Das Märchen von der Demokratie

Wie Deutschland in zehn Jahren aussehen könnte, zeigt eine Geschichte aus dem Jahr 2030.

Wie werden Menschen in 10 Jahren auf das „Corona-Jahr“ 2020 und das Verhalten der heutigen Akteure zurückblicken? Vermutlich sehr ungnädig. Wir dürfen aber davon träumen, dass die Menschen der Zukunft aus den negativen Erfahrungen unserer Zeit gelernt haben werden. Die Vision, die der Autor hier entwirft, klingt wie ein Märchen. Dazu, dass sie wahr wird, können wir jedoch alle beitragen. Dies ist ein Plädoyer dafür, in einer polarisierten Gesellschaft wieder miteinander in den Dialog zu kommen. Wir sollten lernen, wieder miteinander zu sprechen, um anschließend nicht Personen, sondern gemeinsame Ideen politisch zu ermächtigen. Es ist an der Zeit für die repräsentative Demokratie, Platz zu machen für eine echte Basisdemokratie.

Es ist ein wunderschöner Frühlingstag, Mitte Mai 2030. Die achte Klasse der Geschwister-Scholl-Schule einer deutschen Kleinstadt hat gerade Gemeinschaftskundeunterricht. Von draußen dringt das unbeschwerte Lachen spielender Kinder durch die geöffneten Fenster. Die jüngeren Schüler haben ihren Unterricht bereits hinter sich und rennen zwischen den vielen Bäumen umher, die vor dem Schulhaus stehen.

Thema ist die Coronavirus-Hysterie im Jahr 2020. Der Lehrer beginnt zu erzählen: „Damals wurden Teile der Verfassung außer Kraft gesetzt, um eine angeblich hochgradig tödliche Pandemie aufzuhalten. Es gab eine beispiellose, weltweite Angstkampagne, die sich auf der Grundlage häufig unseriöser Glaskugelwissenschaft und unzureichend geprüfter Zahlen wie ein Lauffeuer verbreitete. Man spricht deshalb von einer Hysterie, weil eine echte wissenschaftliche Debatte zwischen Wissenschaftlern mit unterschiedlichen Meinungen in der Öffentlichkeit fast nicht stattfand.

Politiker und Mainstream-Journalisten sprangen auf den Zug auf und verbreiteten teilweise ungeprüft die furchtbarsten Schreckensmeldungen. Jeder, der die offizielle Lesart in Frage stellte, wurde massiv angefeindet und medial ausgegrenzt.

Dies ging so weit, dass abweichende Meinungen im Internet sogar gelöscht wurden.“

In der letzten Reihe hebt ein Mädchen mit Sommersprossen im Gesicht die Hand. Der Lehrer nickt ihr auffordernd zu. „Was sind Mainstream-Journalisten?“ fragt sie mit fester Stimme.

Der Lehrer beginnt zu erklären: „Damals waren die meisten großen Zeitungen und Fernsehsender in der Hand von Oligarchen. Also extrem reichen Menschen, die ihren Reichtum benutzt haben, um Einfluss auf die Gesellschaft zu nehmen. Die meisten Journalisten hatten unsichere Zeitverträge oder waren sogar freie Mitarbeiter, die von Monat zu Monat schauen mussten, wie sie genug Geld zusammenbekommen. Viele Themen waren zwar nicht explizit verboten, aber es herrschte ein Klima der Unsicherheit, in dem die Journalisten sich eigene Denkverbote auferlegten. Sie wussten genau, wie der Chefredakteur oder Ressortleiter auf zu kritische Artikel reagieren würde, und die Journalisten wollten ihre Jobs nicht verlieren. Manche Themen durften je nach Blattlinie, also politischer Ausrichtung des Mediums, gar nicht erst angesprochen werden.

