Das Land des verlorenen Lächelns
Die Maske hat uns das freundliche Gesicht geraubt und das Antlitz einer kranken Gesellschaft in unser Bewusstsein gebrannt.
Lächle und die Welt lächelt zurück. Meistens zumindest. Jedenfalls früher, als man Lächeln noch in Gesichtern sehen konnte. Diese Resonanzfähigkeit ist genetisch in uns eingeschrieben und begleitet uns unbewusst von der Wiege bis zur Bahre. Man fragt sich, warum gerade eine Regierung, die sich die Gesundheitsfürsorge auf die Fahnen geschrieben hat, den lachenden Mund als Ausdruck von Freundlichkeit und Verbundenheit quasi abgeschafft hat. Ist Lächeln etwa nicht gesundheitsrelevant? Eine gelotologische Betrachtung.
Vielleicht erinnern Sie sich noch: Damals traf man unverhofft an der Käsetheke eine liebe Nachbarin, rief fröhlich HALLO! und lächelte sich an, bevor man die aktuelle Lage im sozialen Nahbereich miteinander sondierte. Oder: Der Lieblingskollege, der wirklich der Bruder von George Clooney sein könnte, lobte im Meeting auf ebenso charmante wie fundierte Weise Ihren letzten Beitrag, Sie strahlten ihn an, und ein leichtes Lächeln umspielte seinen perfekt geformten Mund, als er Ihnen zublinzelte.
Ich erinnere mich, als sei es gestern und nicht vor 14 Jahren gewesen, als ich meinen charismatisch-markanten Mann das erste Mal sah, selbstzufrieden und übermütig grinsend von Ohr zu Ohr, beide Backen voller Gummibärchen. Oder: Mein Geliebter und ich saßen in der Bahn, ich machte einen politisch unkorrekten sexistischen Scherz, und lachend warf er seinen klugen Kopf in den Nacken, zeigte seine ebenmäßigen schönen Zähne und gab mir dann einen Kuss, der nicht das Geringste zu wünschen übrigließ. Oder haben Sie damals einmal mit einem fremden Baby im Kinderwagen geflirtet, versucht, ihm ein Lächeln abzugewinnen mit Ihrem Lächeln oder albernen Faxen und Grimassen?
Schöne Erinnerungen. Welche Erinnerungen haben Sie an Momente des Lächelns oder Lachens? In Ihrem Album gesammelter Erinnerungen — wie viele kamen in den letzten zwei Jahren hinzu? Oder was vermuten Sie, könnte Ihre Erinnerungen dominieren, wenn Sie am Lebensende auf diese Zeitspanne und die einprägsamen Begegnungen zurückschauen?
Aber ich vernehme Ihre Rufe nach DER Wissenschaft — lassen Sie uns endlich zu den Fakten kommen und Experten befragen!
Allen voraus natürlich die Virologie. „Regelmäßiges Lachen senkt Inzidenzen, Hospitalisierung und den R-Wert“, würde ich mit meiner Studie beweisen, wenn Sie sie bei mir in Auftrag gäben! Aber im Ernst: Gut erforscht ist die Psychoneuroimmunologie, die sich einig ist, dass T-Lymphozyten und Gamma-Interferon durch Lachen verstärkt gebildet werden und in Folge das Immunsystem bei der Krankheitsbekämpfung erheblich effektiver seinen Job erledigt. Peer-reviewte Studien zeigen zusätzlich vermehrte „Glückshormone“ (Endorphine), verringerte „Stresshormone“ (Adrenalin, Noradrenalin, Cortisol), verbesserte Entzündungswerte (C-reaktives Protein), Blutdrucksenkung.
Die Psychiatrie bietet hinreichend Studien, denen zufolge Depressionen, Ängste und Schmerzempfinden sich verringern, wenn Patienten fachmännisch zum Lachen gebracht werden.
Bei Aggression kann es deeskalierend wirken, entwaffnen und befrieden. Und es kommt noch besser: Sie können sich mit Lachen infizieren, die Übertragungsrate liegt sogar fast bei 100 Prozent, sofern Sie Ihre Spiegelneuronen im Oberstübchen noch alle in Reih‘ und Glied haben. Sie brauchen einen Witz gar nicht selber zu lesen oder zu verstehen, Sie stecken sich einfach am Lachen eines anderen an, auch wenn’s ein unsäglich miserabler Häschen-Witz war. Für andere Emotionen gilt selbiges, die Übertragung ist dabei umso stärker, je näher man sich gefühlsmäßig steht.
