Das Haus des Nichtwissens

Vielleicht bedeuten die US-Wahlen etwas anderes als das, was die meisten Menschen damit verbinden.

„Ich weiß, dass ich nicht weiß“ ist ein bekannter Ausspruch, der Sokrates zugeschrieben wird. In der Alltagskommunikation gilt meist das Gegenteil: Ich weiß eigentlich nichts, habe aber zu allem eine Meinung. Gerade für Journalisten und Schriftsteller ist die Versuchung groß, ihren Mangel an Wissen durch selbstsicher wirkende Formulierungskunst zu überbrücken. Es ist Charles Eisenstein deshalb hoch anzurechnen, dass er offen zugibt, nicht zu wissen, was in der nahenden Amtszeit Donald Trumps geschehen wird. Dabei ist Eisenstein durch seine engen Beziehungen zum designierten Gesundheitsminister Robert F. Kennedy jr. näher dran an der Macht als die meisten anderen. Dennoch: Die jetzige Situation in den USA birgt so viele Unwägbarkeiten, dass sich der Universalphilosoph nicht traut, zu sagen: „Es wird gut“ oder „Es wird schlecht“. Es empfiehlt sich deshalb, dem Neuen, das auf uns zukommt, in einer Haltung der Offenheit und Neugier zu begegnen. Wir müssen ohnehin mit der Ungewissheit leben, da ist es besser, sich diese einzugestehen. Auf Deutsch übersetztes Transkript eines Videovortrags.

Willkommen zur heutigen Folge des „Fortschrittsberichts zur schöneren Welt“. Heute ist der erste Tag einer neuen Ära — oder vielleicht auch nicht.

Eines ist sicher: Im Zuge der US-Wahlen gibt es eine ziemlich große Bandbreite an Gefühlen und Meinungen. Ich werde zunächst ein paar Augenblicke dafür verwenden, uns dieser Wahrheit bewusst zu werden: dass so viele Menschen auf so viele unterschiedliche Arten reagieren.

Manche Menschen reagieren mit Verzweiflung, manche mit Hoffnung, manche mit Jubel, manche mit Wut, viele mit Angst. Eines ist sicher: Die Wahl von Donald Trump wird viele Veränderungen ankurbeln und dem Bild unseres kollektiven Menschseins eine Menge Ungewissheit hinzufügen.

Sowohl positive wie auch negative Möglichkeiten wurden durch die Wahl verstärkt. Ich bin sehr glücklich darüber, dass die Wahl nicht knapp ausgegangen ist. Wenn es sehr, sehr knapp gewesen wäre, dann wären wir jetzt vielleicht wirklich in turbulenten Zeiten. Aber so, wie es aussieht, haben wir noch ein bisschen mehr Zeit — mehr Zeit, uns auf turbulente Zeiten vorzubereiten.

Ich sehe es so, dass das Feld der Nachsicht, das Feld der Zurückhaltung und das Feld des Friedens für Stabilität sorgen, für eine Insel der Stabilität, und uns auf Kurs halten, um noch ein bisschen Vorbereitungszeit zu haben.

Aber um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, was gerade passiert. Ich könnte ein Narrativ weben, dass dies oder jenes gerade passiert, so wie es viele Menschen tun. Jedes dieser Narrative drückt Gefühle aus, drückt Sorgen, Bestürzung, Empörung, Trauer, Verzweiflung, Freude oder Hoffnungen aus, drückt ganze Bewusstseinszustände aus. Du hast das vielleicht schon erlebt, dass Weltuntergangsszenarien aus einem bestimmten Bewusstseinszustand heraus sehr überzeugend wirken.

Und dann passiert vielleicht etwas Positives in deinem Leben. Vielleicht kommst du in Kontakt mit tiefer Liebe oder tiefer Vergebung, und plötzlich wirken diese Weltuntergangsszenarien einfach nicht mehr so überzeugend.

Also, ja, viele Menschen weben im Internet verschiedene Narrative, manche sind Weltuntergangsnarrative, manche sind Erlösungsnarrative, es gibt alle möglichen Narrative, die im Grunde etwas darüber sagen, was hier gerade vonstattengeht.

