Das leblose Land

Ein Fotograf dokumentiert leergefegte Innenstädte, verschlossene Türen und den Verbotsschilderwald in Lockdownzeiten.

Können wir etwas tun? Macht unser Verhalten in historisch bedeutsamen Zeiten einen Unterschied? Viele von uns stellen sich in diesen Tagen solche Fragen — und schwanken zwischen Mut und Resignation. Am destruktivsten ist gewiss die Haltung „Ich kann ja ohnehin nichts bewirken“, die leicht zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden kann. Die beispiellose Demontage all dessen, was unser Leben lebenswert gemacht hat, verlangt nach einer Antwort. Am besten ist wohl, wenn jeder tut, was er am besten kann — und wenn wir es dann der Zeit überlassen, zu entscheiden, wie wichtig es war. Bei unserem Autor besteht die Begabung vor allem darin, den rapiden Wandel hin zum Schlechteren in Fotos sichtbar zu machen.

Ein historischer Ort

Ich lebe in einem der historischsten Orte dieser Welt, einer kleinen Stadt, die vor circa 500 Jahren Weltgeschichte schrieb: Wittenberg. Hier fand eins der schicksalsvollsten Ereignisse statt, die die Menschheit je erlebte. Durch den Willen, die Überzeugung und die Leidenschaft eines einzigen Mannes wurde Geschichte neu geschrieben, denn Martin Luther schlug hier seine Thesen an die Kirchentür und läutete somit ein neues Zeitalter ein. Immer wieder muss ich mir vor Augen führen, welch revolutionäre Tat dies war und wie viel ein Mensch bewirken kann, um den Lauf der Geschichte zu beeinflussen.

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Ambivalenz

Häufig frage ich mich: In wieweit haben wir als Individuen tatsächlich die Macht, etwas zu bewirken oder zu verändern? Fühlen wir uns nicht oft machtlos, den Tatsachen ausgesetzt und nehmen Ereignisse stillschweigend hin, obwohl wir dabei ein inneres Unbehagen fühlen, ohne es detailliert beschreiben oder einordnen zu können? Wir können ja doch nichts tun, meinen wir, und versinken in Lethargie.

Mir geht es nicht anders. Auch ich bin ein ambivalenter Mensch. Auch ich bin nicht immer mutig, obwohl ich es sein müsste, reagiere zeitweise unangemessen oder gehe negativen Aspekten in mir nach. Mittlerweile habe ich mich mit meinen Widersprüchen arrangiert, ich nehme sie an und versuche, mein Verhalten zu reflektieren. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass wohl jeder Mensch solche inneren Zerwürfnisse in sich trägt und häufig nicht weiß, wie er damit umgehen soll. Meine Erkenntnis ist, nicht dagegen anzukämpfen, sondern sie nüchtern zu betrachten und anzunehmen. Wir sind Menschen, wir sind nicht perfekt.

Teile und herrsche

Schon immer gab es Menschen, die sich dessen bewusst waren und sich diese Ambivalenzen zunutze machten, um Visionen zu realisieren, die wir uns nicht im Entferntesten vorstellen können. Auch jetzt wird wieder bewusst und in ganz großem Stil Zwietracht gesät. Egal aus welcher Perspektive man es betrachtet, die Menschen werden in Angst und Panik versetzt und verharren in der Starre. Die einen sehen derzeit keine Gefahr und vertrauen im guten Glauben der Obrigkeit, die anderen lassen alle Einschränkungen widerspruchslos über sich ergehen, und wieder andere möchten aktiv dagegen vorgehen, ohne genau zu wissen, was sie gegen diese Ohnmacht, die sie beschleicht, tun sollen. Doch genau diese Zustände werden bewusst herbeigeführt, wie so oft in der Geschichte.

Heutzutage glauben wir, frei entscheiden zu können, fernab jeglicher Beeinflussung, doch tun wir das wirklich?

Diese geistig indoktrinierten Barrieren sind es, die ich überwinden möchte, dieses seit Ewigkeiten bestehende, über uns schwebende Konstrukt, das uns Menschen übergestülpt wird und uns zu den unfassbarsten Dingen verleitet. So viele spielen das perfide Spiel mit, separieren sich, lassen sich mental vergiften, hassen und verachten einander, lassen sich gegeneinander aufhetzen, bis ins Mark spalten und sogar in Kriege schicken.

Werfen wir einen Blick auf unsere Gesprächskultur: Wir vertreten unsere oft unreflektierten Meinungen, Ansichten und Weltbilder mit rigider Vehemenz und stehen am Ende erneut vor einem geschichtlichen Scherbenhaufen. Die Profiteure dieser sich wiederholenden Ereignisse sind sich dessen wohl bewusst. Die Geschichte wiederholt sich somit immer und immer wieder. Warum lassen wir das zu? Warum reagieren wir meistens genau so, wie es von uns erwartet wird, ohne dass wir das überhaupt zu realisieren scheinen?

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Plädoyer

Mein Plädoyer gilt der Empathie, der Aufrichtigkeit, der Sicht aus der Vogelperspektive, des wahrhaft gegenseitigen Zuhörens und des Verständnisses, sodass wir alle irgendwann gemeinsam diejenigen erkennen und vor ein gigantisches Scherbengericht stellen, die uns Menschen all das schon so lange antun. Wir sollten aufhören, auf ihrer Klaviatur zu spielen, uns die Unglaublichkeiten bewusst machen und realisieren, dass wir uns schon unser ganzes Leben lang auf ihrer Bühne befinden. Erst wenn wir uns das vor Augen führen, sind wir meines Erachtens in der Lage, neue Kraft zu schöpfen und wirklich etwas zu verändern.

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Mein Anspruch

Ich möchte diese festgefahrenen Weltbilder überwinden. Ein Weg, den ich gehen möchte, ist der Weg der Kunst. Sie ermöglicht mir auszudrücken, was ich nicht in Worte fassen kann. Sie ist ein Sprachrohr, ein Ausweg, die Kanalisierung einer Empfindung. Aus diesem Grunde machte ich mich auf den Weg in die Innenstadt Wittenbergs und hielt die Leere fest, verzweifelte Hoffnungen, vereinzelten Widerstand und die unabdingbare Konformität.

Ich versuchte, der ausgestorbenen Innenstadt eine Bühne zu bieten, sie einzufangen und damit zum Ausdruck zu bringen, welches Ausmaß dieser „Kult“ bereits angenommen hat.

Uns allen muss bewusst werden, dass nur wir es sind, die das Rad der Geschichte erneut drehen können, dass wir diesen Fantasten entgegentreten müssen, mit allem, was wir haben. Die Kunst ist ein wichtiges Element in meinen Augen, und ich wäre glücklich, wenn ich einen Teil zur positiven Entwicklung beisteuern kann.


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Fotos im und unter dem Artikel: earlyhaver.com.


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Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien unter dem Titel „Zeiten wie diese“ zuerst auf earlyhaver.com.