Das Geschichts-Projekt

„Erzähl mir deine Geschichte!“, lautet der Appell eines ost-west-deutschen Erinnerungsprojektes.

Die Autorinnen Katrin McClean und Andrea Drescher sammeln Geschichten von Menschen aus Ost und West, die vor 1989 im geteilten Deutschland gelebt haben. Hier schreiben sie, wie es dazu kam und was sie damit erreichen möchten.

Katrin

Erst vor wenigen Tagen habe ich es wieder erlebt: Mein Mann und ich gehen in Hamburg essen, am Nebentisch zwei Frauen, die das Programm eines Filmfestivals vor sich liegen haben, neugierige, offene Menschen — so scheint es. Sie reden über dies und das und landen schließlich bei ihrer Sorge über „die Rechten im Osten“ und nun beginnt die eine der anderen — für uns gut hörbar — zu erklären, dass es aufgrund der Allgegenwärtigkeit der Stasi in der DDR nie zu einer Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gekommen sei. Sie hat das mehrfach gehört und gelesen, und deshalb muss es ja stimmen.

Vergessen die Tatsache, dass die Überwindung des Faschismus die grundlegende Ideologie des DDR-Sozialismus war, und dass fast alle Nazis vor den strengen Entnazifizierungsprogrammen im Osten geflohen waren.

Geleugnet, dass unsere Erziehung und Schulbildung zutiefst geprägt waren von der Erinnerung an die Opfer des Faschismus und an die Gräueltaten der Nazis, und dass man früher einmal genau das der DDR als „Propaganda“ vorwarf. Ignoriert, dass die Aufarbeitung der Nazi-Zeit zum DDR-Kulturgut gehörte, dass auch die Frage des Mitläufertums wieder und wieder Thema berühmter DEFA-Filme war. Nichts davon gab und gibt es für diese Frau an unserem Nachbartisch, für sie gibt es nur noch diese angelesene Behauptung, die sie mit wichtiger Miene wiederholt — und die mir die Sprache verschlägt, weil sie mit wenigen Sätzen mein ganzes Selbstverständnis für null und nichtig erklärt.

Solche und ähnliche Situationen erlebe ich als gebürtige Ostdeutsche wieder und wieder. Sie machen empfindlich, sie werden irgendwann unerträglich und sie fangen an, mein Verhalten zu prägen.

So geschehen auch in meiner ersten Begegnung mit Andrea Drescher beim ersten Pax-Terra-Musica-Festival. Wir kannten uns vorher schon über Facebook und kamen nun erstmals ins Gespräch.

Kaum hörte ich ein „Aber bei euch Ossis war das doch bestimmt so und so …“ von ihr, war ich schon fast „auf der Palme“, konterte aufgeregt: „Was weißt du schon …“. Und Andrea sagte: „Ja, woher soll ich es denn wissen? Erzähl es mir doch.“

Da war plötzlich ein ganz anderer Ton. Andrea will wirklich Fragen stellen. Sie will mir nicht erklären, was ich erlebt habe, so wie es so viele Westdeutsche immer wieder versuchen. Sie will es wirklich wissen, das Fragezeichen ist echt.

Das war unsere erste Begegnung. Und für mich der Anfang unseres Projektes, das wir hier dem Rubikon-Leser vorstellen wollen. Und weil es ein Projekt ist, in dem es ums Erzählen und um die Verständigung zwischen „Ossis und Wessis“ geht, wollen wir gemeinsam davon erzählen.

Andrea

„Unser Projekt“ ging für mich eigentlich in drei Schritten los — wobei Katrin erst ab der zweiten Phase eine Rolle gespielt hat. Phase 1 war mein eigener „Aufwachprozess“, der nun schon einige Jahre andauert. Als mir bewusst wurde, dass ich seit meiner Jugend bei sehr vielen politischen Themen durch Politik und Medien bestenfalls die halbe Wahrheit erfahren hatte, fing ich an, alles zu hinterfragen. Und wenn ich sage alles, dann meine ich alles. Eigentlich blieb nirgendwo mein altes Bild der Wirklichkeit erhalten. Alles stellte sich „irgendwie anders“ dar, nie ganz falsch, aber eben auch nie wirklich richtig. Seitdem bin ich überzeugt davon, dass es ganz viele Perspektiven der Wirklichkeit gibt — selbst wann man nicht belogen wird, was häufig genug auch der Fall war und noch ist.

Man sieht nur den Ausschnitt der Welt, den man gezeigt bekommt beziehungsweise den man, auf Basis der eigenen Erfahrungen und Lebenswelt, überhaupt bewusst zur Kenntnis nimmt.