Es gab zwar sogenannte öffentlich-rechtliche Medien, die durch eine Zwangsabgabe finanziert wurden. Aber das waren mit die schlimmsten Verbreiter von Halb- und Unwahrheiten. Die meisten Deutschen hatten großes Vertrauen zu ihnen, aber die Verwaltungs-, Rundfunk- und Fernsehräte waren zu großen Teilen von Vertretern der großen Parteien besetzt. Es gab zwar immer mal wieder gute und kritische Beiträge, aber in der Breite machten auch diese Staatsmedien bei den wirklich wichtigen Themen einen schlechten Job. Sie vermittelten zu häufig eine sehr enge, von den Denkmustern der damals etablierten Volksparteien beeinflusste Sichtweise. Dadurch verpuffte der Effekt, den man sich von einer gebührenfinanzierten Presse erhofft hatte, die nicht auf Profit angewiesen ist.“

Der Lehrer hält inne und blickt in die Runde. Die Schüler versuchen, das Gehörte einzuordnen. Zögernd blickt ein Junge aus der ersten Reihe auf und fragt: „Aber warum hatten die alten Parteien denn überhaupt ein Interesse daran, die Menschen anzulügen?“

„Nun ja“, antwortet der Lehrer, „die Parteien waren auch finanziell abhängig von der Wirtschaft und ihren Oligarchen und handelten oft in deren Interesse. Gerade die Spitzenpolitiker.“ Er überlegt einen Augenblick und fährt fort: „Also diejenigen, die sich in den alten Parteistrukturen durch besondere Aggressivität und Ehrgeiz an die Spitze ihrer Partei gekämpft hatten, hofften oft, nach ihrer Amtszeit lukrative Posten in den Aufsichtsräten großer Konzerne zu bekommen. Andere wiederum machten sich zwar nicht viel aus Geld, waren aber sehr angetan von ihrer Macht. Das gehört aber mehr in den Psychologieunterricht als hierher. Außerdem wurden über Förderprogramme und Stipendien bereits in jungen Jahren ausgesuchte Politiker herangezogen und gefördert, die aus der Perspektive der Oligarchen die richtige Grundeinstellung hatten.“

Die Jugendlichen machen sich Notizen und man hört leises Gemurmel. Zehn Jahre zuvor waren sie um die vier Jahre alt gewesen und erinnern sich nur noch bruchstückhaft an diese Zeit. Wie das bei überwundenen geschichtlichen Ereignissen im Nachhinein so ist, hätten die Strukturen, von denen der Lehrer spricht, genauso gut vor tausend Jahren bestanden haben können.

Der Lehrer fährt fort: „Das war natürlich alles vor der eingeführten Medienreform. Im Zuge dieser wurden haufenweise unbefristete Verträge mit einem menschenwürdigen Gehalt an Journalisten, Blogger, YouTuber und so weiter ausgegeben. Also an ganz viele Menschen, die bis dahin ehrenamtlich journalistisch tätig waren und die die Rolle eines antagonistischen Journalismus übernommen hatten. Also anders als die vielen bundesweit bekannten Journalisten, die ihren persönlichen und privilegierten Zugang zu Amts- und Würdenträgern nicht durch kritische Berichterstattung gefährden wollten. Damit hat sich auch nach und nach Karrieredenken und das Streben nach Prestige und Einfluss aus der Branche der Schreibenden verabschiedet.

Die Rolle der Chefredakteure und Ressortleiter hat sich komplett gewandelt und sie stehen jüngeren Kollegen zwar hilfsbereit zur Seite, haben aber kein Entscheidungsrecht mehr darüber, wie und worüber diese schreiben wollen. Denkverbote jedweder Art wurden über Bord geworfen. Außerdem setzte man von nun an verstärkt auf Journalismus, der sich nicht durch Werbung und Eigentümer finanzieren muss, sondern für den einfach Geld bereitgestellt wird.

Eine schmerzhafte Lektion dieser Zeit war, zu begreifen, dass es Demokratie nur mit einer wirklich freien und unabhängigen Presse geben kann. Durch diese und viele andere gute Ideen konnte zum ersten Mal seit langer Zeit ein wirklich pluralistischer Journalismus etabliert werden.“

„Ja und die Glaskugelwissenschaft?“, platzt ein Junge mit Brille und dunklen Locken heraus.

„Forschung und Lehre und überhaupt alle wichtigen Institutionen unserer Gesellschaft wurden angesichts dieses Debakels im Jahr 2020 unter den Schutz der öffentlichen Hand gestellt“, entgegnet der Lehrer. „Dazu zählte ebenfalls das Gesundheitswesen und die Pflege. Die Leute hatten in dieser Krise wiedererkannt, welche Berufe in einer Gesellschaft wirklich systemrelevant sind. Privatisierungen wurden gestoppt und umgekehrt, und alle Bereiche, die nichts mit Profit und Geldmacherei zu tun haben sollten, wurden vom freien Markt, der damals in aller Munde war, entkoppelt.“ Der Lehrer macht eine ausschweifende Handbewegung und runzelt bei der Erinnerung an diese Zeit die Stirn.