Wir werden Zeugen einer faschistischen Machtübernahme durch Rassisten der „weißen Vorherrschaft“. Das wäre ein solches Narrativ. Wir stehen am Beginn der Bereinigung des „tiefen Staates“ und der Wiederherstellung der amerikanischen Republik. Das wäre ein anderes Narrativ. Es gibt viele Narrative, die eine Antwort auf die Frage geben, was gerade abgeht und was real ist. Sie geben Ereignissen, die ziemlich verwirrend sind, Sinn und Bedeutung.

Ich glaube, dass ich euch hier nicht mein Narrativ anbieten mag. Ich mag euch nicht meine eigenen Sinn- und Bedeutungsvorstellungen anbieten und euch sagen, dass ihr das glauben sollt. Das ist im Moment nicht dran. Für mich ist es gerade an der Zeit, im Nichtwissen zu sein. Es ist an der Zeit, mit meinen Narrativen frei umzugehen, sie sogar loszulassen, damit etwas Neues — ein neues Verständnis — die Möglichkeit hat, aufzutauchen. Es ist an der Zeit, meine Voreingenommenheit bezüglich verschiedener Figuren auf der globalen Bühne abzulegen, meine Voreingenommenheit über die amerikanische Öffentlichkeit und über die Richtung der weltweiten Entwicklung.

Nicht um sie dauerhaft abzulegen, sondern um in dieser Übergangszeit ein bisschen Raum für neue Informationen zu schaffen — Informationen, die dem, was ich zu wissen geglaubt hatte, vielleicht widersprechen. Informationen, die vielleicht dem Narrativ widersprechen, das ich schon fast über euch ausgegossen hätte, weil ich in mir Unsicherheit spüre.

Diese Unsicherheit schmeckt im Moment eigentlich eher nach Neugierde, nach Neugierde und Hoffnung und Möglichkeiten und nicht nach Angst oder Furcht. Aber es ist immer noch ein Nichtwissen. Und es kommt vielleicht der Punkt … Und ich weiß nicht, vielleicht sind manche an demselben Punkt wie ich und haben einfach kein klares Gefühl, was hier gerade passiert.

Ich kann dir versichern, was auch immer deine politischen Überzeugungen sind, wenn du eine Woche im Informations-Ökosystem der anderen Seite verbringen würdest, würdest du alles ganz anders sehen. Wenn du dir erlauben würdest, nicht nur ihre Werbung durchzulesen, sondern dich wirklich in ihr Gedankengut zu vertiefen, wenn du sagen würdest: „Ich probiere diese Weltsicht einmal aus! Ich will mal sehen, wie es sich anfühlt, in diesem Informations-Ökosystem zu leben. Ich werde diese Glaubenssätze ausprobieren!“ Du würdest zum Schluss kommen, dass die Ansichten, die du jetzt gerade vertrittst, lächerlich sind. Das ist immer wieder mal eine gute Übung.

Eine andere Sache, die du bemerken könntest, ist, dass, obwohl die oberflächlichen Meinungen sich diametral gegenüberstehen, die darunterliegende Energie vielleicht dieselbe ist. Vor der Wahl gab es jene, die den Untergang befürchtet haben, falls Kamala Harris die Wahl gewänne, und es gab andere, die den Untergang befürchtet haben, falls Donald Trump die Wahl gewänne. Oberflächlich gesehen sagen sie gegensätzliche Dinge. Darunter liegt allerdings dieselbe Mentalität, die sagt: „Der Untergang ist nahe. Der Untergang könnte kommen. Wir stehen vor einer existenziellen Wahl. Diese Wahl wird den Lauf der Geschichte bestimmen, entweder gen Himmel oder gen Hölle. Alles läuft auf diesen Augenblick hinaus.“ Diese Energie war auf beiden Seiten verbreitet. Und auch jetzt zehren viele der Narrative, die erklären, was gerade los ist, von genau dieser Energie und derselben scheinbaren Gewissheit.

Aber sind wir wirklich so sicher? Manche von uns sind es vielleicht. Vielleicht teilen aber manche mein Gefühl der Unsicherheit — jenes Gefühl der Unsicherheit, das mich zögern lässt, zu sagen, was hier gerade passiert.

Ich werde allerdings eine Vorhersage machen, nämlich dass, egal wie viel oder wenig Unsicherheit du auch gerade spüren magst, die Unsicherheit mehr werden wird.

