Das gute Böse und böse Gute
Über die Radikalität des Guten im Bösen und den Kapitalismus.
Gibt es sie, die Grenzen, an denen wir Ausnahmen machen MÜSSEN? Verdienen gewisse Menschen eine gesonderte Behandlung weil sie BÖSE sind? Dass kein Mensch aus seinem Selbstverständnis heraus böse ist und also eigentlich immer das Gute wünscht, womit das Böse an Klarheit wie Schärfe verliert, daher jeder Kampf (nach außen) „eigentlich“ in guter Absicht geführt wird, kann von den meisten Zeitgenossen nicht akzeptiert werden. Angesichts der Kriege und des Leids so vieler Menschen, muss das Böse doch auch benennbar und personifizierbar sein. Ist es das? Gibt es die Bösen und die Guten und wenn, warum sind faszinierenderweise die Bösen immer die Anderen?
Ein Zitat von Hannah Arendt, die den Titel Philosophin für sich ablehnte, möchte ich an den Anfang dieses Artikels stellen. Sie schrieb in ihr Tagebuch:
„Es gibt das radikal Böse, aber nicht das radikal Gute. Das radikal Böse entsteht immer, wenn ein radikal Gutes gewollt wird.“ [1]
Versuchen wir uns im Folgenden dem anzunähern, was Hannah Arendt ausdrücken wollte. Dabei kommen wir logischerweise nicht um eine kurze Betrachtung der Begriffe gut und böse herum. Es gibt sehr viel ausführlichere Deutungen von gut und böse, aber diese hier, beschreibt meines Erachtens völlig ausreichend, wie gut und böse heutzutage angewendet wird:
Man kann gut und böse als moralische Kategorien begreifen, hinter denen Handlungsanweisungen stehen. Was man tun sollte, ist gut, das nicht zu Tuende ist schlecht (böse). Die Einstufung von Gutem und Bösem ist subjektiv geprägt sowie von Zeit, Ort und Gegebenheit abhängig. Gut und böse sind außerdem im Kontext aller gelebten Gesellschaftssysteme (respektive von Denk- und Handlungsmustern der Individuen) Werkzeuge von Macht.
Den Philosphen Immanuel Kant trieb die Dialektik von gut und böse zeitlebens um. In seiner Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ sagte er:
„Der Satz: der Mensch ist böse, kann […] nichts anders sagen wollen als: er ist sich des moralischen Gesetzes bewußt und hat doch die (gelegenheitliche) Abweichung von demselben in seine Maxime aufgenommen.“ [2]
„Gelegenheitlich“ meint wohl, „ausnahmsweise“, als Opfer um der guten Sache willen. Ein Sonderfall wird statuiert, eine Ausnahme von der Regel, die nach dem „unbequemen“ und moralisch abweichenden Verhalten wieder als Regel beabsichtigt ist, die fortan gelten soll. Zuvor muss jedoch (leider) der Kompromiss gemacht werden. Die vorübergehende Opferung von im Grunde selbst vertretener Ethik und Moral wird als Sonderfall hingenommen und so legitimiert.
Erkennen wir dieses Prinzip nicht in politischen Handlungsmustern von Regierungen, Organisationen und Unternehmen wieder? Ich denke schon. Gilt diese Erkenntnis aber auch für unser schwergewichtiges oder auch (vermeintlich) leichtgewichtiges Alltagsverhalten? Wie steht es um uns selbst, wenn es um die Einhaltung der durch uns selbst als fundamental wichtig angesehenen Werte menschlichen Zusammenlebens geht? Fällt es uns nicht erstaunlicherweise viel leichter, über ethische Normbrüche Anderer unversöhnlich zu richten und dabei nonchalant die eigene Inkonsequenz auszublenden?
WO ist das Böse? Die meisten Leser können wohl zustimmen, dass es sich, so es das Böse gibt, im Kriege manifestiert und austobt. Krieg ist jedoch mehr als die Austragung von Machtkämpfen mit Waffengewalt. Findet er doch – natürlich unterschiedlich nuanciert – auf allen Ebenen menschlichen Daseins statt. Ständig sind wir Zuschauer oder Mitbeteiligte diese Kriege – und das meist, ohne dass es uns bewusst ist. Krieg drückt sich über den Kampf aus.