Darum war ich bei Pax Terra neugierig auf Katrins Ausschnitte der Welt. Ich hatte inzwischen ja schon einige ostdeutsche Kontakte über Facebook näher kennengelernt und es war mir klar, dass da vieles war, was ich nicht kannte.

Phase 2 war für mich Katrins Rezension meines Buches „Wir sind Frieden“. Als sie schrieb, es gefiele ihr nicht, dass ich so wenige Ostdeutsche interviewt hätte, dachte ich: „Spinnt die?“ Ich bin ein Piefke in Ösiland. Ich denke doch nicht in solchen für mich „historischen“ Strukturen wie Ossi oder Wessi. Dieser Gedanke wäre mir nie in den Sinn gekommen. Ich wollte Menschen vorstellen, die etwas für den Frieden tun und wäre nie auf die Idee gekommen, dabei auf die Herkunft zu achten. Erst im Laufe unseres daraus resultierenden Mailverkehrs wurde mir klar, dass Katrin als „Ossi“ eben völlig anders sieht als ich und aufgrund ihrer Lebenserfahrung und Perspektive auf so etwas achtet.

Als wir dann eine Diskussion auf Facebook zu einem ähnlichen Thema hatten, schien es mir einfach wichtig, diesen Austausch auf etwas konkretere Füße zu stellen, eben Phase 3, zunächst nur unter uns. Wir fingen an, zu bestimmten Arbeitsthemen wie „Kindheit“, „Schule“ oder „Freizeit“ unsere Erinnerungen aufzuschreiben und einander zu schicken.

Ein Buch hatte ich natürlich schon im Hinterkopf, da ich ja schon mehrfach über Books on Demand publiziert habe. Dann kam die Idee, aus unserem Briefwechsel eine Lesung bei Pax Terra 2019 zu machen, in der wir die Besucher des Festivals einbeziehen könnten …

Ja und der Rest ist sozusagen eine „gemahte Wies‘n“, wie man in Österreich sagt. Ein Selbstläufer, einfach eine logische Konsequenz aus allem vorher. Wir machen die Einladung zum Mitschreiben nun öffentlich und suchen aktiv nach AutorInnen aus Ost und West.

Was ich aber witzig fand: In unserer Vorbesprechung zum Buch sagte Katrin, sie vermute, dass sie persönlich mehr Wessis als Ossis als Mitwirkende gewinnen würde.

Katrin

Ich bin 2001 nach Hamburg gezogen. Hier leite ich seit fast 20 Jahren Kurse für kreatives Schreiben und habe darüber sehr viele Menschen kennengelernt, die sich in ihrer Freizeit dem Schreiben widmen. Und das sind in Hamburg nun mal zum größten Teil Menschen mit westdeutscher Biografie. Es sind gerade diese Kurse, die für mich die Erfahrung bestätigen, dass jede Wahrheit mehrere Seiten hat. Und vor allem, dass alles Erlebte subjektiv ist.

Was man in Geschichtsbüchern liest, kann immer nur eine sehr grobe Darstellung von gesellschaftlichen Verhältnissen sein, in denen sich der Einzelne mit seinem Schicksal oft nur zum Teil, oder manchmal sogar nur zu einem ganz kleinen Teil wiederfindet. Trotzdem glaube ich, dass es wiederum nur die persönlichen Geschichten sein können, mit denen die große historische Geschichte jenseits von Zahlen, Daten, Fakten spürbar wird.

Und hier haben Andrea und ich schnell gemerkt, dass wir beide auch nur zwei ganz spezielle und eher untypische Vertreter aus Ost und West sind. Und das hat uns ziemlich bald auf die Idee gebracht, andere Menschen zu unserem Erinnerungsexperiment einzuladen. Schon jetzt hat unser Austausch meine Sichtweise auf den ehemaligen „Westen“ verändert und erweitert.

Mit den persönlichen Geschichten von Andrea werden mir Facetten und Brüche in der ehemaligen westdeutschen Gesellschaft deutlich, die ich bisher kaum wahrnehmen konnte. Vor allem wird mir deutlich, dass auch die BRD, in der Andrea gelebt hat, längst vergangen ist — fast genauso, wie die DDR vergangen ist.

Und natürlich finde ich, dass unser heutiger Medien- und Kulturbetrieb eine starke Selektion betreibt, wenn es um Erinnerungen an die DDR geht. Es geht fast immer um Stasi und um die Grenze oder vielleicht um Mangelwirtschaft.