Ich glaube, dass uns Ereignisse bevorstehen, Enthüllungen und Wendungen in unserer menschlichen Reise, die all unseren Erwartungen trotzen werden. Wir werden an Informationen gelangen, die nicht zu dem passen, was wir bisher für wirklich gehalten, was wir bisher über die Welt gewusst haben. Früher oder später werden wir immer nachdrücklicher aufgefordert werden, das abzulegen, was wir zu wissen glaubten und welche Geschichten wir uns erzählten. Diese Geschichten werden überholt sein. Viele von uns werden kognitive Dissonanz erleben, wenn wir neue Informationen finden, die sehr schwer in das hineinpassen, was wir zu wissen glaubten. Es wird immer schwieriger werden, diese Informationen auszublenden und unseren Glauben beizubehalten. Und es geht nicht nur darum, was wir glauben, denn unsere Glaubenssätze sind mit dem, wer wir sind, untrennbar verbunden.

Glaubenssätze sind nicht bloß Gedankenwolken, die durch das Gehirn ziehen. Sie sind Ausdruck unserer Physiologie. Sie sind Ausdruck unseres Körpers. Sie sind Ausdruck unseres Seinszustandes. Bestimmte Gedanken und Glaubenssätze ziehen bestimmte emotionale Zustände, körperliche Zustände und spirituelle Zustände an.

Wenn ich hier also von kognitiver Dissonanz spreche und von neuen Informationen, die den Informationen widersprechen, denen wir bisher geglaubt haben, dann spreche ich nicht nur davon, unsere Ansichten und Meinungen zu ändern. Ich spreche von einer totalen Transformation.

Ich mache also eigentlich eine ziemlich große Vorhersage — und auf eine Art ist das auch ein Narrativ oder ein Meta-Narrativ —, nämlich dass uns in den nächsten paar Jahren große Veränderungen bevorstehen. Und das Wesen dieser Veränderungen wird keinem der aktuellen Narrative irgendeiner Seite auch nur annähernd ähneln. Es wird kein christlich-nationalistisches Regime geben, das politische Gegner einsperren und die Abtreibung verbieten wird und so weiter. Das wäre eines dieser Narrative. Oder auf der anderen Seite, dass mit der Korruption aufgeräumt wird, die Meinungsfreiheit und die Verfassungsrechte wiederhergestellt werden und die amerikanische Demokratie, die Amerika wieder aufblühen lassen und großartig machen wird, angelehnt an irgendeine Wahrnehmung von früherer Großartigkeit, um etwas wiederherzustellen, das wir in der Vergangenheit waren.

Nein, keins von beidem wird vermutlich eintreten.

Das Drama, das sich in den nächsten paar Jahren abspielen wird, ist jenseits dieser Narrative. Es spielt sich nicht einmal in dieser Wahrnehmungswelt ab. Das ist meine Vorhersage. Im Grunde sage ich: Sei vorbereitet. Bereite dich auf das vor, auf das du dich nicht vorbereiten kannst.

Und wie kann man sich darauf vorbereiten? Wie bereitet man sich auf das Unvorstellbare vor? Indem man seine Konzepte ablegt. Indem man das ablegt, was man sich bereits vorstellen kann, oder, wie ich zu Beginn sagte, indem man freier damit umgeht.

Frei damit umgehen und andere Narrative ausprobieren und mal schauen, wer du in einem fremden Haus bist. Zu wem wirst du? Und zu wem wirst du, wenn du in keinem Haus bist, wenn du die Straße hinunterläufst und in die verschiedenen Häuser der anderen guckst, siehst, wie sie leben, siehst, wie sie denken, aber nirgendwo hineingehst?

Und vielleicht gehst du doch hinein und siehst das Haus von innen, aber du bleibst nicht. Und du erinnerst dich, dass du hier nur Gast bist. Diese Art von Vorbereitung meine ich, wenn du verstehst, was ich meine.

Aus meiner Perspektive auf diesem Boot hier bekomme ich bestimmte Vorahnungen davon, was uns vielleicht bevorsteht.

