Das nackte Leben
Mit der Impfideologie wird jeder Mensch als asymptomatisch erkrankt definiert — die Sorge um die Existenz hat jeden Wertepluralismus eingeebnet.
Glaube? Liebe? Hoffnung? Heutzutage ist das nackte Leben der einzige Wert, der als bewahrenswert gilt. Ihm haben einstmals hoch bewertete Ideale wie Menschenwürde und Lebensqualität zu weichen — vom „Luxusgut“ Freiheit zu schweigen. Der menschliche Wertekatalog nähert sich somit wieder dem der Tiere an, mit denen wir den Überlebenstrieb gemeinsam haben. Unsere nicht menschlichen Mitgeschöpfe gelten ja als Lebewesen mit ohnehin reduziertem Anspruch auf Freiheit und würdige Behandlung, Wesen, über die nach Belieben verfügt werden kann. Mit dem Fokus auf die körperliche Weiterexistenz wird zugleich Krankheit zum No-Go. Gesundheit im engeren Sinne gibt es nicht mehr; mit der aktuellen Impfagenda ist sie identisch mit Krankheit im Stadium der Potenzialität.
Mehrfach in meinen vorhergehenden Einmischungen habe ich die Figur des nackten Lebens evoziert. In der Tat scheint es mir, als zeige die Epidemie ohne jeden Zweifel, dass die Menschheit an nichts mehr glaubt als nur die nackte Existenz, die es als solche um jeden Preis zu erhalten gilt.
Die christliche Religion mit ihren Werken der Liebe und des Erbarmens und ihrem Glauben bis zum Martyrium, die politische Ideologie mit ihrer bedingungslosen Solidarität, sogar der Glaube an die Arbeit und an das Geld scheinen an die zweite Stelle zu rücken, kaum dass das nackte Leben bedroht wird, und sei es in Form eines Risikos, dessen statistische Entität labil und vorsätzlich unbestimmt ist.
Der Zeitpunkt ist gekommen, den Sinn und den Ursprung dieses Konzepts zu benennen. Es ist deshalb notwendig, in Erinnerung zu rufen, dass das Menschliche nichts ist, was sich ein für alle Mal definieren ließe. Es ist eher der Ort unentwegt aktualisierter historischer Entscheidung, die jedes Mal die Grenze festlegt, die den Menschen vom Tier scheidet, das, was im Menschen menschlich ist, von dem, was in ihm und außerhalb seiner nicht menschlich ist.
Als Linné für seine Klassifikation ein charakteristisches Merkmal sucht, das den Menschen vom Primaten scheidet, muss er eingestehen, es nicht zu kennen, und er endet damit, dem Gattungsnamen homo nur das alte philosophische Motto nosce te ipsum, erkenne dich selbst, beizugesellen. Dies ist die Bedeutung des Terminus sapiens, den Linné in der zehnten Auflage seines „Systems der Natur“ beifügen wird: Der Mensch ist das Tier, das sich als menschlich erkennen muss, um es zu sein, und das deshalb das Menschliche unterscheiden muss — per Entscheidung — von dem, was es nicht ist.
Man kann das Dispositiv, durch das sich diese Entscheidung historisch vollzieht, als anthropologische Maschine bezeichnen. Die Maschine schließt das tierische Leben des Menschen aus und produziert das Menschliche vermittels dieses Ausschlusses. Aber damit die Maschine funktionieren kann, muss Exklusion auch Inklusion sein, muss es zwischen den beiden Polen — dem Tierischen und dem Menschlichen — ein Gelenk und eine Schwelle geben, die sie zugleich trennen und verbinden.
Dieses Gelenk ist das nackte Leben, also ein Leben, das nicht eigentlich tierisch und nicht wirklich menschlich ist, aber in welchem sich jedes Mal die Entscheidung zwischen dem Menschlichen und dem nicht Menschlichen vollzieht.
Diese Schwelle, die notwendigerweise durch das Innere des Menschen verläuft und in ihm das biologische Leben vom sozialen trennt, ist eine Abstraktion und eine Virtualität, aber eine Abstraktion, die real wird, indem sie sich jedes Mal in konkreten historischen und politisch festgelegten Figuren inkarniert: dem Sklaven, dem Barbaren, dem homo sacer, den in der antiken Welt jeder töten kann, ohne ein Verbrechen zu begehen; dem enfant sauvage, dem Wolfsmensch und dem homo alalus als fehlendem Glied zwischen dem Affen und dem Menschen von der Aufklärung bis ins 19. Jahrhundert; dem Bürger im Ausnahmezustand, dem Juden im Lager, dem Komatösen im Reanimationsraum und dem Körper, der im 20. Jahrhundert für die Entnahme von Organen aufbewahrt wird.
Welche Gestalt des nackten Lebens steht heute bei der Bewältigung der Pandemie zur Diskussion?
Es ist nicht so sehr der Kranke, der isoliert und behandelt wird, wie nie ein Patient in der Geschichte der Medizin behandelt wurde; es ist eher der Angesteckte oder — wie es mit einer selbstwidersprüchlichen Formel definiert wird — der asymptomatisch Erkrankte, etwas, was praktisch jeder Mensch ist, auch ohne es zu wissen.
Es geht nicht so sehr um die Gesundheit als vielmehr um ein Leben, das weder gesund noch krank ist, dem als solches, insofern es potenziell pathogen ist, die Freiheiten entzogen werden können und das jeder Art von Verbot und Kontrolle unterworfen werden kann. Alle Menschen sind in diesem Sinne praktisch asymptomatisch Kranke.
Die ganze Identität dieses Lebens, das zwischen der Krankheit und der Gesundheit fluktuiert, besteht darin, Empfänger des Teststäbchens oder der Impfung zu sein, die, wie die Taufe einer neuen Religion, die ruinierte Gestalt dessen definieren, was es einmal hieß, Bürger zu sein. Einer Taufe, die nicht mehr auslöschbar ist, aber notwendigerweise provisorisch und erneuerbar, weil der Neu-Bürger, der immer seine diesbezügliche Bescheinigung wird vorweisen müssen, keine unveräußerlichen und unkündbaren Rechte mehr besitzt, sondern nur Pflichten, die unentwegt entschieden und erneuert werden müssen
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien am 16. April 2021 unter dem Titel „Il nuda vita e il vaccino“ im Blog Quodlibet. Er wurde von Thorsten Schewe aus dem ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzerteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratteam lektoriert.