Man spricht hier von Gefühlsansteckung. Auch diese Ansteckung hat evolutionär ihren Sinn und Zweck: Wir üben Empathie und festigen Bindungen, die soziale Interaktion, das Mitfühlen und Mitdenken läuft über diesen unbewussten Prozess meist wie geschmiert. Was geschieht, wenn man diese Interaktion komplett unterbindet, zeigt das Still-Face-Experiment: Eine Mutter ist instruiert, mimisch nicht mehr auf ihr Baby zu reagieren. Es ist herzzerreißend, wie das Kind agiert, um den Kontakt wiederherzustellen, und das Ganze mündet schließlich in purer Verzweiflung.
Aber zurück zur Käsetheke und der Nachbarin. Obwohl uns neulich zwei Drittel der präferierten optischen Informationen beim Treffen fehlten, erkannten wir uns — der Experte spricht von „Gesichtserkennung“ —, wobei mir zugegebenermaßen ihr einzigartiger moosgrüner Waldfeenfilzmantel ein wenig dabei half. Unser beider Gehirne hätten in der alten Normalität qua Werkseinstellungen zuerst die drei Elemente Augen, Nase, Mund einzeln analysiert, dann konfiguriert und einer vertrauten Person zugeordnet, welche der Reaktion „freudig lächelnd begrüßen“ für wert befunden worden wäre. Ein Säugetier-Gehirn macht das seit geraumer Zeit so und besitzt glücklicherweise ergänzend meist genügend Reserven, um Informationslücken selbstständig zu stopfen, sogar mit grünem Filz, solange wir psychiatrisch mehrheitszugehörig sind. Fürs Grobe reicht‘s also. Aber die Feinheiten?
Beispielsweise dass wir einfach spontan gerne in Gesichter sehen — es sei denn es bestehen stärkere andere Fixierungen auf symmetrisch doppeltgerundetes Fettgewebe. Schon Ungeborene wenden ihren Kopf zu, wenn ein einfach schematisiertes vollständiges (!) Gesicht auf Mutters Bauch projiziert wird. Jeder von uns kennt die Pareidolie: die Neigung, in jedem Quatsch ein Gesicht erkennen zu können, von der Wolke bis zu den Löchern im Käse. Auch der Siegeszug der Smileys liegt hierin begründet :-)
Und stellen Sie sich nur die Neuverfilmung von „Vom Winde verweht“ vor, mit konsequent Schutzmasken tragenden Schauspielern. Wir sind programmiert, Gesichter zu suchen, weil wir als soziale Wesen Kommunikation und Zusammenleben darüber regulieren.
Was wird es in uns und in unserem Zusammenleben bewirken, wenn wir hier amputiert werden? Wie gesund lässt es sich mit einer Amputation leben? Welche Lernerfahrungen im Aufbau emotionaler Intelligenz und Sozialkompetenz werden unseren Kindern fehlen?
Warum Depressionen und Suizide zunehmen, sollte dringend untersucht werden — es könnte einen Kausalzusammenhang geben. Man weiß, dass Depressionen sich temporär leicht verbessern, wenn man mittels Botox das Stirnrunzeln verhindert — was geschieht psychisch, wenn man das sichtbare Lächeln und unsere wechselseitigen Heiterkeitsinfektionen massiv verringert?
Ich wage die Behauptung, dass weder Digitalisierung, virtuelle Surrogate noch die Pharmazie die im Unbewussten entstandenen Veränderungen ausgleichen oder den Phantomschmerz des Verlustes lindern können. Solange Lachen noch erlaubt ist, sollten wir uns damit anstecken. 15x täglich empfehlen Experten für Erwachsene, für Kinder mindestens 400x, Boostern durch gemeinsames Kichern, gelegentliches Grinsen und Auffrischung mit Lächeln stärken Gesundheit und Abwehrkräfte nachhaltig!
Betrachten Sie dies bitte als einen dringenden gesundheitsrelevanten Aufruf eines Psychologen: Schauen Sie in echte splitterfasernackte lachende Gesichter, so oft Sie es können, und schaffen Sie sich den Raum dafür!
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