Das Große Gesetz des Friedens

Wollen wir unsere Demokratie im Sinne echter Gleichberechtigung erneuern, kann uns das traditionelle Gesellschaftsmodell der Irokesen als Vorbild dienen.

Das Große Gesetz des Friedens hat sechs Nationen über Jahrhunderte Frieden, Gerechtigkeit und Gleichheit gebracht. Es war ein ausgeklügeltes Modell, das auf Konsens, Respekt und Fairness wie auch einem Gleichgewicht zwischen Mann und Frau beruhte, aber auch der Souveränität sowie der Freiheit des Einzelnen große Bedeutung einräumte. Diese alten, indigenen Prinzipien des nordamerikanischen Nationenbündnisses der Irokesen können uns bei der Transformationen in eine echte freiheitlich-demokratische Grundordnung den Weg weisen.

Mir stellt sich aktuell die Frage, wie wir das gescheiterte Demokratie-Modell reparieren oder revolutionieren, um wirklich zu einem besseren, gemeinsamen Leben zu gelangen. Vorwürfe oder Kritik an unserem aktuellen Gesellschaftsmodell sind legitim und aktuell besonders wichtig. Ebenso bedeutsam ist jedoch die Vision einer anderen Art des Zusammenlebens. So können wir mit der Kraft einer Vision von etwas Besserem die nächsten Schritte in die Zukunft gehen und diese somit zum Wohle Aller gestalten. Dafür braucht es meiner Ansicht nach die Offenheit, radikal — also an die Wurzel gehend — zu forschen, wie es auch in der einzigen deutschsprachigen Dissertation geschrieben steht, die sich ausschließlich und umfangreich dem Thema der irokesischen Demokratie widmet.

„Die auch unter Intellektuellen weit verbreitete Abwehr des Gedankens, demokratische Regierungsformen könnten einen anderen historischen und geographischen Ort als die europäische Antike haben, stellt eine Barriere dar, die überwunden werden muss (…)“ (Thomas Wagner, Irokesen und Demokratie).

In diesem Artikel soll es um die demokratischen Strukturen und Abläufe des nordamerikanischen Bündnisses der sechs Nationen, auch Haudenosaunee genannt, gehen, das circa 3 Jahrhunderte vor der Ankunft der Europäer auf Grundlage des Großen Gesetzes des Friedens gegründet wurde. Das alte Wissen um dieses Gesetz scheint von unschätzbaren Wert für ein gänzlich neues beziehungsweise sehr altes Demokratieverständnis und für eine echte freiheitlich-demokratische Grundordnung.

Die Doktrin der Entdeckung — das falsche Narrativ eines unbesiedelten Kontinents

Als Columbus 1492 in San Salvador landete, befanden sich auf dem nordamerikanischen Kontinent zwischen 5 und 15 Millionen indigene Bewohner, die er fälschlicherweise Indianer nannte. Es existierten Nationen, die regionale, eigene Kulturen, Regeln und Normen entwickelt hatten wie auch praktizierten und in diplomatischen Beziehungen zueinander standen. Höchst erstaunlich für die ankommenden, hierarchie- und herrschaftsgewohnten Europäer, fanden diese zunächst wenig bis keine Hierarchien vor.

Es gab auch kein Militär und keinen aufgeplusterten Regierungsapparat, der die Menschen unterdrückt oder beherrscht hätte. Der Versuch, jemand anderen von der eigenen Religion oder dem eigenen Weltbild zu überzeugen, galt als starker Affront. Jede Person war natürlicherweise mit freiheitlichen Rechten und Souveränität über die eigene Lebensführung ausgestattet.

„Keine Gruppe, kein Individuum hat gegenüber irgendeiner anderen Vereinigung eine herrschaftliche Weisungsbefugnis. Das gilt für das Verhältnis von höher- zu niedrigstufigeren Integrationsebenen, z. B. zwischen Bundesrat und National- oder Stammesversammlungen, aber auch für das von Clan-Versammlung zu Ohwachira usw. Der ‚Graswurzelcharakter‘ der irokesischen Demokratie verbindet das Prinzip der Herrschaftslosigkeit mit der Institutionalisierung von Autoritätspositionen, ohne dass hiermit Weisungsbefugnisse gegen das Widerstreben der untergeordneten Ebenen durchgesetzt werden können“ (Thomas Wagner, Irokesen und Demokratie).