„Meine Mutter ist Krankenpflegerin“, sagt ein blonder Junge und lächelt. „Sie erzählt manchmal, wie sie damals oft todmüde von einem langen Arbeitstag nach Hause kam, weil so viel Personal abgebaut worden war und sie so viele Überstunden machen musste.“ Der Lehrer nickt und erwidert: „Ja, das war damals in vielen Berufen der Fall. Gerade die sozial Veranlagten wurden ausgebeutet, weil sie sich weigerten, diesen Kampf auf dem Rücken der Kranken und Hilfsbedürftigen auszutragen.“

Der Lehrer nimmt den Faden wieder auf und kehrt zum Thema der Coronavirus-Hysterie zurück. Er lässt den Blick über seine Schüler wandern und fragt: „Wer kann mir sagen, was divide et impera heißt?“

Ein Mädchen mit gekräuselten Haaren und intelligent funkelnden Augen meldet sich: „Teile und herrsche!“

„Genau. Die Gesellschaft war zu diesem Zeitpunkt sehr gespalten in vermeintlich ‚Links‘ gegen vermeintlich ‚Rechts‘. Oder vermeintlich ‚Oben‘ gegen vermeintlich ‚Unten‘. Alte gegen Junge, Demonstranten gegen Polizisten und so weiter.“ Der Lehrer lässt die Worte einen Moment wirken. „Aber der schon lange vor sich hin schwelende Wunsch nach politischer Selbstbestimmung hat die vermeintlichen Gegner von einst wieder zusammengeführt.“ Der Lehrer denkt einen Augenblick nach und fügt dann hinzu: „Zumindest für diesen Kampf. Natürlich gibt es immer noch Menschen, die sich spinnefeind sind. Aber sie hatten erkannt, dass wirklich jedem Menschen ein Mitbestimmungsrecht zusteht. Auch denjenigen, mit deren Ansichten man nicht einverstanden ist. Aber eben zu gleichen Teilen, und dass das allemal besser ist, als die Macht völlig aus der Hand zu geben.“

Der Lehrer fängt an, ein paar Skizzen an die Tafel zu zeichnen und fährt fort: „Wenn man die Idee der Herrschaft beziehungsweise einer politischen Ordnungsstruktur zu Ende denkt, gibt es innerhalb eines Spektrums mit vielen Abstufungen an den jeweiligen Rändern eigentlich nur zwei Gegensätze. Entweder eine Elitenherrschaft oder Diktatur, bei der ein kleiner Teil von Menschen — oder im extremsten Fall ein einzelner Mensch — die Entscheidungen trifft. Oder eine echte Basisdemokratie, in der die Macht beim Volke liegt und somit alle Menschen zu gleichen Teilen mitbestimmen dürfen, unabhängig von Beruf, sozialer Stellung oder Sonstigem. Im Jahr 2020 gab es keine Basisdemokratie, sondern nur eine sogenannte repräsentative Demokratie. Und die Repräsentanten stellten gegenüber den restlichen Menschen häufig eine Arroganz und Ignoranz der Macht zur Schau.“

Der Lehrer beendet seine Skizzen und schaut die Schüler an. „Und das war die Idee, die sich damals ihren Weg in den Mainstream bahnte“, sagt er und grinst. „In der Politik vor 2020 beschränkte sich die Demokratie darauf, alle vier Jahre eine Partei zu wählen. Schaut mal bitte in eure Grundgesetzbücher, Artikel 20, Paragraph 2.“ Die Schüler kramen in ihren Taschen und suchen ihre Bücher heraus. Der Schnellste, ein Junge mit langen dunklen Haaren, der bereits mit dieser Aufforderung gerechnet hatte, fängt an vorzulesen: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus …“.