Ich bin mit einigen führenden Denkern verschiedener Bereiche tief abgetaucht, Denker im Bereich künstlicher Intelligenz, und, na ja, mit Aktivisten, Arbeitern, Unternehmerinnen, Leuten, die im Klimaschutz arbeiten, in der Wiederherstellung von Ökosystemen, in der Heilung der Ozeane — und viele indigene Menschen sind auch auf diesem Schiff.

Da gibt es also viele Berichte von verschiedenen Leuten, die einen Blick in die Zukunft werfen, und ich habe sie zusammengeführt und integriert. Das nährt meine Gewissheit, dass die öffentlich bekannten Geschichten, besonders die aus dem politischen Bereich, einfach sehr, sehr eingeschränkt sind. Es gibt einfach so vieles, was sie nicht in Betracht ziehen. Ich will damit die Ängste und Trauer, die viele Menschen in Bezug auf die Wahl haben, nicht schmälern oder entwerten.

Was wird zum Beispiel mit dem Budget für Umweltprojekte passieren? Welche Auswirkungen wird die Wahl auf Frauen haben? Ich glaube, manche dieser Ängste sind Projektionen, unter denen tiefere und weniger bewusste Ängste liegen und Trauer und Wut. Und manche davon sind tatsächlich ziemlich realistisch und plausibel, sie könnten wirklich passieren. Es gibt unter der neuen Regierung auf jeden Fall viel zu tun, wenn es darum geht, Wertvolles zu schützen — wie auch in der letzten Regierungszeit. Es sind einfach andere Dinge, andere blinde Flecken.

Mir sind Meinungsfreiheit, freier Informationsfluss und Freiheit von Zensur und Propaganda wichtig und wertvoll, und ich glaube, dass diese Dinge mit der neuen Regierung besser gedeihen werden. Auf der anderen Seite geht es auch darum, dass es den Ökosystemen gut geht, den Ozeanen — nun ja, eigentlich habe ich Hoffnung für den Boden. Und auch im Bereich Biodiversität gibt es wunderbare Projekte, die durch das Gesetz zur Inflationsreduzierung unter Biden ermöglicht wurden und denen jetzt sehr leicht die Finanzierung entzogen werden könnte.

Anders ausgedrückt: Es gibt sehr, sehr vieles, das wertvoll ist und das von manchen Menschen in der neuen Regierung nicht wirklich als wertvoll anerkannt wird. Ich könnte viele, viele andere Beispiele dafür geben.

Die Vor- und Nachteile beider Seiten abzuwägen, wird Menschen, die sich mit der einen oder anderen Seite identifizieren, sehr verärgern. Und das ist okay für mich. Ich will sagen können, dass jede Seite Gutes und Schlechtes bereithält.

In unserem aktuellen politischen Diskurs kann man nicht sagen, dass Trump „einigermaßen böse“ ist. Du musst entweder sagen, dass er total abscheulich ist, oder, dass er ein Held ist. Denn wenn du etwas dazwischen sagst, dann hintergehst du die Kriegsmentalität, in der beide Seiten operieren, in der die andere Seite verteufelt wird, zu einem Feind erklärt wird, und in der die Überwindung des Gegners die Definition von Erfolg ist.

Aber ich will nicht einmal sagen, dass jemand „einigermaßen böse“ ist. Wenn du jemanden als gut oder böse bezeichnest, gehst du aus der Komplexität in einen polaren Dualismus. Sogar wenn du sagst, dass jemand einigermaßen gut oder einigermaßen böse ist, bist du immer noch auf einer linearen Skala mit „gut“ an einem Ende und „böse“ am anderen, oder die Gegensätze sind „toll“ und „schrecklich“. Aber es kollabiert die Komplexität, als würde etwas Dreidimensionales, Vierdimensionales, 50-Dimensionales in etwas Eindimensionales vereinfacht werden. Wenn wir das tun, verlieren wir Verständnis, Menschlichkeit und Mitgefühl. Ich will kein solches Urteil sprechen, okay? Das wird uns nicht weiterhelfen.

Lasst uns stattdessen alle aufkommenden Emotionen anerkennen und uns gewahr werden, dass sie einen berechtigten Grund haben. Sie entstammen einer wahren Geschichte. Sie kommen nicht aus dem Nichts. Es wäre nicht richtig, zu sagen, dass manche Menschen einfach dumm und verblendet sind. Diese Emotionen — die Dinge, die du fühlst, die dich zum Weinen bringen, die dich zum Lachen bringen, die dich jubeln und trauern lassen — entstammen einer eigenen Lebenserfahrung, und sie sollten nie belächelt oder ignoriert oder verharmlost werden.