Jedem stand frei, an das zu glauben, was er oder sie für richtig hielt. So sollte vermieden werden, dass es zeitaufwendige und spaltende Diskussionen um verschiedene Weltanschauungen gab. Oren Lyons, Führer und Bewahrer des Wissens der Onondaga — eine der sechs Nationen — formulierte es im Jahre 1992 anlässlich des Jahres für indigene Bevölkerungen vor der Vereinten Nationen folgendermaßen:

„Wir lebten zufrieden unter dem großen Gesetz des Friedens. Uns wurde gelehrt Gesellschaften zu gründen, die auf den Prinzipien Freiheit, Fairness, Gerechtigkeit und auf der Kraft des guten Verstandes fußten. Unsere Gesellschaft basierte auf großartigen demokratischen Prinzipien, der Autorität der Menschen und gleichwertiger Verantwortlichkeit von Männern und Frauen. Es war ein großartiges Leben auf dieser Schildkröteninsel und Frieden mit Respekt war überall“ (1).

Als europäische Siedler nach Amerika kamen, stießen sie dort eben nicht auf einen unbesiedelten Kontinent mit ein paar wilden Primitiven. Sie trafen vielmehr auf das starke und vereinte Bündnis der Nationen. Doch ganz im Sinne der europäischen Herrschaftsgeschichte machten sie sich auf den Weg, das Land und dessen Einwohner zu beherrschen. Koste es, was es wolle!

Nach einem umfassenden Genozid der grausamsten Art und Weise lebten am Ende des 19. Jahrhunderts dort lediglich noch rund 238.000 Indigene. Die europäischen Ankömmlinge nahmen sich das Recht, jegliches nicht nach ihren Vorstellungen genutzte oder freie Land zu rauben und im Namen der Kirche sowie der Zivilisierung unfassbare Verbrechen an den ursprünglichen Bewohnern des nordamerikanischen Kontinents zu begehen. Sie bedienten sich jedoch auch frei am bestehenden Demokratiemodell der Irokesen.

Der Weg des Friedensstifters

Chief Jake Swamp erklärt, wie dieses entstand:

„Die kraftvolle Geschichte der Geburt der Demokratie beginnt vor sehr langer Zeit. Am Anfang, als unser Schöpfer die Menschen machte, war für alles Lebensnotwendige gesorgt. Unser Schöpfer bat nur um eines:

‚Vergesst niemals, die Geschenke der Mutter Erde zu schätzen!‘ Wir wurden gelehrt, dankbar zu sein und zu überleben. Aber vor 1000 Jahren, während einer sehr dunklen Zeit unserer Geschichte, hörten die Menschen nicht mehr auf diese ursprünglichen Unterweisungen. Unser Schöpfer wurde traurig, denn es gab viel Verbrechen, Unehrlichkeit, Ungerechtigkeit und Krieg. Also sandte der Schöpfer den Friedensstifter mit der Botschaft, rechtschaffen und gerecht zu sein. Und eine gute Zukunft für die Kinder und die kommenden sieben Generationen zu machen. Er rief alle Kriegsparteien zusammen und sagte ihnen: ‚Solange getötet wird, wird es keinen Frieden geben. Es ist eine gemeinschaftliche Anstrengung notwendig, damit sich Frieden durchsetzen kann.‘

Durch sein logisches Denkvermögen und seine spirituellen Möglichkeiten inspirierte er die Krieger, ihre Waffen zu begraben und auf ihnen den Baum des Friedens zu pflanzen. Dann gründete er das Große Gesetz des Friedens und vereinte die ursprünglichen fünf Nationen. Das große Gesetz fußte auf demokratischen Prinzipien, die persönliche Freiheit und Grundrecht versicherten und ein dreiteiliges System, bestehend aus Exekutive, Legislative und Judikative, erschufen. Benjamin Franklin nannte diesen Verband der Irokesen ein ‚beeindruckendes Bündnis von Nationen‘“ (Chief Jake Swamp, The U.S. Constitution and the Great Law of Peace).