Welche Möglichkeiten gibt es nun, das Böse zu erkennen? Ist die Aneignung von Wissen ein Weg um Klarheit über gut und böse zu erhalten? Oder zeigt uns gar der Weg selbst, was es mit gut und böse auf sich hat?
Der gebürtige Peruaner Carlos Castenada hat über die Begegnung mit Don Juan Matus (kurz Don Juan), einem Mitglied der in Mexiko lebenden Yaqui-Indianer, deren Gedanken und Philosophie aufgegriffen und sie in einer Bücherreihe, Die Lehre vom Don Juan Matus, zu Papier gebracht. Ob Don Juan letztlich nur eine literarische Figur ist und so stellvertretend für die Kultur der Yacqui-Indianer steht, ist meines Erachtens nicht so wichtig. Wichtig sind die Gedanken, welche uns Carlos Castenada damit übermittelt. Er beschreibt das Leben als Lernprozess; in dem das Böse wie auch das Gute offenbar nicht vorkommt.
In seiner Schrift „Die Radikalität des Herzens – Von der Stimmung des Kriegers“, beschreibt er die Feinde in uns selbst und beginnt mit der Angst. Der Krieger ist hier als Mensch, der seinen inneren Kampf ausficht, zu verstehen. Aber: Innere Kämpfe wirken sich unweigerlich auch nach außen hin aus.
Ich finde es einerseits faszinierend, dass – wie bei Hannah Arendt (s.o.) – auch hier Radikalität als Kategorie aufgeführt wird, hier aber im Kontext des Herzens, statt des Bösen bzw. Guten. Gibt es da einen Zusammenhang? Um dann umgehend auf die ANGST zu kommen, die urgewaltige Emotionalität unseres Ichs, über die wir ZU ALLEM fähig sind.
Castaneda entwickelt (bzw. entnimmt) Gedanken, die mir in ähnlicher Weise schon seit geraumer Zeit (ohne dass mir sein Werk bekannt war) durch den Kopf gingen. Wissen, so wie wir es verstehen und uns aneignen, ist für ihn nicht wirklich Befreiung, vielmehr Zwang und Mittel zur Erreichung konkreter ERWARTETER Ziele. Ziele die in der Regel niemals erreicht werden, schon weil das Leben voller Unwägbarkeiten und nur eingeschränkt planbar ist. Mehr noch verbaut man sich damit die Ziele, die einem tatsächlich liegen. Während wir im endlosen Kampf um die Erfüllung unserer Erwartungshaltungen verbrennen, führt das wahre Erfüllende eine Rolle als unbeachteter Schwarzer Schwan, ist aber ungeachtet dessen natürlich sehr wohl existent. Daher lässt Castaneda seinen Helden sagen:
„Ein Wissender wirst Du, wenn Du die Mühen des Lernens auf Dich genommen hast und aufrichtig darum ringst, die Geheimnisse um Wissen und Macht zu lösen. Du wirst in diesem Bemühen den vier natürlichen Feinden des Menschen begegnen: der Angst, der Klarheit, der Macht und dem Alter. Wenn ein Mann anfängt zu lernen, ist er sich über seine Ziele nicht klar. Sein Vorsatz ist schlecht; seine Absicht ist vage. Er hofft auf Belohnungen, die niemals eintreffen werden, denn er weiß nichts von den Härten des Lernens. Er beginnt langsam zu lernen – zuerst Schritt für Schritt, dann in großen Sprüngen. Und bald sind seine Gedanken durcheinander. Was er lernt, ist nicht, was er sich ausgemalt hat, und so beginnt er sich zu ängstigen.“ [3]
Ist Ihnen bewusst, in was für einer Wissensgesellschaft wir leben; deren Begriff sogar stolz präsentiert wird? Was sagt uns das eigentlich? Nur etwas zu lernen, um Wissen zu erlangen, dann auch noch Wissen, das wir lernen SOLLEN, das also nicht auf unserem inneren Suchen nach der Wahrheit beruht, sondern erzwungenes Wissen ist? Was ist daran gut? Was außerdem nützt die maßlose Quantität von Informationen dieser von Reizen überfluteten Gesellschaft den Menschen? Diese Wissensgesellschaft ist obskur und im Folgenden versuche ich zu verdeutlichen, dass sie uns vor uns selbst entfremdet und das Bild des Bösen „da draußen“ zum Alltag macht.
