Das Gegenteil von Krieg

Mit seinem Song „Silly Love Songs“ verteidigte Paul McCartney das Recht, auch angesichts drastischer politischer Fehlentwicklungen Liebeslieder zu schreiben.

John Lennon und Paul McCartney — es ist das vielleicht berühmteste Songwriter-Duo aller Zeiten. Die Weggefährten entwickelten sich allerdings auseinander. Nach dem Ende der Beatles feilten beide an ihren Solokarrieren. Dabei unterschied sich das jeweilige Image der Künstler sehr voneinander. Lennon galt als der politisch wache Rebell, McCartney eher als der zwar begabte, aber harmlose Schnulzenschreiber. Es mag sein, dass auch von John Lennon selbst abwertende Botschaften über das Schaffen des Ex-Kollegen kamen. Darauf reagierend, kreierte Paul McCartney 1975 das sehr erfolgreiche Lied „Silly Love Songs“. Damit brachte er zum Ausdruck, dass nicht nur politische Anklage-Chansons von Wert sind, sondern auch Lieder über das „schönste Gefühl der Welt“. Schließlich sei die Nachfrage danach, so argumentiert er, ungebrochen. Also: „Was ist falsch daran?“

„Selig durch die Liebe, Götter durch die Liebe, Menschen Göttern gleich! Liebe macht den Himmel himmlischer, die Erde zu dem Himmelreich“, schrieb Friedrich Schiller 1792 in seiner Hymne „Triumph der Liebe“. Für den Stürmer und Dränger Schiller war die Liebe die allmächtige Kraft, der es gelingt, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Wer liebt, führt keine Kriege, würde diese Botschaft übersetzt in die pazifistische Gedankenwelt wohl heißen.

Am 30. April 1975, also 183 Jahre nach Schillers Ode an die Liebe, ging der seit 1955 wütende Vietnamkrieg mit der Eroberung der südvietnamesischen Hauptstadt Saigon durch nordvietnamesische Truppen zu Ende. Mit dem Schlussstrich unter dieses dunkle Kapitel wurde auch deutlich, welche furchtbaren Folgen der Kriegseintritt der USA, der 1964 von Präsident Lyndon B. Johnson mit dem uns weidlich bekannten Satz „Die Freiheit San Franciscos wird in Saigon verteidigt“ begründet wurde, tatsächlich hatte. Heutige Schätzungen gehen davon aus, dass im Vietnamkrieg eine Millionen Soldaten sowie zwei Millionen Zivilisten ihr Leben verloren und zwei Millionen Menschen verstümmelt wurden. Das von den Amerikanern großflächig aus Flugzeugen und Hubschraubern versprühte Herbizid „Agent Orange“ enthielt das hochgiftige Dioxin TCDD. Das versprühte Gift ist noch heute im Nahrungskreislauf zu finden und verursacht nach wie vor Krankheiten und Fehlgeburten.

Nein, die Freiheit San Franciscos wurde sicherlich nicht in Saigon verteidigt. Stattdessen blieb die von US-Soldaten in Briefen an ihr Zuhause immer wieder aufgeworfene Frage „Warum sind wir hier?“ 1975 endgültig ohne befriedigende Antwort. Der Krieg hinterließ ein gebrandmarktes Land sowie ein amerikanisches Trauma, das beeindruckende Anti-Kriegsfilme wie Francis Ford Coppolas „Apocalypse Now“, Stanley Kubricks „Full Metal Jacket“ oder Oliver Stones „Platoon“ hervorbrachte. Und wenn Oliver Stone den verletzten Soldaten Chris Taylor gegen Ende seines Films sagen lässt: „Wir haben nicht gegen den Feind gekämpft, wir haben gegen uns selbst gekämpft, der Feind war in uns“, so beschreibt er Krieg als das, was es letztlich ist: die Abwesenheit von Liebe in uns.

Nicht Frieden ist das eigentliche Gegenteil von Krieg, sondern Liebe. Und wer die Welt mit Liebe füllt, der handelt wahrlich pazifistisch.

You’d think that people would’ve had enough of silly love songs.
But I look around me and I see it isn’t so.
Some people want to fill the world with silly love songs.
And what’s wrong with that?
I’d like to know
’Cause here I go again.

Ein Musiker, der schon sehr früh durch Protestaktionen und Lieder gegen den Vietnamkrieg agitierte, war John Lennon. Bereits 1969 erschien in diesem Zusammenhang sein Song „Give peace a chance“, und zwei Jahre später, im Jahr 1971, veröffentliche Lennon „Imagine“, seine zu Gehör gebrachte Vorstellung von einer scheinbar heilen Welt ohne Religion, Besitz und Landesgrenzen. Bis heute gilt „Imagine“ und die darin verkündete Sehnsucht nach „Nothing to kill or die for“ als die ultimative Hymne der Friedensbewegung.