Die Irokesen sind ein Verbund aus ursprünglich fünf und später sechs Nationen, die nach langer kriegerischer Auseinandersetzung vereint wurden. Dieses Bündnis bestand ursprünglich aus den Mohawk, Seneca, Onondaga, Cayuga und Oneida. Im Jahre 1772 folgte das Volk der Tuscarora. Im 12. Jahrhundert hatten sich diese Nationen im Krieg befunden, es herrschten Zwietracht und Missgunst sowohl zwischen den als auch innerhalb der einzelnen Gruppen. Es war offenbar eine fürchterliche Zeit, voller Gewalt und Hass.

In dieser düsteren Epoche erschien ein Mann auf der Bildfläche, der innerhalb von 40 Jahren alle verfeindeten Stämme besuchte und ihre Führungspersönlichkeiten dazu brachte, sich gemeinsam zu versammeln. Dieser Friedensstifter überbrachte allen 50 Chiefs seine Botschaft des Friedens und der Einigkeit. Er erreichte, was unmöglich erschien: die fünf bis aufs Blut verfeindeten Nationen unter dem Großen Gesetz des Friedens zu vereinen.

Sie begruben ihre Waffen unter einer großen, weißen Kiefer, deren Äste ausladend wuchsen und jeder Nation, die sich dem Frieden verschrieb, Schutz boten. Diese Kiefer stand am Onondaga-See im Staat New York. Ihre Wurzeln reichten in die vier Haupthimmelsrichtungen und wurden Wurzeln des Friedens genannt. Der Legende nach saß im Wipfel der Kiefer ein Adler, der mit wachsamem Blick in die Weite spähte, um nahende Gefahren zu entdecken. Als Symbol der Einheit diente ein Bündel aus fünf Pfeilen, die für die fünf Nationen standen. Diese waren umwickelt, und ihre so hergestellte Einigkeit gab ihnen die Widerstandskraft, nicht mehr leicht gebrochen werden zu können. Dieser neu gegründete Verbund nannte sich Haudenosaunne, die Menschen des Langhauses — auch bekannt als Irokesen.

Die Einflusstheorie — Lernen die Europäer von den Indigenen?

„Eines der wenigen, kleinen Geheimnisse der Gründerväter ist der Fakt, dass sie ein demokratisches Modell nicht in England, Frankreich, Italien oder einer anderen sogenannten ‚Wiege der Demokratie‘ fanden. Thomas Jefferson, Benjamin Franklin und andere entdeckten bei den amerikanischen Indigenen die älteste partizipative Demokratie auf der Erde (…)“ (The U.S. Constitution and the Great Law of Peace).

Unter der sogenannten Einflusstheorie versteht man die Fragestellung, inwiefern die Europäer durch den Kontakt mit der indigenen Lebensweise in ihren Vorstellungen von Demokratie, Freiheit, Gleichberechtigung und Souveränität beeinflusst wurden.

Dem ging auch der Geschichtsprofessor Gregory Schaaf nach — und fand aufgrund eines Zufalls Erstaunliches heraus. Es muss sich für ihn wie die Entdeckung des Heiligen Grals angefühlt haben, als er im Jahre 1977 einen Karton auf einem Dachboden öffnete und darin sehr bedeutende Dokumente fand.

Zuvor hatte Susannna Morgan mit ihm Kontakt aufgenommen. Deren Ehemann war der Ur-Ur-Ur-Urenkel von George Morgan. Jener wiederum war der erste Indianer-Agent beim sogenannten kontinentalen Kongress gewesen, einer Vereinigung aus Delegierten der 13 Kolonien, die die amerikanische Revolution gegen England vorbereitete.

Schaaf traf Susanna Morgan mehrere Male und sichtete das vorhandene Material. Darunter befanden sich Briefe von George Washington, Thomas Jefferson, Benedict Arnold und John Hancock. Es kam zu mehreren Treffen zwischen Schaaf und Susanna Morgan. Eines Tages erwähnte sie, dass sie noch einen Karton mit Dokumenten auf ihrem Dachboden habe, der ihn interessieren könnte. Am Boden dieser Box fand Schaaf die 73 fehlenden Seiten eines privaten Tagebuchs von George Morgan. Diese beschrieben, was geschah, nachdem dieser beauftragt worden war, im Jahre 1776 die erste Indianer-Agentur — also einer Art Vermittlungsstelle zwischen Indigenen und Amerikanern — zu gründen.