Er will gerade weiterlesen, da unterbricht ihn der Lehrer: „Der nächste Absatz ist wirklich clever und hat das ersetzt, was da vorher stand. Vorher stand da in etwa: Alle Staatsgewalt geht von den gewählten Volksvertretern aus.“ Nun lächelt er und fragt: „Welchen Lehrer oder welche Lehrerin würdet ihr wählen, damit er oder sie die Regeln für euer Verhalten in der Schule bestimmen kann?“

„Gar keinen“, sagt das Mädchen mit den Sommersprossen in der letzten Reihe, als sei es das Natürlichste der Welt. Die übrigen Schüler werfen ihr einen Blick zu und nicken zustimmend. „Und warum nicht?“, fragt der Lehrer, und das Mädchen antwortet:

„Ja ... das ist doch keine Demokratie, wenn man der Maus zugesteht, selber zu entscheiden, welche Katze sie an die Macht wählt!“

Der Lehrer nickt und meint: „Ich stimme dir zu, auch wenn ich hoffe, dass die Maus in deinem Beispiel nur der Illustration dient und ihr euch nicht als solche fühlt.“ Die Schülerin wird ein bisschen rot, was aber aufgrund ihrer Sommersprossen nicht weiter auffällt.

„Ich bin zwar der Meinung, dass wir Lehrer das Beste für euch wollen. Aber es ist gefährlich, wenn einige wenige Menschen aus einem sehr engen soziokulturellen oder beruflichen Hintergrund gewählt werden und diese dann die gesamte Wählerschaft repräsentativ, also stellvertretend abbilden sollen. Diese Art von Demokratie hat sich in Deutschland vor zehn Jahren überholt. Leider sind häufig die Menschen, die am meisten nach Macht streben, diejenigen, die am wenigsten damit umgehen können. Nicht, dass ich uns Lehrer da dazu zählen würde, aber ...“

Er bricht den begonnenen Satz ab und setzt dann erneut an: „Es spielt keine Rolle, wie gut gemeint die Absichten auch sein mögen. Es ist immer besser, mit jemandem zu sprechen als über jemanden. Keiner weiß besser, was wichtig für einen Menschen ist, als dieser Mensch selbst. Echte Basisdemokratie schließt niemanden aus. Dafür sorgen die Maßnahmen, die damals zum Minderheitenschutz eingeführt wurden. Eine politische Ordnungsstruktur hat auch eine Verantwortung gegenüber denjenigen, die nicht Teil von ihr sind oder die nicht für sie gestimmt haben. Aber darauf gehen wir ein andermal ein.“

Der Lehrer sammelt sich einen Moment. „Tja, und deshalb sind die Abgeordneten einer basisdemokratischen Partei verbindlich an die Entscheidungen der Basis gebunden. Sie nehmen zwar an den Debatten im Bundestag teil und diskutieren engagiert mit, aber letzten Endes sprechen sie der Basis nur eine Empfehlung aus. Was die Basis daraus macht, steht auf einem anderen Blatt.“

Er greift nach seiner eigenen Kopie des Grundgesetzes und liest vor: „Artikel 21, Paragraph 1: Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ Er klappt das Grundgesetz zu und legt es sorgfältig zurück auf den Tisch, als sei es etwas besonders Wertvolles und Zerbrechliches.

Er wiederholt den letzten Satz mit übertriebener Betonung: „Sie wirken bei der Willensbildung mit, aber da steht nichts davon, dass der Souverän ihnen mit seiner Wahl ins Parlament seinen Willen übertragen hätte. Das war aber bis dahin die Interpretation der herkömmlichen Parteien gewesen. Für die Abgeordneten einer basisdemokratischen Partei spielt es keine Rolle, ob sie jemanden in einer Debatte besiegen oder an die Wand reden. Es ging seit 2020 nicht länger um persönliche Eitelkeiten, Status und Karriere, sondern darum, welches Anliegen bei der Basis die meisten Befürworter findet. Nicht das am Lautesten vorgetragene Argument gewinnt, sondern das Cleverste. Und als die desillusionierten Hinterbänkler und Abgeordneten der herkömmlichen Parteien erkannten, was da passierte, gab es einen regelrechten Exodus hin zu den Parteien, die für echte Basisdemokratie stehen und wo die beste Idee zählt und keine Klientelpolitik für einige Wenige gemacht wird.“

Der Lehrer denkt angestrengt nach, um sich an die Zeit vor 2020 zu erinnern. „Ihr müsst verstehen, dass man damals den Menschen eingeredet hatte, sie seien zu ungebildet, um selber über ihr Leben zu entscheiden. Und dass sie nicht die nötige Kompetenz hätten und dafür die Hilfe der Berufspolitiker bräuchten.“ Ein schelmisches Grinsen breitet sich auf seinem Gesicht aus und bringt seine Augen zum Tanzen. „Ihr werdet lachen, aber der damalige Gesundheitsminister war gelernter Bankkaufmann.“ Die Schüler werfen sich ungläubige Blicke zu.