Wir müssen uns daran erinnern, dass jede Reaktion, die wir in unseren Onlineforen und in den sozialen Netzwerken im Internet sehen, die Reaktion eines Menschen ist. Wenn es eine emotionale Reaktion ist, wenn sie eine Ladung trägt, dann erlebt dieser Mensch eine intensive Erfahrung. Das dürfen wir nie vergessen. Aber was ich eigentlich sagen will, ist, dass wir, wenn wir das vergessen, nicht mehr in der Realität agieren. Wir machen einen Menschen zu einer Karikatur. Wir verstehen dann etwas nicht. Wenn wir wahre Informationen aussperren, wenn wir einen Teil der Wahrheit aussperren und in einer geschmälerten Realität agieren, in einer kollabierten Realität, dann verirren wir uns. Wir fühlen uns verwirrt. Dinge werden unerklärlich für uns. Und dann suchen wir nach vereinfachenden Narrativen, die uns erklären, was los ist. Und wir werden empfänglich für diese Narrative, die oft von manipulativen Kräften genutzt werden, von Kräften, die uns unsere Souveränität stehlen.

Das passiert, wenn dir ein Narrativ, ein Glaubenssystem, angeboten wird — man sagt dir: „Hier, so ist es. Bitte verlasse deinen Sitzplatz und komm her und sitze auf meinem. Hier ist die Wahrheit. Hier siehst du, wer Donald Trump ist. Hier siehst du, wer Joe Biden ist. Und schließlich: Hier siehst du, wer du bist.“

Niemand hat das Recht, dir so was zu sagen. Und auch ich werde dir so was nicht sagen. Und das heißt natürlich nicht, dass du die Ansichten anderer ignorierst. Schließlich machen wir alle die Erkenntnis, dass unsere Wahrnehmung nicht immer verlässlich ist. Deswegen wirst du dich, wenn du etwas Ungewöhnliches siehst, an die Person neben dir wenden und sagen: „Siehst du das auch? Siehst du, was ich sehe? Was sehe ich hier?“ Daran ist nichts verkehrt. Aber wenn ein anderer dir sagt, was du sehen sollst, anstatt zu fragen: „Was siehst du?“, wenn sie sagen: „Das ist keine Wolke, das ist ein Wal“, dann kannst du das auch annehmen. Aber es wäre wahrscheinlich ehrlicher zu sagen: „Für mich sieht das wie ein Wal aus.“

Das alles dient der Vorbereitung, der Vorbereitung auf eine Zeit, in der Dinge an unserem Horizont auftauchen werden, die wir nicht erkennen werden. Und vielleicht ist niemand da, den wir fragen können. Oder vielleicht wissen die, die wir fragen, auch nicht, was es ist, aber ihnen ist das Nichtwissen so unangenehm, dass sie uns irgendetwas vorspielen. Dass sie uns erzählen, was sie glauben. Und nochmal, das ist meine Vorhersage: Es werden Zeiten kommen, in denen nur sehr wenige wissen werden, was los ist. Und diejenigen, die wissen, werden nichts sagen. Und diejenigen, die etwas sagen, werden nichts wissen.

Das ist eine Stelle aus dem Tao te king. Wie ging das nochmal? Yan zhe bu zhi, zhi zhe bu yan. Habe ich das richtig gesagt, Patsy, oder hab ich es verdreht? Wer spricht, weiß nicht. Wer weiß, spricht nicht.

Ich glaube, dass uns solche Zeiten bevorstehen, und das ist ein bisschen peinlich, denn ich spreche ja hier. Am Ende müssen wir diesen Zeiten ins Auge sehen, wenn wir etwas ändern wollen. Wenn die Zukunft nicht einfach nur eine Wiederholung der Vergangenheit sein soll, dann müssen wir durch eine Phase des Nichtwissens durchgehen, in der das Bekannte verblasst, verschwindet und etwas Neues auftaucht.

