Das Leben ist Musik
Endlich findet die Literatur den Menschen wieder.
Lutz Tröbitz ist eine neue Stimme in Manovas Literatursalon. Eine Stimme, die daran erinnert, dass es bei allen gegenwärtigen ideologischen Verrenkungen bis hin zu Kapitalismus-Lobgesängen auch innerhalb dissidenter Kreise den realen Menschen in sozial prekären Verhältnissen mit echten Problemen weiterhin gibt. Seine Erzählung „Das Leben ist Musik“ berichtet auf paradox aufheiternde und wohltuend analoge Art und Weise aus dem Leben solcher Menschen. Sinnlich, kunstvoll, witzig.
Es war einmal ein älterer Wachmann. Der hatte schon viele brenzlige Situationen erlebt und in zahllosen Nächten Kontrollgänge gemacht. Immer war er gewissenhaft und treu gewesen. Zuletzt aber hatte er großes Pech gehabt. Er war auf Streife und eine stadtbekannte Bande jugendlicher Hooligans kam ihm entgegen. Schon mehrfach hatte er einige davon in der Vergangenheit an Straftaten gehindert. Dieses Mal aber sollte es anders kommen.
Da war auch ein neuer Anführer dabei, dachte er noch. Ehe er sich versehen hatte, fand er sich in der Pfütze auf dem schlammigen Parkweg wieder. Die Lunge tat furchtbar weh, das Herz schlug bis zum Halse. Er dachte, seine Peiniger könnten den Herzschlag hören, so laut pochte es. Die waren aber damit beschäftigt, ihm mit den Stiefelspitzen ins Gesicht und in den Bauch zu treten. Urplötzlich war alles vorbei. Er war ohnmächtig geworden. Als er wieder zu sich kam, sah er ein faltiges Gesicht mit schlohweißen langen Haaren über sich gebeugt. Dieser Mann half ihm, hatte seinen eigenen Pullover um sein rechtes Bein gebunden und damit das Ausspritzen des Blutes aus einer klaffenden Wunde verhindert.
Mühsam schleppte ihn der Alte in die leerstehende Gartenkantine. Dort versorgte er ihn, gab ihm zu trinken. Dann schlief er erschöpft ein, sein Retter auch. Als er aufwachte, machte sich der Alte mit einer weiteren Person in der Küche der Kantine zu schaffen. Sie kamen ins Reden und stellten sich nun alle gegenseitig mit ihren Lebensläufen vor. Die beiden waren auch nicht auf Rosen gebettet.
Was sie aber mit ihm gemein hatten, war die Liebe zur Musik. Der eine spielte auf allem, was Röhren hatte, Trompete und war vor dem Ausbruch des großen Fiaskos Maschinenführer in einem deutschen Automobilkonzern gewesen. Als der Konzern seine Produktion massiv runterfuhr, wurden Leiharbeiter, wie er, zuerst entlassen. Dann folgte der Suff, die Frau hatte ihn verlassen, und nun hauste er hier illegal in der Gartenkantine. Der andere war nicht so gut im Gitarre spielen, aber ausdauernd. Jahrzehntelang im Tagebau als Elektriker war er gewesen. Dann wurde der Tagebau vor der Zeit zugemacht, weil Braunkohle nicht mehr gewollt war. Auch er war arbeitslos geworden, hatte seine Abfindung genommen und in alternativer Energie angelegt. Der Windradbauer war aber pleitegegangen und ihm blieb nichts. So verlor er auch noch die Familie und die Wohnung und war auch in der Gartenkantine gestrandet.