Mit seinem Einsatz für den Frieden wurde John Lennon rasch zum Liebling der Musikkritiker und stand in Gunst und Ansehen eindeutig über Paul McCartney, seinem einst kongenialen Partner bei den Beatles. Nachdem die erfolgreichste Band aller Zeiten 1970 ihre Trennung bekanntgab, gehörten die Jahre bis 1975 in der öffentlichen Wahrnehmung eindeutig John Lennon, der sich als einflussreicher Friedensaktivist etablierte. Dagegen erschien Paul McCartney in den Augen der Musikwelt als nett, aber farb- und belanglos. Während Lennon in „Imagine“ melancholisch von der Brüderlichkeit aller Menschen träumte, komponierte McCartney fröhliche, lebensbejahende Liebeslieder.

So schrieb er 1973 das an „The long and winding road“ erinnernde und mit bislang über 130 Coverversionen geadelte „My Love“ für seine Ehefrau Linda. Im Frühjahr des Jahres 1975 erschien „Listen to what the man said“, ein beschwingter, positiver Song über die Kraft der Liebe, der sich in den USA zwar über eine Million Mal verkaufte, die Kritiker aber eher ratlos zurückließ. Der an McCartney gerichtete Vorwurf war stets der gleiche: Wie kann man nur in politisch brisanten Zeiten alberne Liebeslieder von sich geben? Und auch John Lennon hielt sich mit Kritik nicht gerade zurück. Bereits 1971 veröffentlichte er den Song „How do you sleep“ und bezeichnete darin McCartneys Musik als „muzak“, als Kaufhaus- oder Fahrstuhlmusik.

I love you, I love you, I love you, I love you.

Gegen Ende dieses politisch brisanten Jahres 1975 muss Paul McCartney angesichts der Unverschämtheiten, die er sich von Kritikern und John Lennon anhören musste, wohl der Kragen geplatzt sein, und er schrieb während eines Aufenthalts auf Hawaii einen seiner erfolgreichsten Songs der Nach-Beatles-Ära: „Silly Love Songs“. Der Song stand nach seiner Veröffentlichung im Jahr 1976 fünf Wochen in Folge an der Spitze der US-Billboard Charts und wurde dort als erfolgreichste Single des Jahres geführt.

Musikalisch ist „Silly Love Songs“ sicherlich ein Meisterwerk. Im Gehör einfach und wohlig, in Wirklichkeit komplex, melodisch und mit einer für Paul McCartney charakteristischen Mischung aus musikalischer Raffinesse und Mainstream-Qualitäten. Der Song ist leicht und fröhlich angelegt und wohl als Zugeständnis an den Zeitgeist — immerhin dominierten Mitte der 70er Jahre Disco-Beat und Bee Gees die Charts — sogar ganz gut tanzbar. Dafür baute McCartney eine dominierende und einzigartig gespielte Bassline ein, stellte das Schlagzeug in den Vordergrund und unterstützte die Melodie durch groovige Bläser und Streicher. Musikalisch abgerundet wird „Silly Love Songs“ durch mehrere im Kontrapunkt gesungene Gesangsstimmen, was dem Song Weichheit und Sanftmut verleiht.

I can’t explain, the feeling’s plain to me
Now can’t you see?
Ah, she gave me more, she gave it all to me
Now can’t you see?
What’s wrong with that?
I need to know
’Cause here I go again.

„Silly Love Songs“ war für Paul McCartney aber deutlich mehr als nur ein Charterfolg. „Silly Love Songs“ war für ihn ein Befreiungsschlag. Das Lied ist in erster Linie eine Frohbotschaft an seine Kritiker, nach dem Motto: „Ja, ich schreibe Liebeslieder. Die Menschen sehnen sich danach. Hört endlich auf damit, Liebeslieder abzuwerten. Lasst euch darauf ein.“

Bereits die erste Strophe von „Silly Love Songs“ bringt diese Botschaft zum Ausdruck: „You'd think that people would've had enough of silly love songs. But I look around me and I see it isn't so.“ „Du könntest glauben, die Menschen hätten genug von albernen Liebesliedern. Aber wenn ich mich umsehe, dann sehe ich, dass es nicht so ist.“ Und an anderer Stelle: „Some people wanna fill the world with silly love songs“, also: „Einige Menschen wollen die Welt mit albernen Liebesliedern füllen“, um dann am Ende des Songs die für McCartney sicherlich rhetorische Frage zu stellen: „What's wrong with that?“ „Was ist falsch daran?“

Natürlich ist nichts daran falsch. Auch nicht in politisch brisanten Zeiten. Gerade dann nicht, so möchte man hinzufügen. Das galt 1975. Und das gilt heute, 50 Jahre später, mehr denn je.

I love you, I love you.

Love doesn’t come in a minute,
Sometimes it doesn’t come at all.
I only know that when I’m in it,
It isn’t silly, love isn’t silly,
Love isn’t silly at all.

Und so ist „Silly Love Songs“ mindestens ebenso eine Friedensnote wie Lennons „Imagine“ und „Give peace a chance“, auch wenn McCartneys Friedensbotschaft im Vergleich zu Lennons Werken leiser und unaufdringlicher daherkommt.

„Silly Love Songs“ prangert nichts an, fordert nichts ein, gibt sich nicht vordergründig intellektuell oder überbordend moralisch.