Es ist ja richtig, dass davon erzählt wird, aber es gäbe so viel mehr über die DDR zu erzählen. Etwa vom Idealismus vieler Menschen in der DDR, die sich leidenschaftlich und aus vollster Überzeugung für eine bessere Gesellschaft einsetzen wollten. Überhaupt einmal davon, was Leben in einer Kollektivgesellschaft eigentlich bedeutete.

Ich habe neulich jemanden getroffen, der wusste nicht mal, wie man in einer entprivatisierten Wirtschaft einen Betrieb führen kann, also dass es da natürlich auch eine Betriebsleitung gab. Nur haben Betriebsdirektoren in der DDR eben kein Jahresgehalt in Millionen erhalten wie heute etwa ein Vorstandsmitglied, sondern ein Gehalt, das höchstens doppelt so hoch war wie das eines Arbeiters.

Man kann nur Vermutungen darüber anstellen, warum die positiven Seiten der DDR nicht dargestellt werden, und warum alles daran gesetzt wird, sie zum „Unrechtsstaat“ zu erklären. Solche Bewertungen nützen vor allem denjenigen, die als Firmen- oder Anteilseigner über ein enormes Privatvermögen verfügen. Ihnen kommt es sicher entgegen, dass man eine Gesellschaft, die der Privatisierung von Gewinnen den Hahn abgedreht hatte, so düster und negativ wie nur möglich darstellt.

Gibt es eigentlich in Bezug auf die ehemalige BRD Dinge, an die man heute auch eher wenig erinnert? Momentan kann man ja fast das Gefühl bekommen, die BRD hat es vor 1989 überhaupt nicht gegeben oder zumindest hat sich nicht das Geringste verändert. Alles, was an Beiträgen zum bevorstehenden Jahrestag des Mauerfalls kommt, sind doch fast nur Geschichten über den Osten.

Andrea

Da muss ich dir leider zustimmen. Irgendwie ging in den vergangenen Jahren „meine“ alte Bundesrepublik verloren — mit ihren guten, aber auch mit ihren Schattenseiten. Ersteres bemerke ich immer in Diskussionen mit Ostdeutschen, die im heutigen neoliberalen Wahnsinn genau das wiederfinden, wovor sie immer gewarnt worden waren. Eine asoziale Leistungsgesellschaft, in der nur die Reichen ein sicheres Auskommen haben, die Masse der Beschäftigten aber bessere Lohnsklaven sind und durch den Druck von drohender Arbeitslosigkeit und Hartz IV keinen Widerstand wagen. Aufstiegschancen für die, die ganz unten sind: nicht vorhanden. Ausgrenzung, Obdachlosigkeit — die hässliche Fratze des Kapitalismus eben.

Aber das kannte ich bis zur Maueröffnung auch nicht — beziehungsweise nur in sehr geringem Ausmaß. Aus welchen Gründen auch immer — mir hat sich die BRD bis 1989 völlig anders dargestellt. Vielleicht auch nur, um den Menschen im Osten eine Illusion vorzuspielen, um das westliche System möglichst attraktiv zu präsentieren, um damit den Sozialismus zu Fall zu bringen. Ich sage „vielleicht“, weil ich das nur vermute, aber nie beweisen kann — auch wenn ich inzwischen überzeugt davon bin.

Die BRD vor 1989 war eine Gesellschaft, die mir — aus finanzschwachen Verhältnissen kommend — den sozialen Aufstieg problemlos ermöglicht hat. Zwar mit viel Arbeit — aber gut, das Leben ist bekanntermaßen kein Ponyhof. Aber es gab in meiner Vorstellungswelt keine wirklichen Grenzen meiner Möglichkeiten, während die Perspektiven für Hartz-IV-Kinder heute bestenfalls als düster zu bezeichnen sind. Einmal unten, immer unten. So fühlt sich Deutschland heute für mich an.