Wir leben in einer zunehmend mit nutzlosem Wissen gefüllten Welt. Nutzlos auch deshalb, weil es uns hindert, an das unser Innerstes wirklich erfüllende Wissen heranzukommen. Ziele werden vorgegeben, sind gesetzt, betoniert. Wissen wird vorgegeben. Beides MUSS erreicht werden, weil wir ja in einer Leistungsgesellschaft leben. Nur, welche Leistung ist das, die da zählt, wer hat deren Qualität definiert? Ist diese Fremddefinition unserer Lebensinhalte nicht ein geistiges Gefängnis? Wir leben in Erwartungshaltungen, die in uns eingepflanzt wurden. In diese ist der Frust, die Enttäuschung, der Misserfolg schon eingebaut. Und plötzlich stellen wir fest, dass all das getrieben ist – VON ANGST.
Wir lernen im Grunde Vertrautes. Forschung und Lehre ist, zumindest wenn es um Gesellschaft, Politik und Ökonomie geht, auf der Suche nach Bestätigung. Statt mit gesundem Skeptizismus Fehler zu suchen, ist sie bestrebt, die Erkennung von Fehlern zu vermeiden. Sie stellt keine Fragen und sie wagt es nicht, in Frage zu stellen. Was aber, wenn dann doch neues Wissen unsere geistige Welt, unseren sicheren Rückzugsraum in Frage stellt? Angst ist Abwesenheit von Sicherheit. Ein und dasselbe, bisher Unbekannte, kann neugierig machen oder bedrohlich wirken. Was für Faktoren entscheiden nun, in welche Richtung das Pendel ausschlägt?
„Wenn Du begonnen hast Dein Leben zu rekapitulieren, oder wie man auch sagen könnte, eine Sammlung der denkwürdigen Ereignisse Deines Lebens zusammenzustellen, nimmst Du einen Faden auf. Diesem folgend deckst Du allmählich die versteckten Motive Deines Lebens auf. Und wahrscheinlich wirst du bald herausfinden, dass es die Angst ist, die seit jeher im Zentrum Deines Handelns steht.“ [4]
Dass unsere über Kampf, Flucht oder Lähmung umgesetzte Angst auch eine Angst vor uns selbst, vor der existenziell gefährdeten Verletzung des eigenen Egos beschreibt, ist den meisten Menschen ebenfalls nicht bewusst. Ziele nicht zu erreichen, Fehler zu begehen, werden als persönliche Niederlagen, als beschämende Verletzung des eigenen Egos wahrgenommen. Die eigene soziale Stellung innerhalb von Kollektiven ist angegriffen, Schuldgefühle kommen auf, ob des Versagens, das mit dem Nichterreichen des Erwarteten empfunden wird.
„Je tiefer Du eintauchst, je mehr wird Dir auch klar, dass die Angst nach Innen dieselbe ist, wie jene, die Du nach Außen richtest. Du fürchtest ebenso die Dinge, die Du innen zu finden meinst, wie Dir auch das Unbekannte und Neue, welches Dir durch Ereignisse oder Menschen entgegen tritt, bedrohlich erscheint. Bereits an diesem Punkt brechen viele Menschen, die sich auf den Weg des Wissens begeben haben, ab und scheitern. Unüberwindbar scheint die Hürde zu sein, zu groß die Bedrohung, die Dich in Deinen Grundfesten zu erschüttern beginnt. Jeder Schatten wird zu einem Dämon, der Dich zu verschlingen scheint.“ [5]
Menschen die, wie Don Juan es sagt, scheitern, lernen einfach weiter – vielleicht. Aber sie lernen nur noch das, was ihnen nicht weh tut. Sie eignen sich an, was ihnen vertraut erscheint und ihre Ängste nicht weckt. In dieser Rolle mögen sie aufgehen und Fleiß entwickeln. Die Auseinandersetzung mit sich selbst, das Bestreben Konflikte auch als innere Konflikte anzuerkennen und dadurch lösen zu können, wird jedoch nicht mehr gewagt. Im Griff der Angst sammelt man Wissen ohne Wert, außer dem der eigenen Selbstbestätigung. Und außerdem wächst in der Angst auch das Bild des Bösen im Unbekannten. Angst als Überlebensinstinkt ist ein großer Dirigent, wenn sie die Hoheit über unseren Geist gewonnen hat. Menschen, welche mit ihren (gefährlichen) Gedanken die gesicherte geistige Gedankenwelt des Ängstlichen bedrohen, werden da fast zwangsläufig als Feinde, als Böse wahrgenommen. Der unbewältigte innere Konflikt wird in einem anderen Menschen gespiegelt und (unbewusst) erkannt.