Aus diesen Dokumenten und aus der oral tradierten Geschichtsschreibung der Irokesen geht nicht nur hervor, dass die „[…] Irokesen zweifellos erheblichen Aufwand betrieben haben, um zwischen den beiden Seiten der Amerikanischen Revolution Frieden zu stiften“, so Schaaf. Die amerikanische Revolution war die Ablösung der Siedler von der britischen Krone und der Beginn der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten von Amerika. Weiterhin bestätigten diese und andere Dokumente, dass die europäischen Siedler von der Konföderation der Sechs Nationen und ihrer föderalen Struktur wie auch von deren Verständnis in Bezug auf Freiheit und Souveränität beeindruckt waren. Diese Begeisterung scheint so groß gewesen zu sein, dass sie in Form aufklärerischer Gedanken und Ideen ihren Weg zurück nach Europa fand:

„Das moderne Europa entwickelte sich unter dem Einfluß unserer Ideen. Impulse aus dem amerikanischen halfen mit, das göttliche Recht der Könige und des Adels in Frage zu stellen. Die Aufzeichnungen der Jesuiten gaben der Intelligenzia in Frankreich neue Nahrung, und unser Demokratiebegriff beeinflußte die französische Revolution. Ob Jean Jacques Rousseau oder ein Jahrhundert später Friedrich Engels, sie erhielten geistige Anstöße von uns.

Im großen Gesetz des Friedens, der Verfassung der Haudenosaunee, ist die Freiheit der individuellen Meinungsäußerung eines der tragenden Prinzipien. Die heutige Pressefreiheit in Nordamerika und Europa ist eine Fortsetzung der Redefreiheit, die es vor eurer Entdeckung Amerikas nicht gab. Ebenso wenig gab es bei euch Religionsfreiheit. Diese Gedanken der Freiheit kommen nicht nur aus dem Langhaus der Haudenosaunee, sie waren Bestandteil aller indianischen Stammesgesellschaften, sie waren an vielen Plätzen der Welt zu finden, nur nicht im Europa des 15. und 16. Jahrhunderts. Es war der europäisch-indianische Kontakt, der eure Gesellschaft unterwanderte“ (John Mohawk Sotsisowah, Brief an die Europäer).

Im Folgenden beschreibe ich, worum es sich dabei konkret handelt.

Blaupause für eine echte freiheitlich-demokratische Grundordnung

Egalitäre Konsensdemokratie

„Sichtbar wurde die Kontur einer herrschaftslosen Gesellschaft, deren politische Seite, nämlich die Sphäre institutionalisierter Entscheidungsfindung, als egalitäre Konsensdemokratie bezeichnet werden kann. Gemeint ist ein vielstufiges politisches Gebilde, in dem politische Führung immer an die Zustimmung der Geführten gebunden blieb und höhere Instanzen gegenüber untergeordneten über keinerlei Weisungsbefugnis verfügten. Das Verhältnis von Befehl und Gehorsam spielte weder in politischen noch in häuslichen Belangen eine Rolle, und das Verhältnis der Geschlechter gründete sich auf eine egalitäre Machtbalance“ (Thomas Wagner, Irokesen und Demokratie).

Wie oben bereits beschrieben, wissen die wenigsten, dass die Gründerväter sozusagen bei den Haudenosaunee in die Lehre gingen, um die Anwendung des Großen Gesetzes des Friedens auf nationaler und internationaler Ebene zu erlernen.

Ein wichtiges Fundament dieser Gesellschaftsform war der Konsens. Heutzutage unvorstellbar ist der Versuch, die Belange aller Menschen, die es betrifft, zu integrieren, um eine Lösung zu finden, die für alle gangbar ist.

