Das fehlgeleitete Gute
Der berühmte „deutsche Geist“ findet nicht die Mitte zwischen Großmannssucht und Selbstekel. Oft schlagen Weltbeglückungsabsichten in ihr Gegenteil um.
„Salopp gesagt: Wir mögen uns nicht.“ So beschreibt die Sachbuchautorin Gabriele Baring die Einstellung der Deutschen zu sich selbst. Warum eigentlich nicht? Schuldgefühle, die wegen der deutschen Verbrechen des „Dritten Reiches“ nachhaltig unsere Kollektivseele überschatten, sind sicher eine naheliegende Antwort. Dies führt zu Selbstsabotage und permanentem grüblerischem Hadern mit uns selbst. Wieder manifestiert sich, wie so oft in der Geschichte, die bipolare Störung der Deutschen. Einerseits erleben wir derzeit eine mit ökologischen und woken Elementen angereicherte Variante des Slogans, am deutschen Wesen solle „die Welt genesen“; andererseits ist das Land infolge eines sich ausbreitenden Desinteresses an eigener Kultur dabei, sich in europäischen Strukturen aufzulösen und den Zwängen der Globalisierung zu erliegen. Damit aber verlieren wir uns selbst, ohne dass die von uns in eifriger Fremdenfreundlichkeit verehrten anderen Länder etwas dabei gewinnen würden. Viel Unheil, das in der Geschichte von Deutschland ausging, rührte von einem pathetisch-aufgeblähten „Gutseinwollen“ her, der Idee einer geistig-moralischen Vormachtstellung des Landes im „Herzen Europas“, seit dem Zweiten Weltkrieg jedoch vermengt mit Minderwertigkeitsgefühlen. „Ich wusste mit Deutschland noch nie etwas anzufangen“, sagte Robert Habeck. Das merkt man. Die Rückkehr zum Hurra-Patriotismus ist aber sicher auch keine Antwort auf die Fragen, die unsere Epoche aufwirft. Vielleicht beginnt es damit, dass wir mit unserem eigenen Land wieder „etwas anfangen können“, es mit all seinen Schönheiten und seinen Brüchen zu akzeptieren, wie es ist — kritisch zwar, aber doch mit einem warmen Gefühl der Verbundenheit.
„Heile, deutsche Seele“ singt Nathalie Brink, gehüllt in einen roten Kapuzenumhang. Die Sängerin des Duos „Alien’s Best Friend“, einer Band, die sich vor allem in den Corona-Jahren durch eingängigen Deutschpop mit kritischen Texten einen Namen gemacht hatte, überraschte damit sicher viele ihrer Anhänger. Warum die deutsche Seele angeblich krank ist, wird mit Worten erklärt, die für heutige Verhältnisse irritierend pathetisch klingen: „Du bist so groß,/ Doch klein gemacht./ Die alte Schuld zerstört,/ Was dich einst ausgemacht./ So tief ins Herz./ Eine Ewigkeit nur Schmerz./ Erhebe dich, du wahrer Kern,/ Der Dichter Heimat scheint so nah/ Und doch so fern.“ Dazu werden Bilder eingeblendet, die für Deutschland stehen sollen: Ein Adler, ein Buchenwald, Bücher von Schiller, ein Eichhörnchen …
Manchen ist das sicher „too much“, und der Vorwurf, hier sei eine Band „nach rechts“ abgedriftet, liegt sicher vielen auf der Zunge. Bei anderen Hörern traf das Lied aber offenbar einen Nerv. Eine Kommentatorin schreibt: „Sitze hier und mir laufen die Tränen übers Gesicht. Genau mitten ins Herz.“ Eine geschickte Vorgehensweise besteht darin, dass die deutsche Schuld hier zwar eingeräumt, jedoch ein verschütteter „wahrer Kern“ des Landes angenommen wird. Das Eichhörnchen und Schiller wecken eher sympathische Assoziationen. Waldeinsamkeit und die Freiheit des Geistes, scheinen die Musiker sagen zu wollen, gehören auch zu Deutschland — nicht nur Führerkult und Genozid. Die Bandmitglieder Nathalie Brink und Christian Lotte liefern selbst eine Interpretation des Liedes:
„Seit langer Zeit wird die deutsche Seele klein und in der Schuld gehalten. Es ist Zeit, sich an die eigene Schöpferkraft und verloren geglaubte Werte vergangener Zeiten zu erinnern und daran zu wachsen.“
„Gerade wir Deutschen“
Sich an Werte zu erinnern und daran zu wachsen — gut und schön. Aber stimmt es, dass die deutsche Seele „klein und in der Schuld gehalten“ wurde? Und wenn ja, von wem? Richtet sich der Vorwurf gegen die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs oder eher gegen die sehr zum Selbst-Bashing neigenden eigenen Landsleute? Günter Grass sprach in seinem umstrittenen Israel-Gedicht 2012 von „meinem Land, das von ureigenen Verbrechen, die ohne Vergleich sind, Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt wird“. Stimmt es? Haben wir es mit der Aufarbeiterei übertrieben? Hätten wir solch ungeheure Taten unserer Vorfahren etwa lockerer nehmen sollen?