In dieser Situation ist der von Angst gefangen Genommene in der Lage, ethische Schranken zu reißen, um das Böse zu bekämpfen. Damit ist das angegriffene Ego bereit, alle Facetten des Kampfes zu nutzen, um sein gefährdetes Weltbild zu verteidigen. Tatsächlich ist es für ihn ein VERTEIDIGEN – das Gleiche was der Außenstehende als Angriff sieht. Im Begriff gegen das Böse vorzugehen, wird der Held selbst böse, glaubt aber dabei, im Sinne des Guten und so legitimiert zu handeln.
Gut und böse sind Symptome der Angst, Symbole von Sicherheit und Unsicherheit, von der Erhaltung des Einen und der Vermeidung oder Bekämpfung des Anderen. Überwinde ich die Angst, überwinde ich auch die Zweidimensionalität meiner Wahrnehmung und erfasse Komplexität. Aus Masken werden so Gesichter und Menschen die alles mit sich tragen, was auch zu meinem Menschsein gehört, werden nun sichtbar. Aber das alles wird ohne Mut (zu sich selbst), Ausdauer und Geduld nicht gelingen.
„Beharrlichkeit erweist sich schließlich als die angemessene Haltung, um der Angst und den Gefahren, die sie beschwört, zu begegnen. Gleichzeitig widerstehst Du dem fast übermächtigen Wunsch, Dich zu zerstreuen, zu betäuben oder Dich in irgendeiner anderen Form gehen zu lassen. An diesem Punkt des Lernens wirst Du wohlmöglich den Eindruck haben, dass der Weg, den Du eingeschlagen hast, vor allem ein endloses Aushalten und Ertragen von Gefühlen ist. Die Unbeugsamkeit, mit der Du der Angst trotzt, führt Dich endlich an einen Punkt, an dem sie weicht und beginnt sich aufzulösen.“ [6]
So wie ich den Yaqui-Indianer interpretiere, kann man jederzeit in den Strudel der Angst fallen – immer dann, wenn die eigene Selbstsucht und Zaghaftigkeit mit der Bequemlichkeit einen Bund eingeht und so die Oberhand gewinnt. Die Angst ist eine Prüfung, eine Herausforderung. Überwinden wir sie, erhalten wir Klarheit, doch auch das ist ein zweischneidiges Schwert. Don Juan sieht deshalb die Klarheit in uns sowohl als Sinnbild von befreiender Erkenntnis im Ergebnis beständigen und ausdauernden Lernens, wie auch als Feind unseres Ichs, der uns in Arroganz abdriften lässt:
„Du bist bis zu ihrer Wurzel [der Angst] vorgedrungen und hast sie in jedem Aspekt angeschaut und verstanden. Sie hört auf, das Leitmotiv Deines Lebens zu sein. Du bist nicht mehr in ihr fixiert. Du gewinnst Klarheit über alles, was in Dir und um Dich herum geschieht. Die lang ersehnte Klarheit der Gedanken ist das neue Terrain, auf dem Du Dich bewegst. Du gewinnst eine Übersicht und einen sprichwörtlichen Durchblick, die Dir das unerschütterliche Gefühl vermitteln, Dir Deiner sicher zu sein. Du kennst nun Deine Wünsche und verstehst sie zu befriedigen.“ [7]
Dieser Erfolg, den wir geradezu körperlich genießen, der uns glücklich macht, kann uns verleiten, die Bodenhaftung zu verlieren:
„Da Dir nichts verborgen zu sein scheint, wähnst Du die nächsten Schritte auf dem Weg des Wissens voraussehen zu können. Ohne es zu merken, bist Du damit dem zweiten Feind gegenübergetreten. Er zwingt Dich, Dich niemals selbst anzuzweifeln oder in Frage zu stellen. Das Unbekannte ist für Dich zu einer berechenbaren Größe geworden. Während Du die Angst als offenen Gegner identifizieren und konfrontieren konntest, gleicht die Klarheit einem Angriff aus dem Hinterhalt, weil sie Dir das vermeintliche Gefühl von Überlegenheit vermittelt.“ [8]
Klarheit ist jedoch nur ein Punkt der Erkenntnis hinter dem sich neue Komplexität verbirgt. Und zudem ist Klarheit auch nur ein Punkt im Strom der Zeit und niemals für alle Ewigkeiten gültig. Schließlich ist Klarheit immer auch eine einzigartige subjektive Erfahrung, die es natürlich wert ist, weitergegeben zu werden. Wir streben Klarheit an, dürfen uns aber bewusst werden, dass Klarheit kein Absolutum sondern ein (selbstredend für den Menschen, der ihn erlebt, sehr wertvoller) Augenblickszustand ist.