Aus meiner persönlichen Erfahrung vieler Monate gemeinschaftlichen Lebens in der nordamerikanischen und skandinavischen Wildnis kann ich nur bestätigen, dass auf lange Sicht eine Gemeinschaft besser funktioniert, wenn es nicht wiederholt eine kleine Minderheit gibt, die mit Entscheidungen unzufrieden ist und sich deshalb als Verlierer fühlt. Die indigene Clanmutter Alice Piel formuliert dies folgendermaßen:

*„Sie haben nicht die Macht wie die Staatsoberhäupter in euren Demokratien, in denen immer eine Minderheit zu kurz kommt. Sind unsere Häuptlinge in politischer Mission unterwegs, sei es bei den Lakota in South Dakota oder bei der UNO in Genf, können sie nur vortragen, was im Konsens unter Beisein von uns Clanmüttern besprochen wurde; stellt sich ein neues Problem, das eine Entscheidung verlangt, müssen sie es zu uns zurück ins Langhaus tragen“ (2).

Es war im Verbund der Haudenosaunee normal, dass sich jeder Mann und jede Frau bei großen Versammlungen Gehör verschaffen konnte und sein oder ihr Anliegen öffentlich mitteilte. Partizipation und das Selbstverständnis, mitreden zu dürfen, waren also Grundpfeiler des gemeinschaftlichen Zusammenlebens. Verstörend für die Europäer war indes immer wieder, dass bei Verhandlungen zwischen ‚Weißen‘ und Chiefs unangekündigt Menschen auftauchten, die ganz selbstverständlich zuhörten und sich selbst äußern wollten.

„Die Meinungsfreiheit war ein Recht, welches so tief in die Lebensweise der Irokesen eingebettet war, dass es keine Erwähnung in der Verfassung braucht. Brennende Feuer, verteilt über das ganze Territorium der Sechs Nationen, symbolisierten das Recht auf öffentliche Diskussionen. Zusätzlich zum großen Ratsfeuer am Onondaga-See gab es Feuer in jeder Nation, jedem Clan und bei jeder Familie. Die Frauen hatten ihre Feuer, genauso wie Männer ihre Feuer hatten“ (3).

Die Rolle der Frauen

„Von der Wildheit zur Zivilisiertheit
Wir, die Frauen der Irokesen,
besitzen das Land, das Haus und die Kinder.
Wir haben das Recht zur Adoption zum Leben und zum Tod.
Wir haben das Recht, Führer zu benennen und sie abzusetzen.
Wir haben das Recht, Abkommen zu schließen und zu kündigen.
Wir haben die Aufsicht über Innen- und Außenpolitik.
Wir haben die Treuhandschaft über das Stammeseigentum.
Unsere Leben sind ebenso wertgeschätzt wie die der Männer“
(4).

Als europäische Siedler erstmals nach Amerika kamen, trafen sie auf Gesellschaften, in denen Frauen gleichwertig beziehungsweise gleichwürdig behandelt wurden und sich Machtpositionen gleichberechtigt mit den Männern teilten. Wie auch das fast gänzliche Fehlen von Hierarchien und Unterdrückungsstrategien gegenüber der Bevölkerung, muss diese ebenbürtige Rolle der Frauen auf die Europäer nachhaltig Eindruck gemacht haben.

Der Nationenverbund der Haudenosaunee war eine matrilineare Kultur. Das Langhaus der jeweiligen Familie und das dazugehörige Land gehörten der Frau und Mutter. Die Zugehörigkeit zu einem Clan basierte auf der Abstammungslinie der Mutter und nicht des Vaters. Im Jahr 1875 schrieb die Frauenrechtlerin und Aktivistin Matilda Joslyn Gage:

„Nie war Gerechtigkeit perfekter und nie war die Zivilisation höher entwickelt als unter dem Matriarchat. Unter diesem System erreichte die Gesellschaftswissenschaft ihre weltweit höchste Form“ (5).

Das Große Gesetz des Friedens sah vor, dass es einen Rat der Clanmütter gab. Aufgabe dieses Rates war es unter anderem, neue Chiefs vorzuschlagen. Im Gegensatz zur Monarchie war es nicht möglich, dass der Sohn des Chiefs ohne Kontrolle durch das Volk ebenfalls zum Chief wurde. Die Clanmütter suchten nach Führungspersönlichkeiten, die mitfühlend, demütig, intelligent und kritikfähig waren, um diese als neue Führer vorzuschlagen. Letztere mussten dann im weiteren Prozess vom Rat der Clanmütter und zuletzt von der ganzen Nation mittels Konsensdemokratie bestätigt werden.