Auffällig ist, dass so gut wie alle wichtigen politischen Themen der Gegenwart quasi kontaminiert sind von Nazi-Bezügen beziehungsweise dem beflissenen Versuch, alles zu vermeiden, was im Entferntesten an das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte erinnern könnte.
Dabei spielen bei politischen Debatten oft beide Lager die „antifaschistische“ Karte aus. Corona-Linientreue wollten „nicht mit Nazis marschieren“; Corona-Skeptiker dagegen betrachten ihren Protest als Warnung vor einem an die Nazizeit gemahnenden Totalitarismus.
Ukrainefreunde versuchen mit Wladimir Putin einen zweiten Hitler in die Schranken zu weisen; Russlandfreunde versuchen durch Verständnis für das Handeln des russischen Präsidenten die richtigen Schlussfolgerungen aus dem Russlandfeldzug der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg zu ziehen. Die etablierte Politik argumentiert, „gerade wir Deutsche“ seien zu bedingungsloser Solidarität mit Israel verpflichtet; eine kritische Minderheit meint dagegen, „gerade wir Deutsche“ müssten helfen, den Völkermord in Gaza zu verhindern.
Er ist wieder da
Und dann ist da noch der neudeutsche „Kampf gegen rechts“. Nie schien „rechts“ ein so großes Thema zu sein wie heute, als sei das Nazi-Problem seit den Auschwitz-Prozessen von 1963 — meinem Geburtsjahr — stetig gewachsen wie ein Schatten in der Abenddämmerung. Und während die Güte-Monopolisten aus den etablierten Parteien auf den Straßen ihren Vorzeige-Antifaschismus zelebrieren, mahnen „Alternative“, der Faschismus könne gerade in dem Gegen-Rechts-Furor einer Nancy Faeser oder in der Antifa-Rhetorik der roten und grünen Parteien wiederaufleben. Nie geschieht in Deutschland etwas „einfach so“, immer erfolgt es „in Anbetracht unserer Geschichte“. Hitlers Gesicht scheint uns von allen Seiten anzustarren, als eine sich wie von Zauberhand vervielfältigende Bedrohung — ähnlich den unzähligen sonnenbebrillten Klonen des Agenten Smith in der „Matrix“-Filmtrilogie.
„Er ist wieder da“ hieß ein deutscher Film über die die fiktive Rückkehr Hitlers in die Gegenwart. Richtiger wäre es, zu sagen: „Er war nie weg.“ Der durch die Vordertür vertriebene Führer schleicht sich durch die Hintertür wieder herein. Das Bemühen, ihn loszuwerden, gleicht dem Versuch, eine Gummiente in der Badewanne unter Wasser zu drücken — sie kommt unweigerlich wieder hoch. Vergebung und Selbstvergebung scheinen 80 Jahre nach dem Untergang Nazideutschlands weiter entfernt als je zuvor. Wie beim Gralskönig Amfortas aus der Parzival-Sage haben wir es mit einer Wunde zu tun, die nie wirklich verheilt und immer wieder aufreißt.
