Das Leid im Schatten
In Zeiten der Corona-Fixierung beachtet niemand mehr die weiterhin schlimme Situation der Flüchtlinge an der türkisch-griechischen Grenze.
Derzeit scheinen die meisten Medien nur ein einziges Thema zu kennen: die Corona-Pandemie und ihre wirtschaftlichen Folgen. Von der unlängst an der türkisch-griechischen Grenze eskalierten Situation zwischen flüchtenden Menschen und teils offiziellen, teils selbsternannten Beschützern der europäischen Außengrenzen hört man hingegen – wenn überhaupt – nur noch am Rande. Dabei hat sich die dortige Lage zwischenzeitlich keineswegs verbessert, geschweige denn beruhigt.
Nach wie vor ist die grundlegende Tatsache offensichtlich, dass alle Beteiligten in der aktuellen Situation wieder einmal das Elend von Menschen als Mittel missbrauchen, um politische Interessen durchzusetzen. Gleichsam unbezweifelbar ist der Umstand, dass das EU-Türkei-Abkommen vom März 2016 niemals hätte getroffen werden dürfen. Es hat bislang nicht nur tausende Flüchtlinge das Leben gekostet, sondern befeuert zudem auch noch einen Krieg der Türkei Seite an Seite mit islamistischen Terroristen gegen Kurden und die syrische Armee, sodass immer noch mehr Menschen aus ihrer Heimat fliehen. Erdogans Ausnutzen der Not jener Flüchtlinge, die er an anderer Stelle selbst zur Flucht zwingt, ist an Zynismus kaum mehr zu überbieten.
Dass angesichts dessen die EU, anstatt sofort jegliche Zusammenarbeit mit dem Regime der Türkei zu beenden, diesem weitere Unterstützung zusagt und damit das Leiden und Sterben Tausender verlängert und fördert, enthüllt hingegen den faschistischen Charakter der Europäischen Union und sämtlicher kapitalistischer Regierungen auf dem europäischen Kontinent.
Für mich als deutscher Staatsbürger ist das perfide Spiel, insbesondere der deutschen Regierung, ein Totalversagen des deutschen Staates und der Europäischen Union. Es ist der klare Beweis dafür, dass die allenthalben proklamierte Humanität eine bloße Maskerade ist. Das zeigt eindeutig der Hinweis auf die nicht erreichbare europäische Einigung über die Verteilung von Flüchtlingen. Dass in der Konsequenz Menschen sterben, wird ausgeblendet. Hier macht die Bundesregierung Politik, wie die AfD sie fordert. Ich bin entsetzt über Äußerungen von Sahra Wagenknecht, „wohlfeile Forderungen nach offenen Grenzen, die unweigerlich in einer Situation wie 2015 münden und unsere Demokratie restlos destabilisieren würden, nützen ihnen nichts.“
Wer bitte hat die Demokratie denn destabilisiert: die Willkommenskultur 2015? Die Menschen, die auf den Bahnhöfen standen und die Flüchtlinge willkommen hießen und aufgenommen haben? Oder vielleicht doch eher die populistische Hetze rechter Brandstifter? Die Frage aber bleibt: Wie ist die aktuelle Situation zu bewältigen? Damit aber auch: Wie ist grundsätzlich in Zukunft mit Migration umzugehen? Wie wollen wir in Europa mit Menschen umgehen, die auf der Flucht sind und wie wollen wir, dass mit uns umgegangen wird?
Erosion der Menschenrechte
Derzeit stehen die Menschen noch mit der Bitte um Schutz und Hilfe vor den Toren Europas. Es braucht keine hellseherischen Fähigkeiten, um zu wissen, dass das nicht ewig so bleiben wird. Die globale Armee der Verlierer wird stetig größer und ebenso ihr Hass auf das dafür verantwortliche System. Irgendwann werden sie mit der Waffe in der Hand dort stehen, Gleiches mit Gleichem vergelten und sich mit Gewalt nehmen, was ihnen zusteht. Das Recht auf Leben ist das vielleicht elementarste aller Menschenrechte. Selbst die sehr naive und wenig menschenfreundliche Einstellung, diese Nöte träfen ja nur „die anderen“ — Menschen anderer Herkunft, anderer Hautfarbe, anderer sozialer Prägung – geht nicht auf. Ein solches Verhalten erodiert die Menschenrechte aller – es betrifft allerdings die Schwächsten zuerst.
