Das Gute im Menschen
In der Kindheit erlernter Gehorsam macht uns zu Mittätern. Eine freilassende und lebensfreundliche Erziehung könnte unser positives Potenzial jedoch wieder aktivieren.
Die vielen Gewalttaten in den letzten Jahren scheinen darauf hinzudeuten, dass es illusorisch ist, noch an einen guten Kern in den Menschen zu glauben. Andererseits: Die Tatsache, dass sich so viele das Leiden ihrer Mitmenschen, zum Beispiel in der Ukraine oder in Gaza, zu Herzen nehmen — ja sogar die Tatsache, dass viele ihren Blick abwenden, weil sie es als fühlende Menschen nicht mehr ertragen können —, deutet darauf hin, dass wir nach wie vor viel positives Potenzial in uns tragen. Wie aber wird aus einem „guten Kern“ tatsächliches gutes Handeln? Leider liegen die Wurzeln kollektiver Fehlentwicklungen oft schon in der Kindheit, wo blinder Gehorsam und die Gewohnheit, sein Herz zu verschließen, eingeübt werden. Der Autor setzt wie immer auf einen humanistischen, emanzipatorischen Ansatz in Erziehung und Therapie, wodurch längerfristig auch gesellschaftliche Verbesserungen bewirkt werden können. Die nachfolgenden Ausführungen zum Jahreswechsel 2023/2024 bekräftigen seinen unerschütterlichen Glauben an das Gute im Menschen.
Trotz der täglichen Horrormeldungen ist der Mensch kein Roboter, der wahllos tötet. Das entspricht nicht seiner sozialen Natur. Dies könnte nur mithilfe künstlicher Intelligenz geschehen, weil eine Maschine, die aufgrund ihres Lernens Entscheidungen fällen kann, nicht daran gebunden ist, Entscheidungen zu treffen, wie wir Menschen sie getroffen hätten oder wie sie für uns annehmbar wären. Auch einflussreiche IT-Führungskräfte wie Elon Musk befürworten die Einschränkung künstlicher Intelligenz, weil sie „eine der größten Bedrohungen für die Menschheit“ sei (1).
Die Not der Menschen rührt an jedes Herz, auch wenn jemand durch persönliche oder kollektive Vorurteile verblendet oder irritiert ist und dringend aufgeklärt werden muss. Leider ist es so, dass wir bereits bei Vater und Mutter und in der Schule das Gehorchen gelernt haben und das Problem des Gehorsams bis ins Erwachsenenalter mitschleppen. Das Verhalten der Deutschen während der Hitler-Jahre ist ein beredtes Beispiel dafür. Sind wir nicht auch Mörder und Verbrecher, wenn wir in einer Welt leben, in der Krieg und Verbrechen an der Tagesordnung sind? Die Welt ist doch so, wie wir sie eingerichtet oder — in Bezug auf bestehende Verhältnisse — geduldet haben. Keiner kann sich der Verantwortung entziehen. Wir sind immer mitschuldig, selbst dann, wenn wir Opfer sind.
Seit den Forschungsergebnissen der modernen Psychologie wissen wir, dass der Charakter des Menschen das schöpferische Produkt des Kindes ist, das in der Auseinandersetzung mit den frühkindlichen Lebensumständen, insbesondere den Erziehungseinflüssen von Eltern und Lehrkräften, entstanden ist. Doch dies ist uns nicht bewusst.
Da eine friedliche Welt nicht von selbst entsteht, sondern einzig und allein durch menschliche Entschlüsse, müssen wir den Mut aufbringen, uns des eigenen Verstandes zu bedienen (Kant), denn nach den Erkenntnissen der Humanwissenschaften besitzt der Mensch von Natur aus einen gesunden Verstand und ein natürliches Urteilsvermögen.
