Das Libyen-Chaos
In dem nordafrikanischen Land ist ein Streit um die Erdöleinnahmen ausgebrochen, der sich zu einer Krise der politischen Institutionen auszuwachsen droht.
Dramatische Zuspitzung beim Streit um die Erdöleinnahmen. Die Libysche Zentralbank (CBL) wurde im Handstreich vom Präsidialrat gekapert, der mit der Dabaiba-„Regierung“ in Tripolis unter einer Decke steckt. Der bisherige CBL-Chef, as-Siddiq al-Kebir, verließ fluchtartig das Land. Aus Protest dagegen schloss die Parlaments-„Regierung“ im Osten die Erdölfelder und Verladehäfen. Der libysche Erdölexport geht daraufhin um 75 Prozent zurück. Befürchtet wird, dass die Dabaiba-„Regierung“ in Zusammenarbeit mit dem Präsidialrat auch das Parlament und den Staatsrat auflösen und die Spaltung Libyens vorantreiben will.
Libyens Institutionen
Wie bekannt, rivalisieren in Libyen zwei Regierungen um die Macht. Zum einen die von der „internationalen Gemeinschaft“ anerkannte, sogenannte „Einheitsregierung“ in Tripolis unter dem Premierminister Abdul Hamid Dabaiba, der in Personalunion auch Verteidigungsminister ist. Zum anderen existiert das im Jahr 2014 mit einer Wahlbeteiligung von nur 18 Prozent gewählte Parlament im östlichen Libyen, das ebenfalls von der „internationalen Gemeinschaft“ anerkannt ist; nicht anerkannt aber ist die vom Parlament berufene Regierung von Premierminister Osama Hammad.
Militärische Unterstützung erhält die Dabaiba-„Regierung“ hauptsächlich von Tripolis-Milizen, bekannt durch häufige Scharmützel, die sie untereinander austragen, und von der NATO-Schutzmacht Türkei. Die Tripolis-„Regierung“ musste erst kürzlich eine Niederlage einstecken, als ihr Schützling Mohamed Takala gegen Khaled al-Mischri bei der Wahl des Staatsratsvorsitzenden unterlag. Dabaiba schien die Macht zu entgleiten.
Den Osten und Süden Libyens mit den wichtigsten Erdölfeldern wie das Scharara-Ölfeld und Ölverladehäfen wie as-Sidra beherrschen militärisch Khalifa Haftar und seine Söhne mit ihrer Armee, unterstützt von Russland. Daneben sind natürlich auch andere NATO-Staaten in Libyen aktiv, so die USA, Frankreich und Italien.
Neben dem beratenden Organ des Staatsrats existiert der Präsidialrat unter Mohammed al-Menfi, der sich als eine Art offizielles Staatsoberhaupt von Libyen und als Oberbefehlshaber der militärischen Kräfte im westlichen Libyen versteht und eng mit der Dabaiba-„Regierung“ verbündet ist.
Sowohl die Dabaiba-„Regierung“ im Westen als auch das Parlament im Osten beziehen ihr Geld, mit dem auch die für den Machterhalt so wichtigen Militär- und Milizkosten beglichen werden, von der Libyschen Zentralbank (CBL) in Tripolis, welche die mit Erdöl- und Erdgasexporten erzielte Einnahmen verwaltet und verteilt und somit die wichtigste Institution Libyens darstellt. Im Verlauf dieses Jahres überwies die National Oil Company (NOC) bereits 11,662 Milliarden US-Dollar an die CBL.
Seit Oktober 2011 wurde diese Zentralbank (CBL) von as-Siddiq al-Kebir geführt, Darling von Weltbank und Internationalem Währungsfonds, libyscher Partner und Ansprechpartner für die USA schlechthin. Doch das könnte sich geändert haben.
Die handstreichartige Übernahme der Libyschen Zentralbank
Am 18. August erklärte der Präsidialrat den Chef der Zentralbank, Siddiq al-Kebir, für abgesetzt und ernannte an seiner Stelle Mohammed Abdel Salam asch-Schukri zum neuen Chef der CBL. Die Vorzeichen kehrten sich um: War bisher stets al-Kebir vom Parlament bekämpft und — wenn auch folgenlos — für abgesetzt erklärt und asch-Schukri präferiert worden, lief nun das Parlament mit Unterstützung von Haftar und seinem Militär Sturm gegen die Absetzung al-Kebirs und will ihn unbedingt im Amt halten. Was war geschehen?
Al-Kebir wurde seit einiger Zeit vorgeworfen, den ostlibyschen Wünschen mehr gewogen zu sein und die Gelder zum Vorteil des Parlaments und dessen Haftar-Militär, aber zum Nachteil der Dabaiba-„Regierung“ und deren Tripolis-Milizen umschichten zu wollen. Bereits Ende 2023 war al-Kebir für einige Wochen in die Türkei geflüchtet, da er sich von den Tripolis-Milizen bedroht fühlte.
In Libyen funktioniert nur noch sehr wenig nach Recht und Gesetz. Deshalb blieben die Proteste des Parlaments gegen die Absetzung al-Kebirs ungehört, obwohl der Präsidialrat unter al-Menfi seine Befugnisse weit überschritten hat; denn das Politische Abkommen von 2015 (Artikel 15) sieht vor, dass nur das Parlament in Absprache mit dem Staatsrat die Vorsitzenden der souveränen Institutionen bestimmen kann. Dazu zählt auch der Chef der Zentralbank.
Nachdem das Parlament auf al-Kebir als CBL-Chef beharrte, der Präsidialrat aber al-Kebir als abgesetzt betrachtete, kaperte der vom Präsidialrat eingesetzte Übergangsvorstand den Hauptsitz der Zentralbank in Tripolis und rief asch-Schukri als neuen CBL-Chef aus, auch wenn dieser kurz darauf versicherte, das Amt unter diesen Umständen nicht antreten zu wollen.