Wenn wirklich etwas Neues auftaucht, dann werden wir es mit den gewohnten Konzepten nicht erkennen. Es wird nicht den gewohnten Geschichten entsprechen. Dann ist es etwas Neues. Und sehnen wir uns nicht nach etwas Neuem? Sehnen wir uns nicht nach Befreiung von den Konzepten, Geschichten, Institutionen, Systemen, den Regierungen, in denen wir gelebt haben, den Gewohnheiten, den Bräuchen, die uns als Spezies so elendiglich und eingezwängt gehalten haben? Sehnen wir uns nicht danach, von diesen Dingen befreit zu werden?

Ich glaube, dass Sehnsucht vielleicht der Antrieb hinter manchen dieser Untergangsnarrative sein könnte, die ich erwähnte. Es liegt sogar etwas Erstrebenswertes in ihnen. Die Leute hoffen sozusagen darauf, dass es wirklich den Bach runtergeht. Sie hoffen, dass alles explodiert. Dass alles auseinanderfällt. Sie hoffen auf den Kollaps, weil es sie aus einer Situation befreit, die beinahe unerträglich ist. Und es verspricht — oder öffnet zumindest die Möglichkeit für — die schönere Welt, die unsere Herzen kennen.

Also, ich möchte dich zu einem Moment des Nichtwissens einladen, zu diesem Platz am Scheideweg, an dem du vielleicht stehst und vielleicht nicht.

Und wenn du nicht dort stehst, wenn dich eine sehr schmerzhafte oder hoffnungsvolle Geschichte über die Wahlen und die Weltlage gerade in den Bann schlägt, dann lade ich dich ein, das Haus des Nichtwissens für ein paar Minuten als Gast zu besuchen. Wir versammeln uns im Haus des Nichtwissens, im Haus der Ungewissheit, im Haus der unendlichen Möglichkeiten, in dem unser Blick auf die Zukunft, unser Blick auf die Weltbühne nicht von unserer Voreingenommenheit getrübt ist.

Wir werden sehen. Wir sitzen hier in der Ungewissheit und dem Nichtwissen. Vielleicht wollt ihr sogar die Augen schließen. Ich werde das an dieser Weggabelung tun, an diesem Verbindungspunkt, von dem aus verschiedene Wege in die Zukunft ausstrahlen.

Es ist ein vorübergehender Rastplatz.

Wir wissen im Moment nicht, welchen Weg wir wählen werden.

In diesem Moment weißt du, dass du einen Weg wählen wirst.

Du weißt, dass der Moment der Entscheidung kommen wird.

Du weißt, dass die Entscheidung sich dir offenbaren wird, aber noch nicht jetzt.

Das Verstehen wird kommen, der Sinn wird kommen, aber noch nicht jetzt.

Neben den Gefühlen, die die treibenden Kräfte hinter den Geschichten waren — egal ob es Trauer, Wut, Hoffnung oder Freude war, was auch immer es war —, neben diesen Gefühlen gibt es noch etwas anderes, dessen du dir jetzt gewahr bist. Es ist eine Ruhe, eine leichte Neugierde und Gelassenheit. Randvoll mit Möglichkeiten.
Und in der nächsten halben Minute öffne bitte wieder deine Augen. Und wenn du die Augen öffnest, bleibe in Verbindung zu diesem Gefühl.

Gelassenheit, Neugierde, Möglichkeit. Nicht als Ersatz für all die anderen Dinge, die du fühlst, die auch von einem wahren Ort kommen, sondern als deren Begleiter. Damit du dann, wenn die unvorhersehbare neue Information kommt, die fast alle vor ernsthafte Herausforderungen stellen wird, bereit dafür bist.

Danke, dass ihr eure Aufmerksamkeit mit mir teilt, und ich übergebe wieder an unsere liebe Patsy. Danke.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Beitrag erschien zuerst unter dem Titel „Transcript of ‚The election may not mean what we think.‘“ auf dem Substack von Charles Eisenstein. Er wurde übersetzt und korrekturgelesen von Christoph Peterseil und Ingrid Suprayan.

Der Autor hat diesen Videovortrag ein paar Tage nach der US-Wahl gehalten. Viele der angesprochenen Themen werden im Onlinekurs „Unlearning for Change Agents“ behandelt und vertieft.


The election may not mean what any of us think

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