Eine weitere Aufgabe der Frauen war das Überwachen der aktiven Chiefs und ihrer Entscheidungen. Sollte sich ein Chief durch ein Verhalten oder Entscheidungen hervortun, die nicht dem Leben dienen, hatten die Clanmütter die Möglichkeit, ihn zu verwarnen. Hier sei erwähnt, dass Entscheidungen bei den Irokesen auf dem Sieben-Generationen-Prinzip fußten. Das bedeutet, dass ein Beschluss im Hinblick auf das Wohl der kommenden sieben Generationen zu fällen war.

Sollte der angesprochene Chief nach einer Verwarnung erneut mit ähnlichem Verhalten auffallen, gab es ein Gespräch mit den Clanmüttern, um dies zu thematisieren. Bei einem weiteren Verstoß war es dem Rat der Clanmütter möglich, den Chief auf Konsensbasis umgehend seines Amtes zu entheben.

Frauen saßen außerdem in den Räten, in denen es um Krieg und Frieden ging. Sie konnten darüber befinden, ob ein Krieg wirklich sinnvoll und angebracht war. Auch das mussten sie im Konsens entscheiden. Ein weiterer großer Unterschied zur modernen US-amerikanischen Gesellschaft ist die Tatsache, dass der oberste Gerichtshof der Irokesen ausschließlich von Frauen besetzt und die Judikative somit hauptsächlich weiblichen Personen anvertraut war.

Ein Teil der feministischen Bewegung in den USA geht auf die Beobachtung indigener Frauen und ihrer Rolle in der Gesellschaft zurück.

Im Jahr 1891 sprach Elizabeth Cady Stanton vor dem nationalen Rat der Frauen, der ältesten konfessionsunabhängigen Organisation von Frauen in den USA, und erwähnte in ihrer Rede neben anderen indigenen Gesellschaften explizit auch die Haudenosaunee. Sie endete dabei wie folgt:

„Abschließend würde ich sagen, dass jede Frau hier ein neues Gefühl der Würde und Selbstachtung haben sollte in dem Wissen, dass unsere Mütter über lange Zeit herrschende Macht besaßen und diese im Interesse der Menschheit einsetzten (…) nicht für eine weibliche Vormachtstellung, sondern für das bis jetzt nicht erprobte Experiment vollständiger Gleichberechtigung. Wenn die vereinigten Gedanken von Mann und Frau eine gerechte Regierung einführen, eine pure Religion, ein zufriedenes Zuhause, eine Zivilisation, in welcher Ignoranz, Armut und Verbrechen nicht mehr existieren“ (6).

Am 18. August 1920 wurde Frauen in den USA erstmals das Wahlrecht zugestanden.

Die Qualitäten von Führungspersönlichkeiten

„In meiner Gemeinschaft hat Führungskompetenz — bei uns bekleiden Männer und Frauen das Amt eines Führers oder einer Führerin — mit der Fertigkeit zu tun, wie gut diese Person jedem zuhören kann und wie diese Person versteht, welche Dinge ablaufen, die vielleicht falsch sind oder Konflikte auslösen können und deshalb eine Gefahr für die Gemeinschaft darstellen. Unser Wort für Führer bedeutet, jemand zu sein, der viele Fäden zusammenhalten kann und diese in einem Strang verknüpfen kann.

Ein Strang bedeutet dabei Einigkeit im Gleichgewicht mit dem Land. Es bedeutet, dass diese Person eine besondere Fähigkeit dafür haben muss, zu fühlen, was die Gemeinschaft sagt, eine besondere Fähigkeit, zu verstehen, was gesagt wurde, und zu wissen, welche Dinge gerade ablaufen, um all das zusammenzufassen und es den Menschen zu erzählen. Es geht also um Kommunikation und darum, in der Lage zu sein, zuzuhören, um es dann für andere verständlich zusammenzufassen. Sodass diese dann sagen können: ‚Ja! Das ist es! ‘

Es geht nicht darum, anderen zu sagen, was sie zu tun haben, oder andere zu führen oder zu zwingen. Es geht darum, das zu versprachlichen und gesammelt auszudrücken, was die Gemeinschaft fühlt, denkt und erinnert und daraus ein Voranschreiten möglich zu machen. Unser System verlässt sich auf diese Art der Wechselbeziehung und diese Art der Kommunikation“ (Dr. Jeanette Armstrong, Sylix).

