Das menschliche Miteinander
Wenn wir den Frieden auf der Welt voranbringen wollen, müssen wir uns darauf besinnen, was wir gemeinsam haben, und fair miteinander zu kommunizieren lernen.
Man sollte meinen, dass eine Zivilisation, die schon vor mehr als 50 Jahren Astronauten auf dem Mond landen ließ, die das Internet und das Smartphone erfand und deren weltweite Nutzung möglich machte, die sogar das menschliche Herz transplantieren kann, es auch vermag, dass die Menschen friedlich miteinander umgehen. Die Realität beweist uns leider das Gegenteil. Menschen schlachten sich noch immer in blutigen Kriegen gegenseitig ab, befehligt von Mächtigen, die offenbar keinerlei Skrupel kennen.
Während in Osteuropa ein Krieg lodert, wird im Westen „Das größte Manöver seit gut drei Jahrzehnten“ (1) vorbereitet. Es wird Öl ins Feuer gegossen, statt mit Verhandlungen die Glut zu löschen und Frieden zu schaffen. Was spricht dagegen, der Ukraine die Neutralität zu ermöglichen und damit vor allem ukrainische Menschenleben zu retten? Dass Neutralität einem Land guttut, hat die Schweiz über viele Jahre hinweg bewiesen. Gelingt es nicht, in fairen Verhandlungen Frieden zu schaffen, geht der Krieg weiter. Frieden brächte zudem keine Nachteile für Westeuropa. Gelingt es, wird dem ukrainischen Volk Frieden geschenkt, unzählige Menschen blieben am Leben, unermessliches Leid würde den Überlebenden erspart. Von noch mehr Kriegstraumata blieben die Ukrainer verschont, Kriegstraumata wie auch wir Deutschen sie kennen und wie sie bei uns heute noch nachwirken. Auch russische Soldaten, die sich sehr wahrscheinlich in den seltensten Fällen freiwillig zum Wehrdienst gemeldet haben, könnten am Leben bleiben.
Die Zahl derer, die sich in unserem Land für eine menschlichere Welt einsetzen, ist groß. Und trotzdem zieht die Unmenschlichkeit scheinbar unbeeindruckt ihre Bahnen.
Vielen Menschen in unserem Land ist es wichtig, Frieden zu schaffen, mit Verhandlungen, nicht mit Waffengewalt. Andere kämpfen für gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die allen Menschen Wohlergehen ermöglichen. Heizen muss bezahlbar bleiben, die Menschen müssen von ihrer Arbeit leben können, die Inflation darf das Ersparte nicht aufzehren.
Etliche engagieren sich für ein besseres Gesundheitssystem, das den Menschen ganzheitlich betrachtet und nicht ausschließlich auf Medikamente und das Skalpell orientiert. Viele Eltern wollen, dass ihre Kinder in der Schule lernen, was sie zum Leben brauchen, dass ihre Kinder ihre Talente und Interessen entfalten können und das ganz individuell.
Andere Themen, für die sich Menschen gegenwärtig engagieren, sind die Stärkung der Demokratie, die Wahrung freiheitlicher Grundrechte, die Bewahrung unseres Lebensraumes, die staatliche Unabhängigkeit von überregionalen Instanzen und Organisationen, der Umweltschutz, das Tierwohl, ein menschenwürdiges Altern. Die Aufzählung ließe sich um viele weitere Aspekte ergänzen. Die Liste der Missstände in unserem Land und auf der Welt ist riesig.
Es ist offensichtlich, dass die deutsche Bevölkerung alles andere als einverstanden ist mit dem Handeln der Regierenden. „Knappe Mehrheit wünscht sich laut Umfrage Neuwahlen“, schreibt der Tagesspiegel (2). Bei all dem Engagement der Menschen gelingt es jedoch bisher nicht, an einem Strang zu ziehen und das in eine gemeinsame Richtung. Dabei haben wir doch alle einen Körper und eine Psyche, die nach den gleichen Prinzipien funktionieren. Dabei sitzen wir doch alle im selben Boot, sehen wir uns alle mit denselben gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und mit denselben Umweltbedingungen konfrontiert.
