Das nächste Auschwitz

Solange wir uns als Zentrum des Universums betrachten und zwischen wertvollem und unwertem Leben unterscheiden, können furchtbare Großverbrechen wieder geschehen.

Bei jeder Gelegenheit an Auschwitz erinnert zu werden ist unbequem. Gerade wir Deutschen werden immer wieder damit konfrontiert. Das Massenvernichtungslager der Hitler-Diktatur gilt als zeitloses Symbol für unfassbares Grauen, welches Menschen Menschen antun können. Einen Vorteil hat jedoch die beispiellose Größe dieses Verbrechens: Die meisten Menschen wiegen sich in Sicherheit, dass dergleichen vermutlich nie wieder geschehen wird. Wagt jemand trotzdem einen Vergleich mit aktuellen Ereignissen, erntet er leicht den Vorwurf der „Relativierung“ und Verharmlosung von Auschwitz. Wir vergessen dabei aber, dass es nicht nur darum geht, die Nazis in ihrer historischen Gestalt zu verurteilen, sondern auch darum, zu den Wurzeln des Phänomens vorzudringen. Welche Geisteshaltung — die es vielleicht noch heute gibt — konnte Auschwitz hervorbringen? Wir stoßen dabei rasch auf eine Überlegung, die Angst macht. Massenmord kann wieder geschehen, wo Menschen nicht aufhören, das Leben einer bestimmten Gruppierung höher zu bewerten als das einer anderen. Ökozid wie Genozid resultieren oft aus einer solchen Haltung. Umgekehrt haben wir durch das Erkennen dieser Gefahr die Chance, dem Morden ein Ende zu machen.

Spätestens seit meinem 16. Lebensjahr erzeugt Auschwitz in mir eine nicht endende Erschütterung. Die Fähigkeit des Menschen, die Humanität, und damit die Würde seines eigenen Geschlechts, mit Füßen zu treten, bleibt mir unverdaulich. Und doch lernen wir nichts aus unseren Untaten. Nichts, oder doch so wenig, dass Kriege gegeneinander immer aufs Neue möglich sind, sofern man uns nur die passende Ausrede zur Verfügung stellt. Dann haben wir für Mord nicht nur eine Rechtfertigung parat, sondern halten ihn sogar für moralisch zwingend. Aber was ist die Quelle all dieser Ausreden?

Die klassische Denkfigur bezüglich Auschwitz ist diese: Ein anderes Verbrechen mit dem von Auschwitz zu vergleichen — also etwa den Massenmord in Ruanda im Jahr 1994 oder die Bombardierung von Flüchtlingscamps heute — verharmlose den Holocaust. Und es stimmt ja: Schon der Gedanke an die bürokratische Verfeinerung des Massenmords macht mich schaudern; dies umso mehr, wenn ich unter die Oberfläche der kaltschnäuzigen Vernichtungsorgie blicke. Die in rechtskräftige Paragrafen gegossene Menschenverachtung ist schwerlich zu überbieten.

Mit deutscher Beihilfe

Aber ist es nicht bizarr, von Komparativen und Superlativen der Unmenschlichkeit zu sprechen? Wenn man schon nicht — außer in der Sprachmarter der Werbung — von „weißer“ oder „am weißesten“ sprechen kann, darf man dann von „unmenschlicher“ reden? Noch mehr: Will man das? Sobald man „Menschlichkeit“ zu wiegen beginnt, gerät man in vertrackte Widersprüche. Wer kalibriert die Waage?

Anlässlich der Corona-Pandemie verstieg sich Angela Merkel zu dem viel beklatschten Satz: „Wir sind eine Gemeinschaft, in der jedes Leben und jeder Mensch zählt.“ Polit-PR vom Feinsten. Vermutlich meinte sie „jedes deutsche Leben“; denn zur gleichen Zeit ertranken mit deutscher Beihilfe Tausende Dunkelhäutiger im Mittelmeer.

Auch beim Blick auf Deutschland wirkt die Aussage der Altkanzlerin unglaubwürdig. 2022, im Jahr ihrer Aussage, waren in Deutschland 607.000 Menschen wohnungslos. Ungefähr 6.500 Minderjährige lebten auf der Straße. Was zählte ihrer aller Leben? Welches wog mehr, welches weniger?

Stolz auf Unmenschlichkeit

Unmenschlichkeit lässt sich nicht steigern, dürfen wir nicht steigern oder nach dem Motto verharmlosen: Unser Mord ist weniger mörderisch als der eure — oder, ganz aktuell: Euer Morden ist mörderischer als das unsere. Wer so argumentiert, dem möchte ich ungern in der Dunkelheit begegnen; vielleicht fände er ja einen guten Grund ... Gibt es also nichts Schlimmeres als Auschwitz? Doch, nämlich das, was Auschwitz ermöglich hat, und die vielen Untaten danach. Ein bizarrer Hochmut vibriert in dem Wort „Unmenschlichkeit“, ein gewisser Stolz sogar: So bösartig können nur wir Menschen sein. Unmenschlich können wir nicht zu Nichtmenschen sein. Was wir aber, bewusst oder unbewusst, als „Mensch“ definieren, steht auf einem anderen Blatt.

Mit der Festlegung, was einen „Menschen“ ausmacht und was nicht, erklären wir „die anderen“ jenseits unserer Definition für vogelfrei und können mit ihnen rechtens und guten Gewissens verfahren, wie es uns beliebt.