Abends wurden Karten gedroschen, billiges Bier aus Büchsen getrunken und Witze erzählt. Das waren immer olle Kamellen, aber jede kannte so viele und schmückte sie aus mit dem selbst Erlebten. Hin und wieder musizierte einer; Gitarre, Kisten und Tischplatte als Schlagzeug und selbstgebaute Blasinstrumente mit sonderbaren Tönen. Aber der Autobauer konnte Melodien, ja Harmonien damit zaubern. Er schaffte es, die anderen in seinen Bann zu ziehen, und so begannen sie manchmal mit einzustimmen auf ihren Instrumenten. Am Tag ging jeder seiner Wege, einer versuchte zu betteln, einer verrichtete kleine Dienste und einer verkaufte auf der Kreuzung Zeitungen und putzte bei Rot Autoscheiben.
Beim Betteln gab es Ärger mit anderen, die wenig Deutsch redeten, ihn aber von den besten Stellen vertrieben. Der Elektriker hatte selten lukrative Aufträge, oft arbeitete er und bekam dann doch keinen einzigen Heller. An der Kreuzung war es gefährlich und etliche Autofahrer prellten nach dem Scheibenwaschen die Heuer. Der Zeitungsverkauf war besser, aber er musste eine Mindestmenge täglich verklingeln. Das gelang nur selten und so war der Zusatzverdienst bald futsch. Die Tage vergingen, der Sommer kam, und dann wurde es wieder im Herbst nasskalt. Nach dem Winter kam der Sommer wieder und so fort.
Eines Tags aber bekam die Truppe Zuwachs. Sie waren nun zu viert. Das Schicksal des Neuzugangs war beinahe identisch mit dem der drei, die schon zusammen hausten. Der Neue sang bei den Musikabenden selbst erdachte Texte. Die reimten sich nicht, aber sprachen ihnen allen aus der Seele. Er sang mit zotigen Worten vom Suff, vom Schmerz und von schönen und nicht so schönen Frauen. Schimpfwörter, die kaum noch jemand kannte, waren Standard in den Liedern. Es war herzzerreißend, albern und auch gruslig und lustig. Keiner von ihnen sagte es, aber sie dachten es wohl alle vier: Mit guter Musik kann man richtig Geld machen und damit gut leben und viel ruhiger vor Winterbeginn sein.
Als sie abends so saßen und Trübsal bliesen, sagte der Autobauer, er habe einen wunderbaren Unterschlupf entdeckt. Der habe nicht nur endlich ein dichtes Dach, auch innen sei vieles gut erhalten. Sie inspizierten das Quartier, eine alte kleine Werkstatt mitten in einer Wohngegend. Die Rentner aus dem Altersheim gegenüber musterten ungeniert die Neuankömmlinge und rissen Witze über das verlumpte Aussehen. Einer von den alten Zuguckern schnappte sein Handy und rief die Polizei. Das Objekt war aber so vielversprechend, dass sie am nächsten Tage wieder dort waren. Sie begannen sich einzurichten. Alle Fenster, die intakt waren, setzen sie in einem kleinen Gebäudeteil ein. Das hatten sie als Domizil erkoren und ziemlich schnell brachten sie ihre wenige Habe hin, richteten sich ein und fühlten sich bald heimisch.
So einfach war das Glück aber nicht zu bekommen, sie bekamen Besuch: Das Ordnungsamt verwarnte sie und forderte den Auszug innerhalb einer Woche. Am gleichen Tag war das Bauamt da und sperrte das ruinöse Gebäude. Auch diese Mitarbeiter ließen ihnen genau eine Woche. Dann kam noch das Sozialamt, weil sie so verwahrlost seien, und das Umweltamt wollte die schönen Biotope in der Ruine erhalten, deshalb konnten dort keine Menschen bleiben.
Lustig schien, alle Ämter hatten den gleichen Zeitpunkt zur Räumung festgelegt. Nur zum Lachen war keinem zumute. Der saufende Elektriker hatte den Einfall, die Beamten mit Musik zu empfangen. Musik verbindet, es gibt das Sprichwort nicht für umsonst: Böse Menschen haben keine Lieder. Gesagt, getan, die nächsten Tage gingen sie nicht aus dem Haus, sie übten ihre Lieder. Die alten Leute vom Altersheim kamen und hörten begeistert zu. Sogar Beifall gab es. Das ging ihnen runter wie Öl. So hatten sie viel Mut gesammelt für den Tag, an dem es entschieden werden musste. Zur Aufmunterung hatte jeder etwas für seine Freunde mitgebracht, der Elektriker kramte aus einer Ecke Wodka hervor.