Wir ticken unterschiedlich
Und trotzdem „ticken“ wir so unterschiedlich. Kein Wunder, denn ein jeder macht in seinem Leben ganz individuelle Erfahrungen, geprägt vor allem durch die Eltern, nahe Verwandte, den Kindergarten, die Schule, den Beruf, den Freundeskreis, die Medien oder die Politik. So erfuhren die Menschen im Westen Deutschlands vor der Wiedervereinigung eine andere Sozialisierung als die im Osten. Und natürlich bekommt jeder Mensch ganz unterschiedliche Gene und Begabungen mit auf seinen Lebensweg. Neben den Erfahrungen erwirbt ein jeder sein ganz individuelles Wissen. In der Folge variieren von Mensch zu Mensch die Wahrnehmungs-, Empfindungs-, Denk- und Verhaltensweisen, Einstellungen, Glaubenssätze, Sichtweisen, Werte, Wünsche, Erwartungen, Ziele und Kompetenzen.
So ist es nicht verwunderlich, dass bei der Vielfalt der Einflussfaktoren die Menschen unterschiedliche Prioritäten setzen und andere Wege bevorzugen, um das, was ihnen besonders wichtig ist, zu verwirklichen. Diese Vielfalt ist nicht nur anstrengend, sondern auch wichtig.
Schließlich werden wir ständig mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Da braucht es vielfältige Lösungsideen.
Was wir gemeinsam haben
Lassen sich bei all der Vielfalt auch Gemeinsamkeiten finden?
Wie schon in meinem bei Manova erschienen Artikel „Die wahren Helden“ möchte ich mich auch hier der Methode der Gewaltfreien Kommunikation (GFK) (3) nach Marshall B. Rosenberg bedienen. Die Grundelemente der GFK sind Beobachtungen, Gefühle, Bedürfnisse und Bitten.
Beobachtungen sind die Sachverhalte, wie wir sie wahrnehmen, ohne dass wir ihnen eine Interpretation oder Meinung zufügen oder durch diese ersetzen, wenn wir sie benennen. Die Aussage, „Weltweit nimmt die Geschwindigkeit der Gletscherschmelze zu.“, geschrieben auf den Internetseiten von Greenpace (4), ist keine Beobachtung im Sinne der GFK, da nicht hinreichend konkret. Eine Beobachtung wäre folgende Formulierung:
„Die Schweizer Gletscher sind in den vergangenen zwei Jahren um zehn Prozent geschrumpft. Das berichtet die Schweizerische Kommission für Kryosphärenbeobachtung (SKK). Demnach nahm das Volumen der Gletscher dieses Jahr um vier Prozent ab — und das nach der Rekordschmelze um sechs Prozent im vergangenen Jahr. Die SKK verzeichnet für 2023 damit ‚den zweitstärksten Rückgang seit Beginn der Messungen‘“ (5).
Das sind Fakten, sie wurden ermittelt.
Gefühle zeigen uns an, ob unsere Bedürfnisse erfüllt oder nicht erfüllt sind. Wir können uns beispielsweise entspannt oder unter Druck fühlen.
Spätestens seit dem Bekanntwerden der Maslowschen Bedürfnispyramide ist grundlegend anerkannt, dass wir Menschen Bedürfnisse haben. Sie reichen von physiologischen Bedürfnissen wie Nahrung über soziale Bedürfnisse wie Zugehörigkeit bis hin zu Selbstverwirklichung. Auf eine Liste der Bedürfnisse verweist der angefügte Link (6). Alle Menschen haben dasselbe Bedürfnisspektrum. Allein welche Bedürfnisse bei einem Menschen gerade im Vordergrund stehen, also erfüllt werden wollen, ist von Mensch zu Mensch verschieden. Für alle Menschen ist Gesundheit wichtig. Wer gerade krank ist, für den wird die Erfüllung dieses Bedürfnisses aktuell im Vordergrund stehen. Wer fit ist, der hat vielleicht ein starkes Bedürfnis nach Herausforderung, körperlicher oder geistiger.