Ich halte es für die Pflicht eines jeden privilegierten Menschen, diese Privilegien stets auch zum Wohlergehen anderer einzufordern und umzusetzen. Wer Rechte hat, hat auch Pflichten. Allen voran die Pflicht, denen zu ihrem Recht zu verhelfen, denen das herrschende System ihre Rechte verweigert. Nach meiner Meinung besteht die Hilfe für die Menschen, die gerade an der Grenze Griechenlands stehen, einzig und allein in der sofortigen bedingungslosen und dauerhaften Öffnung der europäischen Innen- und Außengrenzen bei gleichzeitiger Einrichtung und Wahrung sicherer Fluchtwege sowohl auf Land als auch auf See. Das gilt ebenso für die vielen, die sich in den Internierungslagern in Griechenland, der Türkei und vor allem in Libyen befinden und auch für all jene, die sich in Zukunft noch auf den Weg nach Europa machen werden.Und niemand soll mir erzählen, man könne diese Menschen – aus welchen Gründen auch immer – nicht aufnehmen.
Diese Behauptung ist so unmenschlich wie sachlich falsch. Europa hat mehr als hinreichende Kapazitäten und Ressourcen, um Millionen von Menschen aufzunehmen. Allein: Man will es nicht. Der Burggraben der Festung Europa wird stattdessen zum Testfeld für neue Techniken zur Migrationsabwehr, mit flüchtenden Menschen als Versuchskaninchen, ohne dass es dazu einen nennenswerten öffentlichen Aufschrei gibt.
Auch die Behauptung, die EU müsse ihre Grenzen schützen und ihr Hausrecht wahren, ist völlig absurd. Das Einzige, was Europa da wirklich zu schützen beabsichtigt, ist, seinen dekadenten Wohlstand nicht teilen zu müssen. Hausrecht auszuüben kann nicht darin bestehen, durch Mobilisierung von Kampftruppen und faschistischen Schlägern anderen systematisch Menschenrechte zu verweigern.
Diese Menschen vor den Toren Europas stehen dort, um Schutz zu ersuchen, ihr Grundrecht auf Asyl wahrzunehmen — und nicht, um Europa anzugreifen.
Eine solche Argumentation impliziert fast schon, dass wir als Europäer plötzlich die Opfer wären und uns verteidigen müssten. Menschen, auf deren Kosten sich Europa seit jeher ein schönes Leben gemacht hat, fordern jetzt ihren Anteil – und zwar völlig zu Recht. Die derzeitige Reaktion der europäischen Staaten darauf ist nichts anderes als Faschismus und Rassismus in widerlichster Form. In den Sammellagern, insbesondere in Libyen, herrschen KZ-ähnliche Verhältnisse, systematisch begangene, schwerste Menschenrechtsverletzungen sind an der Tagesordnung. Keinem Europäer, keiner Europäerin würden die Regierungen der europäischen Nationen das auch nur einen Tag lang zumuten. Aber Flüchtlinge haben dafür offenbar die falsche Hautfarbe und den falschen Pass.
Die Situation im Mittelmeer ist gleichsam prekär: Die Marinemission der EU, die italienische Küstenwache und selbst die europäische Grenzschutzagentur Frontex sind weg – abgesehen von wenigen privaten Seenotrettern findet Seenotrettung de facto nicht mehr statt. In der Folge kam es seit 2014 auf der Flucht im Mittelmeer zu mehr als 18.000 Toten und Vermissten. Das sind im Schnitt 9 Tote pro Tag. Alle zweieinhalb Stunden stirbt im Mittelmeer ein Mensch. Damit ist die europäische Südgrenze im Mittelmeer für Migranten und Flüchtlinge die gefährlichste Grenze der Welt. All dies geschieht mit dem Wissen und der Absicht der europäischen Machthaber. Erschreckenderweise stehen aber nicht nur Politik und Wirtschaft, sondern auch ein großer Teil der europäischen Bevölkerung flüchtenden, nach Hilfe suchenden Menschen distanziert bis offen ablehnend gegenüber.
Noch 2015 lehnten die übrigen EU-Staaten das Vorgehen der ungarischen Grenzschützer weitgehend ab, so begrüßen und unterstützen aktuell das ganz ähnliche Vorgehen der griechischen Grenzschützer durchweg sowohl die Regierungen als auch die europäische Bevölkerung. Dies erinnert an die dunkelsten Zeiten der europäischen Geschichte. Über die Thematik wird diskutiert, als handele es sich dabei um eine Meinungsfrage. Das ist ebenso rechtlich falsch wie moralisch beschämend. Einer Gesellschaft, die lieber wegschaut, als Menschen in Not zu helfen, fehlt jeder moralische Halt. Wer so denkt und handelt, macht sich mitverantwortlich. Mitverantwortlich für eine faschistische Abschottungspolitik, die direkt und indirekt über Leben und Tod von Menschen entscheidet. Ein bloßes Öffnen der Grenzen wird allerdings den Ursprung des Problems nicht lösen.