Wenn ich mir heutzutage Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft anschaue, erblicke ich selten Persönlichkeiten, deren Aussagen oder Vorbilder mich tief berühren. Ich erlebe Rechthaberei, Voreingenommenheit, Selbsterhöhung und damit einhergehende Abwertung Anderer. Außerdem erlebe ich die Unfähigkeit, Fehler einzugestehen, und eine Art Abgehobenheit, die die Führenden dem wahren Leben und den Bedürfnissen der Menschen entfremdet. Selten sehe ich jemanden, von dem ich behaupten würde, diese Person habe sich auf den Weg gemacht, um eine starke Persönlichkeit zu entwickeln, und sie sei bereit, ihren Ruf zu verlieren, um ihrem Gewissen treu zu bleiben. Es kommt mir oftmals wie in den früheren Zeiten des Adels vor, wenn ich schwarze Limousinen von Politikern vor Ministerien parken sehe und die Insassen von Sicherheitsleuten durch den vermeintlichen Pöbel begleitet werden.

Durch mein 15-jähriges Studium indigener nordamerikanischer und ostafrikanischer Kulturen habe ich entgegen dieser aktuellen Zustände immer wieder festgestellt, dass Eigenschaften wie Respekt, Demut, die Fähigkeit zuzuhören und ein integrativer Ansatz hochgeschätzte Qualitäten von Führungspersonen waren. Oren Lyons, Chief der Seneca Nation und damit Teil des Bündnis der Sechs Nationen, sprach im Jahre 1992 vor den Vereinten Nationen und beschrieb die erforderlichen Führungskompetenzen wie folgt:

„Unsere Führungspersönlichkeiten wurden darin geschult, Menschen mit Visionen zu sein und jede Entscheidung im Interesse der kommenden sieben Generationen zu fällen. Sie sollten Mitgefühl und Liebe für die ungeborenen Generationen haben“ (7).

Es braucht demnach gänzlich neue oder sehr alte Modelle, um sicherzustellen, dass Menschen in Führungspositionen gelangen, die hinreichende innere Reife und Bewusstheit entwickelt haben, um in der Lage zu sein, für das Gemeinwohl zu handeln.

Ferner braucht es Systeme und Abläufe, die Führende immer wieder daran erinnern, dass ihre Macht ihnen von den anderen Menschen geliehen wurde, um jenen zu dienen. Genau das ist im alten Modell der Irokesen der Zweck der Konsensdemokratie, des Rates der Clanmütter und der radikalen Meinungsfreiheit.

„Denn alle Führungspositionen müssen ohne Erzwingungsstäbe auskommen und bleiben grundlegend von der Zustimmung von Gefolgschaften abhängig, als deren bloßes Sprachrohr sich zu verstehen sie verpflichtet sind. Das Prinzip der Versammlung, in dem Face-to-Face-Kommunikation die allgemeine Informiertheit aller von den Entscheidungen Betroffenen über den politischen Prozess und darüber hinaus die Partizipation an solchen Entscheidungen ermöglicht, strukturiert die formalen und informalen politischen Zusammenkünfte auf allen gesellschaftlichen Ebenen (…).

Die Inhaber eines der vielen gesellschaftlichen Ämter, insbesondere aber die männlichen wie weiblichen Führungspersönlichkeiten und ‚Häuptlinge‘ hatten keine Möglichkeit, ihre Entscheidungen gewaltsam durchzusetzen, mußten um die Zustimmung ihrer Gefolgschaften ringen. In der Regel war ihre Aufgabe die konsensfähige Bündelung von Argumenten für eine von möglichst allen Beteiligten tragbare Entscheidung. Wer nicht zustimmen wollte oder konnte, war daran nicht gebunden“ (Thomas Wagner, Irokesen und Demokratie).

Am Ende meiner Ausführungen zu den konkreten Inhalten des großen Gesetzes des Friedens möchte ich noch einmal auf die Gründerväter der USA und ihre Verfassung zurückkommen. Mit dem Wissen von heute erkennen wir in diesem Dokument den Einfluss der nordamerikanischen Indigenen. Die Gründerväter, eine reine Männergruppe, hatten sich jedoch auch entschieden, wichtige Elemente daraus nicht zu übernehmen. Dazu zählen die Konsensdemokratie und die bedeutsame Rolle der Frauen in der Gesellschaft.