Die vom Präsidialrat unter al-Menfi ausgelöste Besetzung der Bank wurde von der Dabaiba-„Regierung“ und deren Milizen unterstützt. Es kam zu äußerst unschönen Begleiterscheinungen wie der Verhaftung und Entführung von führenden Beamten der CBL, sowie der Bedrohung ihrer Familien. Am 30. August flüchteten al-Kebir und mehrere hohe Beamte ins Ausland, da sie um ihr Leben fürchteten. Al-Menfi versetzte derweil al-Kebir nach einer neuen Resolution wegen Erreichens des gesetzlichen Höchstalters ab dem 29. August 2024 in den Ruhestand.
Es ist angesichts des gewalttätigen Vorgehens der Tripolis-Milizen unwahrscheinlich, dass die von al-Kebir angeordnete Außerkraftsetzung aller Bankdienstleistungen bis zu seiner Wiedereinsetzung im Amt befolgt werden wird.
Die Reaktion im Osten: Schließen der Erdölfelder
Mit Zustimmung des Parlaments rief am 26. August die Hammad-„Regierung“ als Reaktion auf die Absetzung al-Kebirs den Zustand der höheren Gewalt aus und ordnete die Schließung der libyschen Erdölfelder und Anlagen sowie der Verladehäfen an. Diese stehen unter der Kontrolle der militärischen Kräfte von Khalifa Haftar.
Am 30. August gab die National Oil Company (NOC) bekannt, dass die libysche Ölförderung aufgrund der Schließungen um 63 Prozent gesunken ist. Davon betroffen ist vor allem Europa als Hauptabnehmer des libyschen Erdöls, in erster Linie Italien, Frankreich und Spanien.
Auch die libysche Wirtschaft ist von der Kraftstoffverknappung betroffen. An Tankstellen bilden sich lange Warteschlangen.
Internationale Hilflosigkeit oder gewollte Eskalation?
Die UN-Sondermission in Libyen (UNSMIL) unter der Leitung von Stephanie Khoury forderte genauso wie die USA, Großbritannien und die EU die Kontrahenten dazu auf, sich an einen Tisch zu setzen und das Problem gemeinsam zu lösen. Und natürlich sollten unverzüglich alle Ölfelder und -anlagen geöffnet werden. Mit Nachdruck wurde die Aufhebung des Zustands der höheren Gewalt gefordert. Die Position der UNSMIL gilt als entscheidend und wird von Washington und den westlichen Hauptstädten unterstützt. Der Ölfluss darf nicht versiegen.
Eine gewichtige Rolle bei der Absetzung al-Kebirs spielten auch die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE). Sie waren al-Kebir nicht mehr wohlgesonnen, nachdem al-Kebir im Oktober 2023 die libyschen Börsen in den VAE schloss.
Es könnte sich hier eine völlig neue Entwicklung abzeichnen. Während das Parlament gemeinsam mit der Staatsratsmehrheit forderte, sowohl die Dabaiba-„Regierung“ als auch die Hammad-„Regierung“ zugunsten einer neuen Einheitsregierung, die das Land in Wahlen führt, abzusetzen, wird befürchtet, dass nach der Absetzung des Zentralbankchefs der nächste Schritt des Präsidialrats darin bestehen könnte, Parlament und Staatsrat aufzulösen.
In Tripolis wurden dem Staatsrat schon mal die Räumlichkeiten gekündigt. Al-Kebir machte derweil den Präsidialrat, die Dabaiba-„Regierung“ und ihre Sicherheitsdienste für alles, was sich aus der gewaltsamen Übernahme der CBL ergibt, verantwortlich.
Der Sturz von al-Kebir kann als Beginn eines neuen politischen Zuges verstanden werden.
USA und Russland
Wie gefährlich sich die Situation entwickeln könnte, zeigen die Treffen des Kommandanten von AFRICOM, General Michael Langley, mit Khalifa Haftar und dessen Söhnen, Saddam und Khaled, am 27. August in Bengasi, sowie die anschließenden Treffen von Langley am 29. August mit Abdul Hamid Dabaiba in Tripolis, wo Langley die dringende Notwendigkeit einer einheitlichen und robusten militärischen Antwort Libyens auf die neuen Bedrohungen in der gesamten Region betonte. Damit gemeint sind die Entwicklungen in den Sahelstaaten, in denen Russland eine immer größere Rolle spielt. Auch der Präsidialratsvorsitzende al-Menfi und der Generalstabschef des westlichen Militärs, al-Haddad, führten mit Langley Gespräche.
Der Außenminister der Parlamentsregierung, Abdulhadi al-Hawaidsch, wiederum hielt telefonische Rücksprache mit dem stellvertretenden russischen Außenminister Michail Bogdanow, um Möglichkeiten zur Stärkung der bilateralen Beziehungen zwischen Libyen und Russland auszuloten. Auch hier soll enger zusammengearbeitet werden, um „Sicherheit, Stabilität und Frieden in der Region und auf dem afrikanischen Kontinent“ zu stärken. Die Partnerschaft soll insbesondere im Hinblick auf die aktuellen geopolitischen Herausforderungen in der Region gestärkt werden.
Hier bauen sich eindeutig neue Fronten auf, die mitten durch Libyen verlaufen.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Beitrag erschien zuerst unter dem Titel „Libyen: Die einen haben das Geld, die anderen haben das Öl“ bei Gela News. Dort finden Sie unterhalb des Beitrags eine detaillierte Übersicht zu den Vorgängen.