Die oft gehörte Aussage zahlreicher Regierender, um der Flüchtlingsbewegungen Herr zu werden, müsse man die Fluchtursachen bekämpfen, ist aus ihrem Munde der blanke Hohn, denn dazu müssten sie das System ändern, von dem sie selbst profitieren. Ein System, dessen Machtstrukturen seit der Kolonialzeit bestehen und dessen Auswirkungen mit den so oft zitierten europäischen Werten, geschweige denn mit der Menschlichkeit, nicht vereinbar sind. Die allermeisten Fluchtursachen lassen sich nicht in den Herkunftsländern der Flüchtenden bekämpfen, weil sie dort nicht entstanden sind.
Den Menschen im globalen Süden bringt unsere egoistisch-dekadente Lebensweise Umweltverschmutzung, Krankheit, Arbeits- und Perspektivlosigkeit. Mit unserem Energiehunger zerstören wir langfristig und teilweise unumkehrbar das Klima. Die Folgen davon bekommen die Länder als erste zu spüren, die am wenigsten dazu beigetragen haben. Unsere Lebensweise fördert die globale Armut und schafft dadurch die allermeisten Fluchtgründe.
Globale Gerechtigkeitskrise
Der Begriff der Flüchtlingskrise greift viel zu kurz – diese Flüchtlingskrise ist nur ein Symptom der globalen Gerechtigkeitskrise. Statt dieser unumstrittenen Tatsache angemessen zu begegnen, reagiert die EU derzeit auf die Symptome dieser Krise in einer Art und Weise, die jeglichen Werten, die sie für sich reklamiert, diametral entgegensteht. Sie handelt nach rein wirtschaftlichen Aspekten von Profit, Konkurrenz und Wachstum. Gesellschaftliche Verteilungskämpfe statt entschlossener Solidarität, militärische Abschottung statt Rettung – die einzige Lösungsstrategie der europäischen Regierungen heißt letztlich Gewalt. Wer hingegen ehrlich und ergebnisorientiert über die Bekämpfung von Fluchtursachen sprechen will, muss zuallererst über die globale Ungerechtigkeit sprechen:
Der Wohlstand westlicher Wirtschaftsnationen, multinationaler Konzerne und kapitaltragender Privatpersonen basiert auf der Arbeitskraft und den Bodenschätzen armer Länder vornehmlich des globalen Südens.
Die Industrienationen in Europa tragen in höchstem Maße Mitverantwortung für die wirtschaftliche Not dieser Länder, für Bürgerkriege, für Misshandlungen und Ausbeutung – und verdienen daran. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass gerade Länder wie Deutschland, Frankreich und Italien seinerzeit den menschenverachtenden Deal mit Libyen und seiner sogenannten „Küstenwache“ lanciert haben. Einer „Küstenwache“, die nichts anderes ist, als eine paramilitärische Terrormiliz, die für Geld der EU die Drecksarbeit übernimmt, das Nichtzurückweisungsprinzip umgeht und Flüchtenden mit Waffengewalt das Recht auf ungehinderte Ausreise verweigert. Auffälligerweise sind es doch genau Deutschland mit Konzernen wie Wintershall / BASF, Frankreich mit Total und Italien mit seinem halbstaatlichen Ölkonzern ENI, die in Libyen im großen Stil Rohstoffe fördern.
Die gravierendste Folge unseres Wirtschaftssystems ist der globale Klimawandel. Er ist nicht der alleinige Kern allen Übels und auch nicht die einzige Ursache für Migrationsbewegungen, aber er trägt sowohl direkt als auch indirekt in so erheblichem Maße dazu bei wie kaum ein anderer Aspekt. Mehr als 99 Prozent aller Wissenschaftler sind sich einig, dass der derzeitige Klimawandel, wenn auch nicht ausschließlich, so doch in höchstem Maße menschengemacht ist.