Schlussbetrachtung

Es scheint, dass die Menschen in der westlich-demokratischen Welt schon so lange ohne echte Mitbestimmung in einer machtdurchtränkten und entarteten Scheindemokratie leben, dass wir vergessen haben, was uns eigentlich zusteht. Eingelullt in Wahlkampfverhalten, Politikersprech, Ablenkung und Konsum sind wir unseres Potenzials beraubt worden — und haben es uns nehmen lassen. Wir haben uns daran gewöhnt, machtlos zu sein.

Ich empfinde es als höchst dringlich, dass jeder und jede ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass wir alles Notwendige in unseren Händen halten, um ein friedliches Miteinander zu erschaffen. Teile der notwendigen, neuen Strukturen dafür sind im Großen Gesetz des Friedens zu finden. Lassen Sie uns auf niemanden warten, diese Prinzipien zu leben, sondern fangen wir in unserer Nachbarschaft an!

Nutzen wir unsere Energie nicht nur für den Widerstand gegen das Lebensfeindliche, sondern schöpfen wir Mut, indem wir alte, ursprüngliche Prinzipien des Lebens wiederentdecken und diese lebendig werden lassen! Unsere Entscheidungen wie auch unsere Haltung, nichts zu tun beziehungsweise zu warten, bis andere etwas tun, beeinflussen das Wohlergehen der kommenden sieben Generationen. Ein indigener Ältester sagte einmal zu mir: „Du bist nur so lange unschuldig, so lange du nicht weißt.“ Sobald ich um Dinge weiß, die der Gemeinschaft dienen können, ist es auch meine Verantwortung, diese Dinge in Handlungen zum Ausdruck zu bringen.

Um mit einer letzten indigenen Weisheit zu enden, zitiere ich den hawaiianischen Ältesten Kalani Souza: „The knowing is in the doing.“

Das Wissen steckt im Tun!

In Dank an die Vorfahren, die indigenes Wissen unter schwersten Bedingungen bewahrt haben, und in liebevoller Verbundenheit für die Kinder, Enkel und Urenkel der kommenden Generationen. Denn ihnen steht eine Welt zu, in der ein gutes Leben möglich ist.


Hier können Sie das Buch bestellen:Auf Spurensuche nach Natürlichkeit


Quellen und Anmerkungen:

(1) Oren Lyons, Voice of indigenous Peoples, Native People Address the United Nations, S. 33
(2) Dewasenta, die Clanmutter des Aal-Clans; amerikanischer Name: Alice Papineau, in: https://oya-online.de/article/read/235-Von_den_weissen_Wurzeln_des_Friedens.html
(3) Iroquois book of life, White roots of peace, S. 73
(4) Puck, 16. Mai 1914, Native America and the evolution of Democracy, S. 233
(5) New York Evening Post, 24. September 1875
(6) Exemplar of Liberty, Native America and the evolution of democracy, S. 232
(7) Oren Lyons, Voice of indigenous Peoples, Native People Address the United Nations, S. 33

Literatur- und Quellenverzeichnis:

https://www.haudenosauneeconfederacy.com/influence-on-democracy/
https://whatdoesdemocracylooklike.wordpress.com/2013/05/18/iroquois-democracy/
https://oya-online.de/article/read/235.html
https://mollylarkin.com/u-s-constitution-great-law-peace/
https://www.thegreatpeacemakers.com/iroquois-great-law-of-peace.html
https://www.g-geschichte.de/neuzeit/irokesen/
http://www.indianer-web.de/nordost/irokesen.htm
http://www.amaxpro.com/DivaLyri/IroquoisConfederacy-The-Great-Law-of-Peace.pdf
https://www.graswurzel.net/gwr/2005/04/der-irokesenbund-als-egalitare-konsensdemokratie-2/
https://www.onondaganation.org/mediafiles/pdfs/un/Doctrine%20of%20Discovery.pdf
https://ratical.org/many_worlds/6Nations/OLatUNin92.html
https://haudenosaunee1.weebly.com/economic-structurepeacemaking.html
https://en.wikipedia.org/wiki/American_Revolution