„Ernsthaft?“, fragt ein Junge mit strubbeligem Haar und beginnendem Flaum auf der Oberlippe.

„Ja, außerdem war es damals für die Spitzenpolitiker üblich, alle paar Jahre ihren Kompetenzbereich zu wechseln. Das lag natürlich nicht daran, dass sie sich in diesem oder jenem Bereich so gut auskannten, sondern daran, dass sie sich so für bessere Posten mit mehr Einfluss in Position bringen wollten.

Das war auch so eine Lehre aus der Geschichte, die 2020 ihren Weg in die Köpfe vieler Menschen fand: Dass Eigenverantwortlichkeit viel besser ist, um Macht einzuhegen, als die Verantwortung an andere zu übertragen.

Auch die beste Idee kann von der falschen Person an der Spitze missbraucht und pervertiert oder für persönliche Zwecke ausgenutzt werden. Deshalb setzte sich damals der Wunsch durch, dass man die Ideen an sich ermächtigen wollte und nicht länger irgendwelche Personen, die im Wahlkampf versprochen hatten, sich für diese Ideen stark zu machen. Diese neue Sichtweise hat dann dazu geführt, dass auch von der Politik entfremdete Leute sich wieder engagiert und eingebracht haben. Tatsächlich waren die Menschen nämlich gar nicht politikverdrossen, sondern politikerverdrossen.“

Der Lehrer schreitet vor der altmodischen Kreidetafel auf und ab. „Es war verrückt. Damals gab es im Bundestag oder in politischen Talkshows eigentlich nur noch abwechselnd vorgetragene Monologe. Die Politiker, die nicht an der Reihe waren, zeigten demonstrativ ihr Desinteresse und spielten Handyspiele, während Politiker anderer Parteien redeten. Auch gute Ideen wurden bekämpft, weil man der anderen Partei keinen Erfolg und die damit verbundene Wählergunst zugestehen wollte. Innerhalb der Parteien gab es die sogenannte Fraktionsdisziplin. Scherte ein Politiker aus und vertrat eine andere Meinung, wurde der Partei von den Medien sofort innere Zerstrittenheit und Disziplinlosigkeit vorgeworfen. Damit waren auch den besten und ehrlich engagierten Politikern die Hände gebunden. Der enttäuschte Wähler wandte sich ab und so verloren die idealistischen Politiker immer mehr an Rückhalt, bis sie schließlich resigniert nachgaben oder sich aus der Politik zurückzogen.“

Der Lehrer bleibt stehen und verstummt einen Augenblick. „Plötzlich war es wieder möglich, mit einer guten Idee ganz viele Menschen zu erreichen, die in der Folge auch tatsächlich mitbestimmen konnten, ob diese Realität wird. In diesem Rahmen war die große Erfahrung der Politiker und die Kenntnis der politischen Vorgänge ein Riesenvorteil. Natürlich war der Anfang schwer und etwas chaotisch, weil die Leute es nicht gewohnt waren, auf diese Weise ihre Leben zu gestalten. Aber die Lernkurve war steil und heute wissen wir, dass es funktioniert hat. Unterschiedliche Meinungen innerhalb einer Partei wurden nicht länger als Anzeichen für Zerstrittenheit interpretiert, sondern stehen seither für gelebte Demokratie. Es war beeindruckend zu sehen, wie die Technologie damals etwas wirklich Nützliches hervorgebracht hatte. Etwas, das nichts mit Datensammelwut und dem Verkauf von persönlichen Daten an Werbetreibende zu tun hatte. Aber ich schweife ab ...“