Des Weiteren deuten alle Prognosen darauf hin, dass die CO2-Emissionen in Zukunft weltweit weiter steigen werden und dadurch die Durchschnittstemperatur auf unserem Planeten weiterhin massiv steigt – und zwar unkontrolliert. Dies wird unweigerlich zu Trinkwassermangel ebenso wie zu Ernteausfällen führen. Nahrungsmittelknappheit und daraus entstehende soziale Konflikte werden unausweichlich zu Fluchtursachen. Klimatische und ökologische Veränderungen sind zusammen mit den Folgen direkter Umweltzerstörung die Hauptgründe für die Verdrängung von Menschen und deren Migration aus ihrer Heimat.
Deshalb ist es im Zuge der Öffnung der Grenzen gleichsam dringend erforderlich, Flucht aus klimatischen Gründen in die UN-Klimarahmenkonvention aufzunehmen und ebenso den Klimawandel als Asylgrund rechtlich bindend anzuerkennen und die Betroffenen damit unter den Schutz der Genfer Flüchtlingskonvention zu stellen. Und dieser Schutz muss umgesetzt werden, indem wir geflüchtete Menschen in unsere Gesellschaft integrieren, statt sie zu Fremden zu erklären. Wir müssen unsere Verantwortung für die Ursachen anerkennen. Nach derzeitigem Stand wird nur als asylsuchend anerkannt, wer aufgrund seiner Ethnie, seiner Religion, seiner politischen Überzeugung oder seiner Zugehörigkeit zu einer besonderen sozialen Gruppe flüchtet. Zwar weisen der UN-Migrationspakt von 2018 und auch der aktuelle UN-Klimabericht auf die genannten Probleme hin – rechtlich bindend sind jedoch beide nicht.
Das Dogma des stetigen Wachstums
Wir können jedoch nicht darauf warten, dass Staaten sich selbst zum Handeln verpflichtet sehen. Diese Idee ist völlig illusorisch. Wir selbst müssen handeln – wir, die Zivilgesellschaft. Die Regierungen Westeuropas haben überhaupt kein Interesse daran, Flüchtlinge aufzunehmen, ebenso wenig die Energieunternehmen und Ölkonzerne oder die Finanzwirtschaft. Gesetze und Dekrete, Regierungen und Minister – sie alle werden das Problem nicht angehen. Konzerne arbeiten profitorientiert, ökologische und soziale Aspekte werden Renditeerwartungen untergeordnet beziehungsweise geopfert. Alles ist darauf gerichtet, das bestehende System zu erhalten.
Das stetige Wachstum der Wirtschaft ist auch den Politikern wichtiger als der Schutz des Planeten und seiner Menschen – auch wenn sie sich über die tödlichen Folgen im Klaren sind. Sie wollen das System schlichtweg nicht ändern. Sie haben Angst vor dem Verlust ihrer Macht und ihres Wohlstands. Selbst diejenigen, die guter Absicht sind, etwas zu ändern, oder tatsächlich glauben, mit kleinen Schritten etwas bewirken zu können, sind zum Scheitern verurteilt. Sie stellen ihre Bemühungen innerhalb des bestehenden Wirtschaftssystems an, das den Planeten und seine Ressourcen als Handelsware begreift und jeden Millimeter nach seinem finanziellen Wert bemisst. Sie versuchen, die Krise mit Mitteln zu bekämpfen, die diese Krise erst erzeugt haben: mit den Mitteln der neoliberalen Wirtschaftspolitik.
Sie wollen einen grünen Kapitalismus, den es nicht geben kann, weil Umweltschutz und Interessen der Konzerne immer in einen Widerspruch geraten.
Die derzeitige Krise, vornehmlich die des Klimawandels und der Migrationsbewegungen, ist ein strukturelles, systemisches Problem von weltumspannendem Ausmaß, das durch individuelle Entscheidungen zur Lebensweise allein nicht gelöst wird. Privater Konsumverzicht ist ohnehin selbstverständlich, wenn einem der Ernst der Lage bewusst ist, aber er muss einhergehen mit Gemeinschaftsaktionen und politischer Arbeit für den Systemwandel. Es wird höchste Zeit, dass alle Menschen erkennen, worum es in der Welt im Moment geht: Um das Überleben der Menschheit und die Form einer zukünftigen Gesellschaft. Wir müssen radikal umdenken, uns selbst und damit das System radikal verändern, das die Krise ausgelöst hat. Kumi Naidoo, Generalsekretär von Amnesty International, hat es treffend formuliert, als er sagte:
„Wir müssen nicht nur über den Tellerrand hinausschauen – wir müssen den Teller nehmen und ihn sehr, sehr weit wegwerfen.“
Es braucht eine globale Transformation, einen radikalen Systemwandel. Und ja, diese Veränderungen werden starke Einschnitte für die Bevölkerung heutiger Wirtschaftsnationen mit sich bringen. Aber sie sind unausweichlich, um am Ende zu einer globalen Gesellschaft zu kommen, in der jeder Mensch frei und sicher leben kann. Einer Gesellschaft, die auf Solidarität, Gerechtigkeit und Gemeinschaft baut und in der Wohlstand bedeutet, dass es allen gut geht. Ein solches Umdenken muss meiner Meinung mit der Erkenntnis einsetzen, dass Nationalstaaten in einer modernen Gesellschaft keinen Sinn machen und der Kapitalismus kein zukunftsfähiges System ist.