Menschen, die überzeugt davon sind, dass Klarheit eine Stufe der Entwicklung ist, die man nur erreichen muss, um sie für immer zu behalten, werden diese Klarheit zukünftig als Illusion mit sich herum tragen. Denn sie sind in diesem Augenblick des Erfolges in Selbstgefälligkeit stehen geblieben. Das Gefühl der Klarheit wächst aus zum Dogma und paart sich mit Überhebung. Dann ist die Klarheit nur die Hintertür der Angst, denn man fürchtet, oben angekommen, den Abstieg. Wo man einmal war, möchte man nicht mehr hin, doch mit den geschaffenen Dogmen kommt genau das Nichtgewollte zurück – die Angst. Es ist die Angst vor den vermeintlichen Gegnern, welche die mühsam aufgebaute Reputation zerstören wollen und in dieser Angst beginnt man seinen Rückzug von der Stufe der Klarheit und wird gierig nach Erhalt. Was man einmal erreicht hat, beansprucht man dauerhaft und verteidigt es nun mit MACHT.
Diese Menschen sind daher wie geschaffen für Macht, sind sie doch von sich zutiefst überzeugt und sehen sich als gewachsene Elite in einer hierarchisch aufgebauten Gesellschaft. Sie sind in ihrem Sinne (intellektuell) aufgestiegen und von einer tiefen Überzeugung des eigenen Verdienstes beseelt. Die Festigkeit und Klarheit ihrer erworbenen Überzeugungen wird nun als allgemeingültig für alle Menschen vorausgesetzt.
Während die in Angst Gefangenen zu Beherrschten werden, emanzipieren sich Menschen als selbst erkannt „ohne jeden Zweifel“, als Erleuchtete, als Machtmenschen. Andere Menschen, welche diese Klarheit nicht ergreifen wollen und statt dessen eigene Gedanken vertreten, werden als uneinsichtig angesehen und wenn sie sich gegen „die wahren Ideen“ wehren – als böse; als Feinde. Denn sie stellen sich gegen das als „gut“ erkannte und zum Gesetz Postulierte.
„Mit dem Sehen [aus Klarheit] begegnest Du der wirklichen Macht. An diesem Punkt seiner Entwicklung beginnt ein Krieger zu sehen, was um ihn herum geschieht, er sieht energetische Wirklichkeit. Er weiß, wie er die ihn umgebenden Kräfte dirigieren, manipulieren und nach seinen Vorstellungen benutzen kann. Er sieht vor allem auch, an welcher Stelle der Montagepunkt seiner Mitmenschen fixiert ist. Er kann mit ihnen daher verfahren, wie ihm beliebt.“ [9]
Wer sich von der (durch Selbstsucht getriebenen) Macht, die in seinem Ich schlummert, einfangen lässt, übersieht alles. Er übersieht im doppelten Sinne des Wortes. Er glaubt, alles sehen und lenken zu können und in dieser Verblendung übersieht er die Vielfalt und Komplexität des Lebens. Sein großer universeller Blick muss simpel werden, seine Differenzierung grob. Die Farben reduzieren sich und verschwinden schließlich im Schwarz und Weiß – im Gut und Böse.