„Silly Love Songs“ huldigt, melodisch meisterlich umgesetzt, einfach nur dem absoluten und immerwährenden Gegenteil von Krieg: der Liebe.

Der Liebe zum Lebenspartner, zur Familie, zu Freunden und zu allen Menschen, die einem mit offenen Armen friedlich begegnen. Und auch der Liebe zu den Menschen, die dies nicht tun. McCartneys Botschaft in „Silly Love Songs“ wird nicht so sehr vom Text, sondern hauptsächlich von der Musik in die Welt getragen.

Wer „Silly Love Songs“ hört und das Gefühl der Liebe kennt, wird an dieses immense Geschenk erinnert, das es zu bewahren und zu beschützten gilt. Wer „Silly Love Songs“ hört und dieses Geschenk noch nicht erhalten hat, dem wird dieses Lied Verheißung sein auf das, was da noch kommen mag. Krieg hat in diesen Emotionen keinen Platz, ist Fremdkörper, Räuber und Feind zugleich. Wer liebt und Liebe spürt, führt keine Kriege. So einfach kann es sein. McCartney benötigt dafür nicht viele Worte. Er bittet nicht darum, dem Frieden eine Chance zu geben. Er lässt die Musik sprechen, die einen wärmt wie eine Decke an einem kuscheligen Winterabend und erahnen lässt, wie kalt es wäre ohne Liebe, ohne den allmächtigen Gegenspieler des Krieges.

How can I tell you about my loved one?
How can I tell you about my loved one?
(I love you) How can I tell you about my loved one?
(I love you) How can I tell you about my loved one?

I love you, I love you
I love you (I can’t explain, the feeling’s plain to me, say, can’t you see?)
I love you (ah, he gave me more, he gave it all to me, say, can’t you see?)
I love you (I can’t explain, the feeling’s plain to me, say, can’t you see?)
(How can I tell you about my loved one?)
I love you (ah, he gave me more, he gave it all to me, say, can’t you see?)
(How can I tell you about my loved one?)
I love you (I can’t explain, the feeling’s plain to me, say, can’t you see?)
(How can I tell you about my loved one?)
I love you (ah, he gave me more, he gave it all to me, say, can’t you see?)
(How can I tell you about my loved one?)

Laut Statista summierten sich im Jahr 2023 die weltweiten Ausgaben für das Militär auf rund 2,4 Billionen US-Dollar. Die Gesamtzahl der Kriege, Bürgerkriege und zwischenstaatlichen Konflikte ist seit 1946 deutlich angestiegen. Während 1946 lediglich 11 Kriege und Konflikte verzeichnet wurden, waren es 2023 insgesamt 59. Und heute, 50 Jahre nach Ende des Vietnamkrieges, droht sich die militärische Auseinandersetzung in der Ukraine zu einem europäischen Armageddon zu entwickeln, weil, so scheint es, waffenanbetende Politiker und anstachelnde Medien aus der Vergangenheit wieder einmal die falschen Lehren gezogen haben. „Unsere Freiheit wird in Kiew verteidigt“ kommentierte Matthias Döpfner, Vorstandsvorsitzender der Axel Springer SE, im Februar 2022 in der BILD-Zeitung. Es ist erschreckend, dass dieser so oft schon missbrauchte und verlogene Satz immer noch ausgesprochen werden kann, ohne auf breiten gesellschaftlichen Widerstand zu stoßen.

Die ernüchternde Wahrheit ist: Weder „Give peace a chance“ noch „Imagine“ oder „Silly Love Songs“ haben die Welt friedlicher gemacht. Dies als Anspruch an Lieder zu formulieren, würde sie und ihre Schöpfer wohl auch hemmungslos überfordern.

Aber McCartneys „Silly Love Songs“ spricht im Gegensatz zu „Imagine“ und „Give peace a chance“ zumindest das mächtigste Gefühl an, mit dem der Feind in uns zum Freund in uns und Frieden zum existentiellen Selbstzweck wird: die Liebe. Glaubte John Lennon in den Texten für „Imagine“ und „Give peace a chance“ vollständig auf das Wort „Liebe“ verzichten zu können, was gerade bei „Imagine“ als Lautmalerei für eine perfekte Welt verwundert, so gibt uns McCartney in „Silly Love Songs“ im Schiller’schen Sinne den Zauber in die Hand, der die Welt besser macht, und lässt uns in einer ebenso zauberhaften Melodie darin versinken.

„What’s wrong with that?“ Nichts. Gerade hier und heute wäre zu wünschen, dass sich ganz viele Menschen wieder darauf einlassen könnten, auf dieses komische Gefühl „Liebe“, das Frieden in uns und damit auch überall sonst schafft. Und so ist der Mittelfinger, den Paul McCartney im politisch brisanten Jahr 1975 mit „Silly Love Songs“ seinen Kritikern und seinem Freund John Lennon entgegenstreckte, in Wahrheit ein ewig währendes Peace-Zeichen.

You’d think that people would’ve had enough of silly love songs
But look around me and I see it isn’t so, oh no
Some people want to fill the world with silly love songs
And what’s wrong with that?


Wings — Silly Love Songs (Official Music Video)

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