Es ist eine unumstößliche Tatsache, dass ein Gesellschaftsmodell, in dem jeder für seinen eigenen Vorteil arbeitet, unweigerlich immer wieder zu Ungleichheit führen wird, die wiederum über Konflikte verschiedenster Art zu Kriegen und letztlich in den Untergang führt. Das ist auch der Grund, warum trotz des allgegenwärtigen Rechtsrucks der Gesellschaft und dem Erstarken populistischer rechter Parteien in ganz Europa rechte Politik niemals ein gangbarer Weg für die Zukunft sein kann. Die Lehren des Nationalsozialismus von 1933 bis 1945 sollten der Menschheit doch wohl ein für alle Mal gezeigt haben, wo dieser Weg hinführt.
Ebenso sollte uns die Zeit des Kapitalismus seit 1945 gezeigt haben, dass dieser ebenso wenig funktioniert und durch den stets immanenten Faschismus zu ähnlichen Ergebnissen führt. Was die menschliche Gemeinschaft hingegen braucht, ist ein neues Verständnis ihres Verhältnisses zum Planeten Erde als ihrer Lebensgrundlage und eine neue Definition einer erstrebenswerten menschlichen Gesellschaft. Für ersteres müssen dringend Gesetze auf den Weg gebracht werden, die den Ressourcenverbrauch bremsen und regeln. Der Ökozid muss als Verbrechen gegen die Menschheit und den Frieden anerkannt werden.
Wir müssen lernen, mit natürlichen Ressourcen nach dem Prinzip der Vorsorge umzugehen – wie es im Übrigen bereits in der Erdcharta der Vereinten Nationen und auch im Gründungsvertrag der Europäischen Gemeinschaft definiert ist —, anstatt sie als geldwertes Verbrauchsmaterial zu betrachten. Konzerne und Unternehmen müssen effektiv daran gehindert werden, Profit aus Naturzerstörung zu schlagen und/oder andere Länder auszubeuten.
Gleichzeitig muss der nicht-gewinnorientierte, kooperative Wirtschaftssektor gefördert werden. Die Anthropologin Susan Paulson und der Ökonom Giorgos Kallis haben tiefgreifende Arbeiten zu diesen und weiteren Aspekten erstellt. Die Wirtschaft muss sich weg von einer Wachstumsorientierung, die sämtliche lebenswichtigen Ressourcen des Planeten zerstört, hin zu einer bedarfsorientierten Wirtschaft entwickeln. Die Allgemeingüter des Planeten wie die Atmosphäre, die Weltmeere, die Polarregionen, das Weltall, aber auch das Internet müssen ebenso wie die Sozialgüter Gesundheitsversorgung, Bildung, Wohnraum und Mobilität als Werte an sich anerkannt und effektiv geschützt werden.
Wir müssen lernen zu erkennen, wo Wachstum überhaupt nötig ist und wie ein System ohne Wachstum funktioniert. Das Bruttoinlandsprodukt darf nicht länger als Indikator des Fortschritts herangezogen werden, sondern stattdessen das Wohlergehen der Menschen, das Maß an Schonung natürlicher Ressourcen, die Chancengleichheit und ein angemessenes Auskommen der Maßstab sein. Das bedingungslose Grundeinkommen muss her, genau so aber auch ein Limit für den Gesamtkonsum und ein begrenztes Höchsteinkommen, das die Bildung von Kapital in Privathand verhindert, beides verbunden mit einer gerechten Besteuerung. Gleichsam muss das Recht auf Eigentum und das Erbrecht grundsätzlich neu definiert werden. Nur so sind Konzerne und seit Generationen existierende private Großunternehmen zu zerschlagen und deren Entstehung zukünftig zu verhindern.