Wieder hält der Lehrer einen Moment inne und besinnt sich auf das, was er eigentlich seinen Schülern vermitteln möchte. „Wisst ihr, es gab auch vorher viele Parteien, die mit hehren Zielen und echtem Idealismus gestartet sind. Rebellen und Querdenker hat man sie genannt, die für ordentlich Wirbel sorgen wollten. Aber das Problem war immer, dass ihre Bestrebungen nach und nach von Machtmenschen, Hierarchien und vermeintlichem Pragmatismus von Innen und Außen heraus zersetzt wurden. Am Ende setzten sich immer die Falschen durch und die Basis galt nur noch als Feigenblatt für Machtlegitimation.“ Der Lehrer wirft einen Blick auf die Uhr und fährt fort: „Das Gute an echter Basisdemokratie ist, dass jeder nicht nur eine Stimme zum Mitreden hat, sondern auch eine zum Mitbestimmen.“

„Jeder Erwachsene“, gibt das Mädchen mit den gekräuselten Haaren zu bedenken.

„Stimmt. Aber das Schöne ist, dass auch das nicht in Stein gemeißelt ist. Wenn sich genügend Leute mit guten Argumenten finden, die es schaffen, genügend Andere zu überzeugen, kann auch das geändert werden.“

Der Lehrer wartet einen Moment ab, ob jemand eine Frage stellen möchte. Da dies nicht der Fall ist, spricht er weiter: „Die Massen- und Leitmedien standen neuen Ideen damals häufig sehr skeptisch und manchmal sogar feindselig gegenüber. Was würdet ihr machen, wenn jemand eine gute Idee hat, ihr aber nicht wollt, dass sich diese durchsetzt?“

Die Schüler überlegen, aber niemand meldet sich. Diese konkurrierende Art zu denken ist bei der jüngeren Generation deutlich schwächer ausgeprägt als bei den Älteren. Der Lehrer beantwortet schließlich seine eigene Frage: „Es ehrt euch, dass ihr darauf keine Antwort wisst. Ich will es euch sagen: Ihr bekämpft nicht die gute Idee, sondern die Person, die sie vorträgt.“ Die Schüler blicken etwas ratlos und sind sich nicht sicher, worauf der Lehrer hinauswill.

Er fährt fort: „Eine beliebte Technik, um die Durchsetzung unliebsamer Ideen zu verhindern, war es, diese an Personen zu knüpfen. Und viele Menschen hatten diese Sichtweise übernommen: ‚Die ist mir sympathisch, die Idee find‘ ich gut. Der ist mir unsympathisch, die Idee find‘ ich schlecht‘. Aber das war natürlich nur ein Zaubertrick. Solange die Menschen das nicht in Frage stellten, reichte es aus, die Person hinter einer Idee zu diskreditieren. Und schon war auch die Idee vom Tisch, weil sich niemand mehr mit dieser Person identifizieren wollte. Viele große Zeitungen schrieben damals lauter an den Haaren herbeigezogene Dinge. Ich erinnere mich nicht mehr genau an die Details, aber ich will euch ein überspitztes Beispiel geben. Derlei Dinge konnte man damals in regelmäßigen Abständen so oder ähnlich in den Zeitungen lesen:

‚Es gibt gegenwärtig keine Hinweise darauf, dass Befürworter von Basisdemokratie kleine Kinder in ihr Knusperhaus locken.‘“

Die Gesichter der Schüler verhärten sich und der blonde Junge ruft empört: „Aber das ist unfair!“ Er denkt angestrengt nach. „Das ist wie lügen, ohne die Unwahrheit zu sagen.“

„Genau. Aber hinterher ist es das, was bei den Leuten in den Köpfen hängenbleibt ...“, ergänzt der Junge mit der Brille.

Der Lehrer grinst stolz. „Das habt ihr schnell als das erkannt, was es ist. Damals gab es ganz viele Kampfbegriffe, mit denen man abweichende Meinungen bekämpfte. Da wurde einfach behauptet, der Andere sei Antisemit. Oder Verschwörungstheoretiker oder Russlandversteher oder Querfrontler oder Linkspopulist oder Rechtspopulist oder Spinner oder Esoteriker“, sagt er, während er die Begriffe an den Fingern abzählt. „Die Liste war lang. Dafür gab es natürlich nie irgendwelche Beweise. Es reichte aus, mit dem Begriff um sich zu werfen, und bei den Leuten, die sich noch kein eigenes Bild gemacht hatten, schrillten alle Alarmglocken und sie gingen gedanklich auf Abstand. Aber der Clou war, dass die Menschen diesen Trick durchschaut hatten. Sobald es gegen eine Person ging, begab sich diese in Deckung und jemand anderes übernahm für sie. Das hat funktioniert, weil es für eine gute Idee unerheblich ist, wer sie vorträgt. Für die Medien war es eine Schlacht gegen einen übermächtigen Feind. Wisst ihr, was eine Hydra ist?“