„Er bekommt, was er will. Alles scheint erlaubt und dem eigenen Vorteil zu dienen. Ein Mensch, der der Versuchung der Macht erliegt, wird zum Tyrann. Er huldigt seinem Selbst, anstelle es zu überwinden. Seine Entscheidung, die Macht zu beanspruchen hat ihn kaltgestellt und seine Kriegerschaft beendet. In dem Maße, wie er sich über die Dinge und andere Menschen stellt, verliert er die Verbindung zu ihnen.“ [10]
Und eben deshalb schlussfolgert Don Juan:
„Unter allen Umständen festzuhalten an einem Weg der Herz hat, Dich von allem Anfang an zu umgeben mit Dingen, die Herz haben, wird Dich auch in den schwierigsten Umständen daran erinnern, die richtigen Entscheidungen zu treffen.“ [11]
Das Herz ist die Wahrhaftigkeit; selbst wenn es Fehler macht. Wir haben nur verlernt, auf unser Herz zu hören. Das Herz ist das Korrektiv des Egos. Es ist die Quelle wahrer lebendiger aus sich selbst erzeugter Empathie.
Was nun jedoch hat das alles mit unserer konkreten praktischen Realität zu tun?
All die beschriebenen Gefühle, Gedanken, Emotionen kenne ich – aus mir selbst. Sie sagen mir, dass in uns universelle Prinzipien schlummern, die sich in Kategorien von Gut und Böse nicht erfassen lassen. Aus diesen von mir gesehenen Prinzipien schöpfe ich meinen Glauben an unsere kollektiven Fähigkeiten aber auch die Erkenntnis unserer Begrenztheit, die uns deshalb nicht verzagen lassen muss. Das Erkannte sagt mir, dass es nicht sinnvoll ist, außen nach dem Bösen zu suchen, sondern viel mehr im eigenen Ich das Gute (nennen wir es doch besser das Wahrhaftige) permanent zu wecken. Schließlich liegt beides in uns.
Wer nach außen hin ein System bekämpfen möchte, kommt immer in Schwierigkeiten. Er greift nach den Sternen, um das Böse zu bekämpfen. Für ihn hat das Böse kein Gesicht, darf es nicht haben. Denn täte es das, käme der Mensch dahinter zum Vorschein und der Held würde ihn ihm – SICH SELBST ERKENNEN. Das Böse darf kein Gesicht haben, sonst kann man es nicht bekämpfen. Dieses Prinzip ist universell. Befassen wir uns mit der Bekämpfung des Kapitalismus und verstehen dabei nicht, dass JEDER VON UNS SELBST DEN KAPITALISMUS ALS MATRIX MIT SICH HERUMTRÄGT, werden wir immer wieder scheitern, so wie Don Quichotte, der sich mit Dämonen herumschlug, ohne sie je besiegt zu haben. Ja, wie auch!? Denn es waren die Dämonen in seinem Kopf, die er nach außen verfrachtete.
Es ist doch so: Der Kapitalismus ist überhaupt nicht böse. Beschreibt er doch nichts weiter als Denkstrukturen in den Köpfen der Menschen – und natürlich die Resultate dieses Wirkens. Wir brauchen hier nicht nach Schuldigen suchen, es geht schlicht um die Anerkennung der Tatsache, dass der Kapitalismus ein Denkmuster, eine MATRIX, eine Handlungsanleitung ist! Wenn Sie das System angreifen wollen, müssen Sie, wohl oder übel, auch sich selbst angreifen. Und dabei verstehen, dass der Kapitalismus auch nur eine Variation von Macht ist; von Herrschaft, Unterwerfung, Kampf um die Macht und Akzeptanz von Macht.
Den Kapitalismus zu bekämpfen, ohne das Machtsystem zu hinterfragen, aus dem heraus er entstand, wird nichts weiter als die kriegerische Auseinandersetzung herausfordern, die ein neues Machtsystem entstehen und die Matrix unangetastet lässt. Womit alles von vorn beginnt. Wäre es nicht angebracht, so langsam aus den Fehlern der Geschichte geeignete Schlussfolgerungen zu ziehen, statt immer wieder das gleiche verheerende Konzept durchzuziehen? Ich meine, soviel Gelegenheiten werden der Spezies Mensch nicht mehr gegeben sein, denn schließlich ist sie unverdrossen dabei, ihre Lebensgrundlagen zu zerstören.