Not der Menschheit rührt an unser aller Herz
Niemand kann mir als erfahrenem Psychologen und ehemaligem Psychotherapeuten allen Ernstes erzählen, dass die nicht enden wollenden Kriege in der Ukraine und im Mittleren Osten mit den Tausenden von unschuldigen toten und verwundeten Kindern und Frauen nicht an das Herz eines jeden Menschen rühren. Das könnte nur dann der Fall sein, wenn dieser Mensch durch persönliche oder kollektive Vorurteile vollkommen verblendet wäre. Seine Aufklärung wäre deshalb von immenser Bedeutung.
Viele Zeitgenossen berichten, dass sie seit langer Zeit keine Nachrichten mehr sehen oder hören, weil sie die unbeschreibliche Not der Menschen nicht ertragen können. Auch das ist ein Beispiel dafür, dass die Natur des Menschen sozial ist und dass der Mensch sehr wohl ohne Kriege leben kann.
Bereits als Kinder lernten wir zu gehorchen
Die tägliche Berichterstattung über den Zustand der Welt, die aus den Fugen geraten ist, bringt mir immer stärker zu Bewusstsein, welches fatale Problem wir auch noch als Erwachsene mit uns schleppen. Bereits von frühester Kindheit an lernten wir in Familie und Schule zu gehorchen. Ob es sich um den strengen Vater oder Lehrer oder die verwöhnende Mutter handelte — wir hatten als Kinder keine andere Wahl, als zu gehorchen.
Waren es in der Kindheit die Erziehungspersonen, denen wir zu gehorchen hatten, sind es im späteren Leben die sogenannten Autoritäten wie Staatschefs und ihre Politiker, denen wir meinen gehorchen zu müssen. Wenn sie rufen, lassen Männer ihre Frauen und Kinder im Stich und ziehen in den Krieg.
Was für ein folgenschwerer Irrtum! Die deutsche Bevölkerung unter dem „Führer“ Adolf Hitler sollte ein warnendes Beispiel sein. Das „Volk der Dichter und Denker“ — alle ohne Ausnahme — jubelte ihm zu. Die Arbeiter, die Gelehrten, die Philosophen, die Psychologen — alle sind mit Hitler mitgegangen und haben sich in den Tod führen lassen. Und der Pfarrer und die Kirche segneten die Waffen des Krieges, die die anderen jenseits der Grenze, ebenfalls Christen, töteten. Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg und Dutzende weitere Kriege: immer wieder Mord und Totschlag für nichts und wieder nichts.
Menschenkenntnis erwerben
Wenn wir die Menschen kennenlernen — uns selbst und die anderen —, lernen wir, uns und die anderen richtig zu sehen, lernen wir, unsere Gesinnung und Meinung und die der anderen richtig einzuschätzen. Wir wissen dann, ob es nur die anderen sind, die Kriege anzetteln und führen — oder ob auch wir selbst Täter sind.
Leider ist uns dieses Problem nicht bewusst, weil wir aus dem Unterbewusstsein heraus handeln — eine zentrale Entdeckung von Sigmund Freud.
Bringt den Mut auf, euch des eigenen Verstandes zu bedienen!
Nach den Erkenntnissen der Humanwissenschaften Anthropologie, Soziologie und Psychologie besitzt der Mensch von Natur aus einen gesunden Verstand beziehungsweise ein natürliches Urteilsvermögen. Dieser gesunde Menschverstand arbeitet empirisch, das heißt, er fällt konkrete Urteile auf der Basis alltäglicher Lebenserfahrung und Beobachtung. Mündige Bürger teilen diese Urteile. Zudem ist er mehr auf praktische Anwendung ausgerichtet als auf abstrakte Theorie. Auch nimmt der gesunde Menschenverstand auf die Urteile aller anderen Menschen Rücksicht und ist damit gemeinschaftsfördernd.
Der Aufklärer Immanuel Kant (1724 bis 1804) stufte den gesunden Menschenverstand im Alltag als nützlicher ein als wissenschaftliche Erkenntnisse. Für den erfolgreichen Gebrauch des gesunden Menschenverstands stellt er drei Maximen auf:
- „Selbstdenken“
- „An der Stelle jedes anderen denken“
- „Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken“ (2).