Einer brachte ein paar Pillen an. „Nehmt aber nicht zu viel davon, sonst ist gleich Feierabend“, warnte er. Der nächste hatte ein paar Joints organisiert. Nur der Sänger hatte nichts zum high werden. Aber er hatte eine Bühne aufgebaut, so richtig mit Verstärkeranlage, Mikros und einer alten Lichtorgel. „Die funktioniert“, versicherte er. Wo er sie aufgetrieben hatte, war unklar, aber allen egal. So bereiteten sie sich auf ihren Auftritt vor, es wurde schon am Vormittag Wodka getrunken, dazu Joints geraucht und Pillen eingeworfen. Es blieb aber nicht bei einzelnen, alle Packungen waren ganz schnell leer, wie auch die Flaschen.
So sahen sie heiter, wie ihre unwillkommene Gästeschar ankam: Angeführt von der Polizei erschienen das Ordnungsamt, das Bauamt, das Sozialamt, und auch das Umweltamt war dabei. Als die nahe genug heran waren, begannen die vier Musikanten ihr Konzert. Es klang nicht ganz notengetreu, aber voller Lebenslust bliesen sie, trommelten und schlugen in die Saiten. Die Verstärkeranlage verzerrte die Töne zwar, brachte aber gehörig Bums. Die Lichtorgel breitete in der Ruine ein gespenstiges Licht auf die Musiker aus, die auf den zusammengebauten Podesten aus ausgedienten Fässern und ausrangierten Möbeln standen. Der Anblick passte hervorragend zur Musik, in all dem Lärm verstand man am besten die Flüche, die den Text bildeten. Das war nichts für zarte Seelen aus trüben Dienstzimmern mit pünktlichem Feierabend. Die Obrigkeit machte auf dem Absatz kehrt, und die wenigen, die keine Angst hatten, wurden von ihren panischen Kollegen angesteckt.
So schnell sie gekommen war, noch schneller war die Abordnung der Ämter wieder weg. Jetzt kamen die Rentner aus dem Altersheim und applaudierten. War das ein Triumph. Alle hatten ein Vergnügen wie selten: Die Rentner, die sich freuten, dass es einmal im Leben der Bürokratie gezeigt worden war und es so spannende Abwechslung gab, und die vier Musiker, dass sie bleiben konnten. Ein ehemaliger Journalist, der auch im Altersheim wohnte, versprach, seine Story über den Tag sei bereits von einer Zeitung gekauft worden, er müsse nur die Bilder noch hinschicken. „Damit ist der Sieg endgültig dokumentiert”, frohlockte er. Sein Nachbar nörgelte von „Gage wird geteilt”, aber niemand hörte ihm da noch zu. Die vier Parkmusikanten, so sollte der Artikel heißen, waren erschöpft und glücklich. So einen Erfolg konnten sie nie wieder schaffen, einfach großartig.
Die Alten aus der Nachbarschaft brachten nicht nur Nachschub aus ihren Pillen- und Flaschenvorräten, sie feierten mit die ganze Nacht hindurch. Am frühen Morgen danach lagen sie alle irgendwo im Park auf den Wiesen und schliefen ihren Rausch aus. Die Rentner kurierten ihren Kater unter Aufsicht im Heim, die vier Parkmusikanten in ihrer Ruine. Sie waren jetzt en vogue, viele Menschen kamen vorbei, schauten sich um, hörten ihrer Musik zu und gaben reichlich Trinkgeld. Es war fast ein schönes Leben geworden.
Und wenn sie nicht gestorben sind, so spielen die vier noch heute in der Ruine ihre herzzerreißenden Lieder mit den obszönen Texten.