird das Leben,
wenn sie den Lock-Down befehlen
immer dann, wenn schon die Welle
an dem höchsten Punkte bricht.
Von DER Wissenschaft geleitet,
hatten Volkes Pädagogen
keine Wahl als in den Angst-Schock
jeder -mann und -frau zu setzen,
sodass sie nach Impfstoff sehnen,
Rettung wie von Himmelsbrot!
Über — über — über allem
zu des Vaterlandes Trutz
gibt’s nur noch Gesundheitsschutz.
Alle Rechte soll man lassen:
Schutz der Wohnung, off’ner Ausgang,
des Berufes freie Übung
und auch das Versammlungsrecht.
Ohne Grundgesetz gebunden,
ist das Handeln der Regierung.
Uns zu schützen, darf sie alles,
was sie will, uns untersagen.
Gnädig dann in fernen Tagen,
wenn wir brav vielmals geimpft,
gibt’s zu unserer Beglückung
als Geschenk für fromme Taten
unser Recht verbraucht zurück.
Gläsern ist dann jeder Bürger,
seine Daten liegen offen.
Vom Gesundheitspass hat Nutz
tiefen Staats Verfassungsschutz.
V. Quer-Denken
Ist es nicht besser nach allen Seiten zu blicken,
frei zu schweifen im Geist, suchen durch kreuz und durch quer,
als starr und fixiert dem einzigen Gleis‘ zu folgen,
den Algorithmus abstrakt im Auftrag — von wem denn? — verlegt.
Wie der Kolonnen mechanischer Schritt
folgt auch der Rechner dem vorgegebenen Ziel,
das im Ergebnis sich dann als objektiv Wahres verbirgt.
Der Krieg braucht Feinde.
Außen, klar, ist es das Virus.
Innen, der den Krieg nicht mitmacht.
Unser Feind ist nicht der seine.
Er marschiert nicht im Karree.
Insgeheim kollaboriert er,
bringt die Heimat an den Abgrund.
Heimlich klamm vertreibt er Schriften,
unterstellt drin üble Pläne,
sät den Zweifel an der Wunder-
Waffe Impfung, unser aller stärkstes Medium
in der letzten großen Schlacht.
Hier ein Auszug des Geschwurbels
aus der Küche der Verschwörungstheorie
euch zur Belehrung,
dass ihr merkt, so denket nie!
„Weniger schlimm als wort -und bildreich beschworen,
ist die Gefahr, die uns vom Virus her droht.
Niemals tückisch ist er, noch böse, grausam, verschlagen,
Eigenschaften allein, die zu uns Menschen gehör‘n.
Ihn als Dämon zu schildern mit abgrundtief teuflischen Zügen,
dient der Erzeugung von Angst, die bleiern das Denken blockiert.
Feind ist nicht die Natur, deren Substanz wir entstammen,
Feind ist immer der Mensch, der sich zur Herrschaft erhebt.
Der natürliche Weg, mit Viren zu koexistieren,
ist die Immunität, die man im Leben erwirbt.
Kinder, Junge, Gesunde, die keiner Gefährdung obliegen,
zu impfen auch noch mit Zwang, ist Kampf gegen Menschennatur.
Die Rede ist nur von Corona und nicht von anderen Viren,
gegen die vorsorgendes Impfen durchaus notwendig erscheint.
Der WHO neue Erklärung, dass Herden-Immunität
durch Impfen nur könne erreicht sein, ist monokausal und falsch.
Anstelle natürlicher Güter, die frei sind und niemand was kosten,
setzt der Kapitalist sein künstlich erzeugtes Produkt.
Die Kraft der Natur wird verleugnet, es rechnet sich nur Artefakt,
das als tauschbarer Wert den höchsten Preis ihm erzielt.
Der künstlich erzeugte Impfstoff, den Pharma-Riesen vertreiben,
ist Zentrum des Covid-Int‘resses, das weltweit die Lage bestimmt.
Wenn Leute und Völker in Massen den Impfstoff sich oft injizieren,
wird Heilung und Freiheit versprochen, die Menschheit erklärt für
geschützt.“
Doch ist die Covid-Kampagne nur selbst eine kurze Etappe,
den Körper zu kolonisieren zum offenen Warenobjekt.
Künstliche Intelligenz und biologische Technik enthalten viel Potential,
Rendites Verfall zu beenden als Quellen von sattem Profit.
Seht hin, schon fließt er auch reichlich; den Eignern hüpfen die Herzen.
Die goldene Grube von Mainz überfließt zum reißenden Bach.
Nur Zufall sagt dazu einer, der den Reichen den Reibach gern einräumt.
Notwendig jedoch nennt es der, der des Kapitales Verwertung
als Muster des Handelns erkennt.
VI. Der Generalmajor
Halt‘s Maul!
Was hilft lamentieren,
die Regeln sind eisern gesetzt.
Du hast zu funktionieren
und das heißt:
IMPFEN JETZT!
Dazu die Atemmaske, Abstand und Isolation!
Hör auf! Zieh keine Fratze!
Du kommst uns nicht davon.
Noch nutzen wir „milde“ Waffen,
doch das Schwert wird täglich geschärft,
denn auf widerständige Laffen
reagier‘n wir zunehmend genervt.
Reih dich ein in die tapfere Mehrheit,
sei brav, ein geduldiges Lamm.
Dann geschieht dir auch nicht mehr Leides,
als man allen zumuten kann.
Und wenn wir später erwachen
von dem bedrückenden Alb,
dann darfst auch du wieder lachen
und tanzen ums goldene Kalb.
Quellen und Anmerkungen:
Hanne Hilse wechselt für die analytische und emotionale Aufarbeitung dieser Zeit zwischen Sachbeiträgen und Lyrik; Johannes Weinberger, Gewinner des Literaturpreises der Stadt Steyr und weiterer Literatur- und Förderpreise, arbeitet seit 2000 als literarischer Autor in Wien, seine Texte sind überwiegend im Luftschacht Verlag erschienen; Tobias Weißert hat mit diesem Text angesichts der Monstrosität der globalen Geschehnisse erstmals das Genre gewechselt.