„Das ist so eine Art Schlange mit mehreren Köpfen“, meldet sich ein Mädchen mit dunklem Haar und einem Pferdeschwanz, „und immer, wenn man einen Kopf abschlägt, wachsen mehrere neue nach.“

„Genau. Und bei einer basisdemokratischen Struktur musste der politische Gegner erkennen, wie sinnlos es war, das Schwert zu schwingen, und gab es auf, einzelne Personen zu bekämpfen.

Ab einem gewissen Punkt machten sich die Leitmedien immer unglaubwürdiger, wenn sie behaupteten, dass Millionen von Menschen, die für politische Selbstbestimmung eintraten, Verschwörungstheoretiker seien.

Hierbei lernten die Leute wieder, Ideen gesondert von einem Gesicht zu betrachten. Denn Personen kann man mit genügend Macht in den Augen ihrer Mitmenschen diskreditieren und gesellschaftlich vernichten. Nichts leichter als das, und viele Medien hatten diese Technik perfektioniert. Eine Idee jedoch ist unsterblich. Eine Idee hat keine Familie und keine menschlichen Schwächen. Eine Idee muss nicht essen und kein Geld verdienen.“

Die Augen des Lehrers glänzen, während er davon spricht. „Die Überwindung der repräsentativen Demokratie hin zu einer Basisdemokratie ermöglichte erst wieder die Trennung von Person und Idee. Es war im Nachhinein nicht verwunderlich, dass es innerhalb einer repräsentativen Demokratie aufgrund ihrer Struktur und Personenzentriertheit zu solchen Auswüchsen kommen musste. Jetzt aber konnte auch wieder auf der Sachebene miteinander gesprochen werden, weil niemand auf Gedeih und Verderb persönlich mit einer Idee verflochten war.

Der Lehrer wirft einen erneuten Blick auf die Uhr und hofft, dass seine Schüler noch ein wenig Geduld für ihn aufbringen. Er ist fast am Ende angelangt. „Was damals passierte, war, dass die Regierung auf einmal quasi-totalitäre Maßnahmen durchsetzen wollte. Dazu zählten die Einschränkung der Grundrechte unter Berufung auf Hochrechnungen mit unzureichender Datengrundlage, offene Zensur der Onlinemedien und das hinarbeiten auf eine medizinisch fragwürdige und potentiell gefährliche Impfpflicht mit unzureichend getesteten Impfstoffen. Dieses völlige Außerachtlassen der Sichtweisen und Wünsche Andersdenkender war für sehr viele Menschen der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Die Frustration über die fehlende Mitbestimmung in der Bevölkerung existierte bereits seit langem, und endlich gab es einen Lichtblick und die Möglichkeit, vom Reden ins Handeln zu kommen.“ Der Lehrer geht zurück an die Tafel und nimmt sich ein Stück Kreide. „Es gab drei Grundpfeiler, auf die sich fast alle Menschen einigen konnten.“ Er fängt an, eine Liste zu schreiben.

„Erstens: Die Freiheit steht über allem. Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit eines Anderen beginnt. Dazu gehören auch die körperliche Unversehrtheit und das Recht auf die Bestimmung über den eigenen Körper. Zweitens: die Machtergreifung einiger Weniger ist in einer freien Gesellschaft nicht zu tolerieren. Machtbegrenzung steht in einer echten Demokratie an oberster Stelle. Drittens: alle Menschen leben einen liebevollen, mitmenschlichen Umgang miteinander.“

Der Lehrer beendet sein Schaubild an der Tafel und dreht sich um. Die Schüler schreiben sich die wichtigsten Stichworte ab und heben anschließend einer nach dem anderen die Köpfe.