Die Nazis zogen so die Grenze zum „Untermenschen“, zum „völkisch Minderwertigen“ und so weiter. Die SS behandelte ihre Schäferhunde besser als jeden Juden. Aber einen Schäferhund, der sich gegen sie wandte, erschossen sie ebenso kaltblütig wie eine Jüdin, die ihr Kind schützen wollte. Warum auch nicht, es waren ja rassisch Minderwertige.

Das Ungeheuer enthaupten

Im Wort Unmenschlichkeit — wie auch in Menschlichkeit — spielt der Mensch die zentrale Rolle. Wir machen uns zum Zentrum der Aufmerksamkeit, sind Zentrum unseres Wertesystems. Ein menschlich handelnder Vater, der als Kopfschlächter in einem Schlachthof arbeitet — das ist mit unserem Wertesystem durchaus vereinbar; der Verdienst eines Kopfschlächters bemisst sich nach der Anzahl der Köpfe geschlachteter Tiere. Warum auch nicht? Tiere sind doch Dinge ohne Eigenwert und Eigenwürde! Sie zu töten ist gewissermaßen „Sachbearbeitung“. Unmenschlichkeit und Menschlichkeit sind anthropozentrische Begriffe. Der Mensch ist die Sonne, um die sich die Welt zu drehen hat — und in der er sich sonnt. Und wohlgemerkt: Was ein Mensch ist, bestimmen wir, auch, wie viel er wert ist, je nach Schicht, Herkunft und Hautfarbe. Welches Opernhaus bietet Freiplätze für Obdachlose und Asylanten?

Das Gedenken an Auschwitz ist eben nur die halbe Miete; denn Auschwitz war nichts weiter als ein besonders feistes Geschwür auf dem Körper eines Ungeheuers namens Anthropozentrismus. Auschwitz ist nicht vorbei, Auschwitz lebt so lange, wie wir das Leben eines Deutschen höher bewerten als das Leben irgendeines Flüchtlings, das Leben eines Israelis höher als das eines Palästinensers oder umgekehrt.

Unmenschlich ist beides. Erst wenn wir dieses Monster der Unwerte enthauptet haben und ihm keinen neuen Kopf nachwachsen lassen, können wir in eine neue Phase der Menschheitsgeschichte und der „Biophilie“ eintreten, wie Erich Fromm die Liebe zum Leben 1964 erstmals nannte.

Keine Spendensammlung für Hühner

Unsere Fähigkeit, Leben gegen Leben abzuwägen, gipfelt in unserer Haltung gegenüber der Mitwelt. Auf das Leiden und Sterben der Opfer in den Schlachthöfen der Welt schauen wir mit einer vergleichbaren Teilnahmslosigkeit wie SS-Schergen auf die verröchelnden Opfer in den Gaskammern. Deren Leben, das hatten sie gelernt, ist keinen Schuss Pulver wert; sie zu erschießen, wäre Munitionsverschwendung gewesen. Und das Leben von Hühnern, Enten, Gänsen und Puten, von Schweinen und Ferkeln, von Ochsen, Kühen und Kälbchen, das haben wir gelernt, ist gleichfalls keinen Schuss Pulver wert. Schließlich schmeckt ja das Fleisch auf dem Teller; was kann also falsch daran sein!

Auch ich gehöre dieser „Wertegemeinschaft“ an, auch mir sind Menschen näher als Hühner, auch mir schmeckt Geflügelfleisch. Auch ich unterscheide noch immer zwischen mehr oder weniger wertvollem Leben. Aber solange ich diese Hierarchie des Bösen akzeptiere, solange sie die Basis meines Wertesystems bildet, unterscheide ich mich von einem SS-Schergen nicht grundsätzlich, sondern nur in der Art des Narrativs, dem ich hinterherlaufe. Würden Tausende von Deutschen jährlich im Mittelmeer ertrinken, würden wir da nicht aufschreien, und Stars und Sternchen würden in Fernsehshows Abermillionen Spendengelder sammeln, um dieses nationale Unglück zu verhindern? Warum tun wir es für die Flüchtlinge nicht? Warum empört das so wenige? Die Antwort kann sich jeder selbst geben: Schließlich veranstalten wir ja auch für das Überleben der Hühner keine Tombola.

Vom Richter zum Knoten

Klar scheint mir zu sein: Wir betrachten den Menschen als Fixstern, um den die Welt sich zu drehen hat; jede und jeder von uns eine kleine, westliche Sonne, eine kleine, feine Krone der Schöpfung. Es fühlt sich außerordentlich gut an, über Recht und Unrecht, Gut und Böse, Leben und Tod entscheiden zu dürfen. Macht ist geil. Doch ebendies, dass wir uns als Richter über den Wert beziehungsweise Unwert von Leben aufschwingen, das ist die nie versiegende Quelle aller Gräueltaten.

Wir müssen endlich die kopernikanische Wende in unseren Köpfen und Herzen vollziehen — das heißt, verstehen, dass wir nicht das Zentrum der Schöpfung sind, sondern Knoten unter Millionen Knoten im großen Netzwerk des Lebens. Erst dann wird es kein nächstes Auschwitz mehr geben und keinen nächsten Krieg.

Oder, anders herum und bitter gedacht: Ohne diese ontologische Neuorientierung ist ein neues Auschwitz jederzeit möglich, morgen schon; jeder von uns, ja, jeder, kann dann als Aufseher an neuen Duschen stehen. Doch immer, auch jetzt, könnten wir innehalten; immer können wir solidarisch sein mit dem Leben; der nächste Knoten im Netzwerk ist oft nur eine Armlänge, einen Anruf oder eine E-Mail weit entfernt.