Bitten sind Strategien, mit denen wir Menschen uns unsere Bedürfnisse erfüllen wollen. Eine Bitte an den deutschen Bundeskanzler könnte lauten:
„Es tut mir weh, wenn ich erfahre, dass es mit Stand 31. Dezember 2023, bedingt durch den Ukraine-Krieg, allein 10.191 Tote in der ukrainischen Zivilbevölkerung gab (7) und Deutschland Waffen in die Kriegsgebiete liefert, darunter Flak-, Kampf- und Schützenpanzer, statt auf Friedensverhandlungen zu drängen (8). Der Frieden und das Wohlergehen von Menschen liegen mir ganz besonders am Herzen. Ich bitte Sie, Herr Bundeskanzler, umgehend die Lieferung von Waffen in die ukrainischen Kriegsgebiete zu stoppen, sich für Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland sowie den Stopp der Kriegshandlungen einzusetzen. Wollen Sie sich hierfür einsetzen?“
Bitten können abgelehnt werden, sonst wären es Forderungen. In der GFK schließt sich einem „Nein“ die empathische, also auf die Bedürfnisse, Gefühle und Bewegründe des anderen eingehende, gemeinsame Konsenssuche an, vorausgesetzt die andere Seite ist dazu bereit. Zeigt diese keinerlei Bereitschaft zum Dialog, bleibt leider nur, sich die eigenen wichtigen Bedürfnisse auf anderen Wegen zu erfüllen, beispielsweise indem Forderungen formuliert und öffentlich artikuliert werden.
Natürlich gibt es auch zahllose andere Strategien, mit denen wir uns Bedürfnisse erfüllen. Ich schreibe zum Beispiel Artikel, um mich für den Frieden auf unserem Planeten zu engagieren.
Da wir Menschen uns für unterschiedliche Strategien entscheiden, um uns unsere Bedürfnisse zu erfüllen, die nicht selten gegensätzlich sind, kann es hier zu Konflikten kommen. Auf der Ebene der Bedürfnisse gibt es dieses Konfliktpotential nicht. Der eine entscheidet sich für Waffengewalt als Strategie, um Frieden zu schaffen, der andere für beharrliche Verhandlungen. So kommt es, dass sich Menschen bekämpfen, die zwar das Gleiche wollen, nämlich Frieden schaffen, sich aber für unterschiedliche Strategien entschieden haben. Das führt wiederum dazu, dass sich Menschen gegenseitig blockieren, obwohl sie ein gemeinsames Ziel haben.
Unsere Bedürfnisse in den Vordergrund rücken
Es liegt der Schluss nahe, dass wir Menschen unsere Bedürfnisse in den Vordergrund rücken sollten und dadurch ein festes Fundament schaffen, das uns eint und nicht spaltet. Auf der Grundlage dieses Fundamentes können wir im gemeinsamen Miteinander nach den jeweils für die Beteiligten passenden Strategien suchen. Dabei kann die GFK eine sehr wertvolle Hilfe sein. Oft kommen bei der Suche nach Strategien weitere Bedürfnisse zum Vorschein, die ebenfalls gesehen und erfüllt werden wollen.
In unserer heutigen Zeit können vor allem die folgenden Bedürfnisse unser gemeinsames Fundament bilden, ausgehend vom Wohlergehen aller Menschen auf unserem Planeten: Frieden, ausreichend gesunde Nahrung und Bildung, die ein erfülltes Leben ermöglicht, Freiheit, Sicherheit, Gesundheit, Gerechtigkeit, Selbstbestimmung, Menschlichkeit, Respekt, intakter Lebensraum.
Sind wir uns unserer Bedürfnisse bewusst, können wir auf dieser Grundlage Zukunftsbilder einer Welt entstehen lassen, einer Welt, in der wir Menschen glücklich sein können, und Wege kreieren, um sie zu erreichen.
Die Magie dieser Bilder wird uns inspirieren, sie Wirklichkeit werden zu lassen und uns gemeinsam dafür einzusetzen. So kann aus dem gegenwärtigen „Dagegen“ das gemeinsame „Wofür“ entstehen. Unsere Energie würde vollumfänglich diesem „Wofür“ dienen. Zu erkennen, dass der andere das Gleiche will, würde unser Miteinander festigen. Wir könnten anerkennen, dass wir eben nun mal unterschiedlich sind, uns respektieren und einander wertschätzen, weil wir im Grunde gar nicht so unterschiedlich sind. Wir würden einander stärken, statt uns aneinander aufzureiben. Wir würden die Menschlichkeit erblühen lassen.
Die Hoffnung ist uns nicht nehmbar
Die Hoffnung auf eine menschlichere Welt wird man uns nie nehmen können. Und inzwischen gibt es sogar einen Hoffnungsstrahl in der deutschen Parteienlandschaft, der uns auf unserem Weg in eine menschenwürdige Welt begleiten kann. Er steht vor allem für Vernunft und Gerechtigkeit.
Heinz-Rudolf Kunze singt in einem seiner Lieder: „Die Dunkelheit hat nicht das letzte Wort“ (9), eine Sichtweise, der ich mich gern anschließe.