Zeitgleich zu diesen Veränderungen wirtschaftlich-politischer Art braucht es ebenso tiefgreifende zivilgesellschaftliche Veränderungen, allen voran eine wesentlich direktere Form der Demokratie, zusammen mit einem deutlich höheren Maß politischer Bildung aller Bevölkerungsschichten. Demokratie muss von uns allen gelebt werden, anstatt sie lobbymanipulierten und machthungrigen Berufspolitikern zu überlassen. Möglichkeiten, seiner Stimme dazu Gehör zu verschaffen, gibt es genug. Jede Form von Einzel- und Massenprotesten, wie sie Organisationen wie „Fridays for Future“, „Ende Gelände“ oder „ProAsyl“ gerade vormachen, sind hilfreich und müssen noch deutlich verstärkt werden.
Zusammenarbeit in sozialer, wirtschaftlicher und politischer Form stärkt die Stimme Einzelner. Interventionen gegen Regierungen und Parteien, aber auch gegen die Industrie, einzelne Institutionen und Unternehmen mit dem Ziel, die bestehenden Verhältnisse möglichst effektiv zu stören, schaffen wichtige mediale Aufmerksamkeit, führen zu öffentlichen Diskussionen und letztlich zu neuen Entscheidungen. Dazu braucht es Zivilcourage.
Plädoyer für Eigenverantwortung
Ein Hauptproblem dabei ist meines Erachtens der gerade in deutscher Mentalität häufig anzutreffende Hang zum zivilen Gehorsam und die große Hemmung, sich gegen die bestehende Ordnung aufzulehnen. Aber wir leben in Zeiten einer zerstörerischen und daher falschen Ordnung. Sie muss gestört werden, weil sonst Menschen sterben und weil diese Ordnung ganz sicher nicht freiwillig damit aufhören wird. Derzeit hält noch eine Menge Menschen Veränderungen solcher Art zwar grundsätzlich für gut und richtig, aber auch für völlig unrealistisch.
Mit dieser typischen „Das-wird-sich-niemals- ändern“ und „Menschen-sind-halt-so“ Argumentation macht man es sich aber zu einfach. Zumal man dahinter seine Ängste vor und gegebenenfalls auch sein Desinteresse an einer solchen Veränderung wunderbar verstecken und seine eigene Verantwortung dafür an ein Konstrukt wie „die Gesellschaft“ abgeben kann. Angesichts aller Brisanz der Lage geht es immer noch sehr vielen Menschen hier in Europa gut genug, sodass sie es nicht für nötig halten, sich wirklich effektiv gegen das bestehende System aufzulehnen. Es geht aber um jeden Einzelnen: Wenn man nicht bereit ist, das System zu ändern, werden sich eben auch die Symptome dieses Systems nicht ändern.
Glücklicherweise erhöht sich aber die Menge der Menschen, die das System ändern wollen, stetig und rapide. Die derzeitige Corona-Pandemie ist zweifellos ein wichtiges Thema, zu deren Hintergründen bereits Vieles geschrieben und gesagt wurde. Bei aller Vielschichtigkeit des Themas empfinde ich persönlich es vor allem als zutiefst beschämend, zu sehen, wie sehr der deutsche Staat massivste Maßnahmen ergreift und die Bevölkerung selbst plötzlich bereit ist, die damit einhergehenden Unannehmlichkeiten wohlwollend in Kauf zu nehmen:
Hunderte Milliarden schwere Hilfspakete für die Wirtschaft, kurzfristige Gesetzesänderungen, Einsatz der Bundeswehr im Inneren, Verstaatlichung von Unternehmen, weltweite Rückholungen von deutschen Staatsbürgern aus dem Ausland – plötzlich alles kein Problem mehr.
Klotzen statt kleckern heißt die Devise, jetzt, wo es um die Gesundheit des eigenen Volkes geht. Weiße Christen mit deutschem Pass. Wenn es aber darum geht, mit einem Bruchteil der für die Corona-Krise problemlos einsetzbaren Mittel und dem gleichen Maß an Humanität und Nächstenliebe an den europäischen Außengrenzen flüchtenden und Hilfe suchenden Menschen wenigstens das bloße Überleben zu ermöglichen, dann gibt es plötzlich tausend Gründe, warum das ganz und gar unmöglich und überhaupt völlig undenkbar ist. Dabei ist die einzig ehrliche Begründung, dass diese Menschen dafür leider die falsche Hautfarbe, den falschen Pass, die falsche Religion haben. Und das ist nichts als Faschismus. Und in einem solchen Land und einem solchen Europa will ich nicht leben.