Der Lehrer tritt ans Fenster. Er blinzelt in die Sonne und betrachtet die spielenden Kinder draußen. Langsam beginnt er von neuem: „In Euren Büchern steht, dass das rationale Denken und die offen ausgetragene Debatte wieder den Weg in die Öffentlichkeit gefunden hatten und dass das die Wende eingeleitet hat. Das stimmt sicherlich zu einem großen Teil. Aber wenn ihr mich fragt, lag es daran, dass die Liebe stärker ist als der Hass und am Ende immer siegen wird.“ Die Schüler tauschen fragende Blicke aus. Sie kennen ihren Gemeinschaftskundelehrer als einen eher nüchternen Menschen, Welten entfernt vom in die Poesie verliebten Deutschlehrer, der sie immer Gedichte rezitieren lässt.

„Liebe bedeutet auch Vergebung. Und dass man entfremdeten Menschen gegenüber immer wieder die Hand ausstreckt. Dies ist eine der mächtigsten Ideen, die sich durch die lange Menschheitsgeschichte zieht. Es gehören ausnahmslos alle Menschen zur Menschheitsfamilie, auch diejenigen, die uns und Anderen Schmerz und Leid zufügen. Denkt an die indische Unabhängigkeitsbewegung, im Zuge derer Millionen von Menschen gewaltfrei ihre Unabhängigkeit von der britischen Kolonialherrschaft erlangten. Oder die Bürgerrechtsbewegung in den USA. Der Zauber dieser Bewegung, der bis heute nachwirkt, lag darin begründet, dass es eine Bewegung für Gleichberechtigung und Mitbestimmung war und keine Bewegung gegen etwas.

Trotz all der schrecklichen Dinge, die der schwarzen Bevölkerung angetan worden waren, sprach die Bewegung immer nur von den ‚weißen Brüdern‘, die es gewaltfrei zu überzeugen galt. Im Südafrika nach der Apartheid passierte das Wunder, dass der Unterdrücker von einst nicht mit Rache und aufgestautem Zorn konfrontiert wurde, sondern mit einem Angebot der Versöhnung, die zum Ziel hatte, den endlosen Kreislauf von Gewalt und Blutvergießen endlich zu durchbrechen. Auch hier waren die Personen, die maßgeblich an den Bewegungen beteiligt waren, häufig kritisiert und diskreditiert worden, aber merkt ihr was? Da sind wir wieder beim Unterschied zwischen einer Person und einer Idee.“ Der Lehrer schweigt und es entsteht eine lange Pause. Niemand scheint die entstandene Stille durchbrechen zu wollen.

„War es damals schwer, eine echte Basisdemokratie zu schaffen?“, fragt das Mädchen mit den Sommersprossen unvermittelt.

Der Blick des Lehrers verliert sich etwas und er sagt nachdenklich und mehr zu sich selbst: „Damals hatte man die Menschen so sehr von ihrer eigenen Machtlosigkeit überzeugt, dass Viele die Ohnmacht verinnerlicht hatten. Aber als es dann erst mal losging, war dieses neugewonnene Selbstvertrauen nicht mehr aufzuhalten. Wisst ihr, der französische Schriftsteller Victor Hugo hat einmal gesagt: Nichts ist stärker als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.“

Der Lehrer legt die Kreide zur Seite und wischt sich den Staub an seinen Fingern geistesabwesend an der Hose ab. Er blickt durch die Reihen seines Klassenzimmers. Seine Schüler drehen ihre Kugelschreiber in den Händen und blicken nachdenklich vor sich hin. Es ist, als könnte er in ihren Gesichtern ablesen, wie sie versuchen, sich die Ereignisse des Jahres 2020 im Geiste auszumalen und sich vorzustellen, wie es wohl für ihre Eltern gewesen sein muss. Kurz bevor endlich alles besser wurde. Die ersten Blicke wandern zum Fenster und der Lehrer erkennt die große Sehnsucht dahinter. Von irgendwoher hört man leise Musik, die sich mit dem sorglosen Gelächter der draußen spielenden Kinder vermischt. Der Lehrer lächelt wissend und erklärt den Unterricht für beendet. Es ist Zeit für seine Schüler, draußen mit ihren Freunden und ihrer Familie den herrlichen Frühlingstag zu genießen.


Nota bene: Der Autor bedankt sich bei Sophia Klein für kritisches Feedback, produktiven Austausch und ihre vielen guten Gedanken, die in diesen Text eingeflossen sind.