In einer Diskussion mit einer Ostdeutschen hörte ich vor ein paar Monaten: „Ich will mein ,Sozial‘ aus dem Sozialismus wieder haben“. Ihr konnte ich nur erwidern: „Und ich will mein ,Sozial‘ aus der Sozialen Marktwirtschaft wieder haben.“

Was mir aber auffällt: Viele „Wessis“ haben die Schattenseiten der BRD ziemlich gut verdrängt. Vom KPD-Verbot über den Radikalenerlass und Berufsverbote bis hin zu Alt-Nazis in den Parlamenten und Regierungsämtern bis in die 80er Jahre hinein. Dann die ganzen Neo-Nazis, gegen die man Widerstand leisten musste. Ob Republikaner oder DVU — das war alles andere als lustig. Wenn man heute so tut, als ob es Faschos nur im Osten gäbe, kann ich nur mit dem Kopf schütteln. Faschos stellten für mich in Hessen, wo ich groß wurde, in den 70ern und 80ern eine richtige Bedrohung dar. Mit 16 war ich auf meiner ersten Demo gegen Rechts, 1979 gab es das erste Rock-gegen-Rechts-Festival — wenn ich mich richtig erinnere. Und diese Rechten gibt es immer noch „hüben“ wie „drüben“. Thematisiert wird aber — meinem Empfinden nach — nur der „böse rechte Osten“.

Etwas, was mir erst in den letzten Jahren wirklich bewusst wurde: Man bot uns im Westen die „Möglichkeit“, Dinge zu verändern, im Gegensatz zum „bösen Osten“, wo der Staat angeblich alles vorgab. Aber heute denke ich, das war doch nur eine Illusion. Ändern konnten wir wenig bis nichts. Die damalige Öko- und Antikriegsbewegung führte zwar zur Gründung einer grünen Friedenspartei, die den Namen noch verdient hatte — aber was hat es letztlich gebracht?

Heute stehen grüne Politiker wie Joschka Fischer oder Marieluise Beck für Krieg beziehungsweise für einen kriegerischen Konfrontationskurs und es gibt eine grüne Machtelite, die sich über Pöstchen freut, Spenden von Rüstungskonzernen annimmt und die Rodung des Hambacher Forstes genehmigt. Die Demos gegen AKWs haben letztlich auch zu nichts geführt; zum Ausstieg kam es erst nach Fukushima — Jahrzehnte später — und nicht aufgrund der Proteste. Die Betreiber der Anlagen wurden und werden massiv subventioniert, auch die finanziellen Risiken wie etwa für die Atommüllentsorgung hat jetzt ja wieder der Steuerzahler übernehmen dürfen.

Die Umweltsituation hat sich aber bis zum Mauerfall — meinem Eindruck nach — im Westen etwas positiver dargestellt als im Osten. Das war wohl ein Kotau an die Umweltaktivisten. Im Vergleich zu Bitterfeld und ähnlichen Umweltkatastrophen waren die BRD-Regierungen durch die Grünen und die Straße etwas unter Zugzwang. Oder sehe ich das falsch?

Katrin

Die Umweltbewegung in der DDR war eine wesentliche Kraft bei der Gründung des Neuen Forums in der DDR, denn hier lag wirklich vieles im Argen. Auch dazu gibt es vermutlich einige interessante Geschichten. Wir haben jetzt schon eine Menge Themen angerissen, die auftauchen, wenn man einen offenen und unbegrenzten Rückblick wagt. Da aber unser eigener Erfahrungshorizont auch nur einen Ausschnitt unserer jeweiligen Gesellschaft umfassen kann, ist es an dieser Stelle wohl am besten, den Leser einzubeziehen. Wie haben Sie, lieber Leser und liebe Leserin, die Zeit vor 1989 erlebt?

Wir sind sicher: Jeder, der im Osten oder im Westen des geteilten Deutschlands aufgewachsen ist, kann konkrete Geschichten darüber erzählen, wie sich die jeweilige Gesellschaft persönlich für ihn oder sie darstellte. Und so lange etwas persönlich erlebt wurde, kann man nicht darüber streiten, ob es wahr oder falsch ist, denn Erlebnisse sind keine Meinungen, sondern als persönliche Geschichte ein Teil der deutsch-deutschen Geschichte.

Wir haben 23 Themenvorschläge vorbereitet, zu denen wir uns Beiträge von einer maximalen Länge von 7 Seiten wünschen. Wenn Sie Interesse haben, an unserem Buchprojekt mitzuwirken, schreiben Sie bitte an

ostwestredaktion@oberhubistan.at

Sie erhalten dann noch einmal eine detaillierte Projektbeschreibung.

Das Buch soll am 3. Oktober 2020 erscheinen.

Möchten Sie uns beipflichten oder entschieden widersprechen? Jede Geschichte ist uns willkommen. Anstelle eines Einheitsbreis am Tag der Einheit wünschen wir uns eine vielfältige, sehr gern auch völlig widersprüchliche Sammlung von Geschichten, die unser Geschichtsbild ergänzen, relativieren und bereichern kann und vor allem, so glauben wir, können Geschichten Vorurteile überwinden und Brücken bauen, um einander zu verstehen.