Alle theoretisch betrachteten Gesellschaftsmodelle, durch welche man glaubt(e), eine GUTE Welt schaffen zu können, sind von einer unglaublichen Vereinfachung geprägt. Unglaublich deshalb, weil ihre Beschreibung tatsächlich die schier unendliche Vielfalt der realen Gesellschaften und ihrer ebenso unendlichen Wechselwirkungen mit der Umwelt in sehr, sehr schlichte Formen pressen möchte. Aus meiner Sicht sind die Protagonisten solcher „großen Würfe“ bei Klarheit und Macht stehen geblieben und blind für die Komplexität und chaotische Struktur der Welt. Auch wenn sie es selbst so nicht sehen mögen, sehen sie sich als Auserwählte, welche eine mehr oder weniger zu führende Masse in Obhut genommen haben. Klarheit OHNE Herz führt zu Macht und Größenwahnsinn, zu technokratischem, kaltem berechnenden Denken. Klarheit MIT Herz lässt uns unsere innewohnende kollektiv glücklich machende Konstruktivität entfalten.
Die Weltverbesserer sind keine Weltverbesserer. Sie haben diesen GUT gemeinten Anspruch, können ihn aber nicht erfüllen, denn sie sind Menschen; keine Götter. Es gibt keine Götter unter den Menschen. Götter sind Symbole absoluter Macht und dem dahinter stehenden Wunsch, die Welt beliebig zum Guten verändern zu können. Gottgleiches Handeln hebt die Komplexität und Vielfalt des Lebens auf. Es muss das tun, damit es ein System entwickeln kann, in das alles passt. Was nicht passt, muss im Sinne dieses Anspruchs passend gemacht werden.
Doch so erkennen Menschen nicht ihre Grenzen, sie überschreiten die Grenzen des Menschseins im unbedingten und niemals bezweifelten Willen, das Gute zu tun. Und tun genau damit Dinge, die zerstörerisch sind, Leid über die Menschen bringen, Kriege verursachen. Vom Guten überzeugt zu sein, wobei man die Defintion des individuell verstandenen Guten wie selbstverständlich als DAS GUTE anderen meint aufoktroyieren zu müssen, trägt man die Saat des Bösen schon in sich. Aus Menschen, die Gutes wollen, werden tragische Helden und so sie nicht aufpassen, sich selbst hassende Menschenfeinde.
Das aber wird im von den Beteiligten so verstandenen und akzeptierten hierarchischen Machtsystem nach unten weitergegeben. Im Krieg der Köpfe innerhalb der Bevölkerung spiegelt sich letztlich die Überhebung der Eliten über ihnen wider. Das Nahe liegende, die sehr wohl wirkende eigene Rolle wird zwar wahrgenommen – aber als Folge der unbequemen Dissonanz verleugnet und statt dessen lieber die Ideologien der Eliten unreflektiert nachgesprochen oder auch die eigenen Ideologien DAGEGEN gesetzt. Die fundamentalen Prinzipien (die Ideologien nun einmal inne wohnen) bleiben davon unberührt.
So bekommt die Mär, dass man das Böse irgendwo bekämpfen müsse, um das Gute siegen zu lassen, immerfort neue Nahrung. Weil das Böse irgendwo halt die eigene Reinwaschung vermittelt, den bequemen Weg, das eigene Leben im Prinzip unverändert so weiterleben zu können und sich dabei ein trügerisches, beruhigendes GUTES Gefühl einzureden. Der Kampf gegen das Böse da draußen wird so zur Vermeidungshandlung des Kampfes im Selbst. Das kann man gern so weiterführen, nur wird dadurch in Wirklichkeit nichts aber auch GAR NICHTS GUT, so sehr man auch dem Phantom des Bösen die Schuld für die eigene Unterlassung in die Schuhe schieben mag.
Bleiben Sie in dem Sinne schön aufmerksam.
Quellen:
[1] Hannah Arendt: Denktagebuch 1950–1973. Hg. Ursula Ludz & Ingeborg Nordmann in Zusammenarbeit m. d. Hannah-Arendt-Institut Dresden. Band 1, München & Zürich 2002, S. 7
[2] 14.8.2017; https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Religion_innerhalb_der_Grenzen_der_blo%C3%9Fen_Vernunft#Das_Prinzip_des_B.C3.B6sen_und_des_Guten
[3-11] 13.8.2017; Die Radikalität des Herzens; https://www.crystallin.de/Philosophie.html; s.a. Einführende Gedanken in das Werk von Carlos Castaneda und die Lehren des Don Juan; Christian Raab u. Olaf Sosath Gbr; 2017; Craft Verlag; ISBN 978-3-9810764-3-1; https://www.thalia.de/shop/home/artikeldetails/die_radikalitaet_des_herzens/christian_raab/ISBN3-9810764-3-5/ID61555686.html