Hefeweizen und Wagner-Opern
Berechtigterweise kann man natürlich fragen, ob nicht schon die Begriffe „Deutschland“ und „die Deutschen“, oder gar „deutsche Seele“, unzulässige Verallgemeinerungen darstellen. Jeder und jede ist anders — schon gar nicht sind alle „typisch“ für das eigene Volk, wie immer man diese Eigenschaften definieren mag. Eichhörnchen und Bücher von Schiller? Der aus Ägypten stammende Islam-Kritiker Hamed Abdel-Samad beschrieb in seinem Buch „Aus Liebe zu Deutschland“, wie er sich seit 1995 seiner neuen Wahlheimat zu nähern versuchte: „Ich hörte Wagner und Beethoven, probierte Schwarzbrot und Hefeweizen, lauschte Volksliedern, beschäftigte mich mit Goethe und Schiller, mit der wechselvollen Geschichte, mit Fußball und Wald“ (1). Sehr löblich, Hefeweizen, Fußball und Wagner sind immerhin ein Anfang.
Mit seinen vielseitigen Studien dürfte Abdel-Samad den meisten in Deutschland Geborenen bereits einiges voraushaben. Das Interesse an klassischer Kultur nimmt nämlich rapide ab — wobei damit ja nicht nur Friedrich Schiller und Johann Sebastian Bach gemeint sein müssen — mit der Kenntnis der Werke von Bertolt Brecht, Franz Marc oder Günter Grass sieht es nicht besser aus. Gerade junge Deutsche streamen heute mit Vorliebe downgeloadeten Content, auf DVDs werden Filme fast nur noch auf Englisch angeschaut. Und auch wenn „wir“ mit dem Patriotismus historisch schlechte Erfahrungen gemacht haben — viele aktuelle Vorfälle zeugen vom Gegenteil: einem geradezu verstörende Selbsthass.
Gemeint ist etwa Claudia Roth, die auf einer Demo „gegen rechts“ mitlief, auf der „Deutschland, du mieses Stück Scheiße“ und „Deutschland verrecke“ gerufen wurde, ohne dass die Grünen-Politikerin sich distanziert hätte (2). Oder Angela Merkel, die eine ihr gereichte Deutschlandfahne achtlos zu Boden warf. Überliefert ist auch, dass sich die deutschen ESC-Kandidaten des Jahres 2023, die Band „Lord of the Lost“, nicht — wie die Sänger anderer Länder — mit der Nationalflagge, sondern mit der Regenbogenfahne umhüllten. Und dass Robert Habeck „Patriotismus zum Kotzen“ findet und einräumte, er wisse „mit Deutschland nichts anzufangen“.
Selbstquälerische Abwehrhaltung gegen das „Eigene“
Das alles mag in konservativen und nach rechts tendierenden Medien aufgeblasen und ungebührend skandalisiert worden sein. Es mag sein, dass selbst über das Ziel hinausschießender Anti-Patriotismus immer noch ungefährlicher ist als sein Gegenteil: übertriebener, andere Länder abwertender Nationalstolz. Das Verhalten unserer Landsleute ist jedoch immer zu messen an der europäischen und weltweiten Normalität. Während eines Besuchs in Wissembourg, Frankreich, im Sommer 2023 bemerkte ich, worin der Unterschied zwischen einem französischen und einem deutschen Rathaus besteht: Auf einem französischen weht die französische Flagge, auf einem deutschen die ukrainische.
Deutsche üben sich gern in einer verkrampft anmutenden Idealisierung des „Anderen“ und in einer eifernd selbstquälerischen Abwehrhaltung gegen das „Eigene“. Kaum jemals zeigt sich ein die eigenen Stärken und Schwächen miteinschließendes, liebevoll-augenzwinkerndes Einverstanden-Sein. Nichts, aber auch gar nichts kann in Deutschland locker genommen werden.
Man denke als Gegenbeispiel an den Dauerzwist zwischen dem Kleriker Don Camillo und dem Kommunisten Peppone in den Schwarzweiß-Filmen der 1950er-Jahre, die zwischen heftigen Meinungskämpfen immer wieder Sympathie für den Gegner und milde Menschlichkeit erkennen lassen. In Deutschland dagegen ist alles bitterernst.
Der Schriftsteller Thomas Mann beschrieb dies sehr hellsichtig — als habe er die heutige Mentalität von „Antideutschen“ vorhersehen können — in einer Rede, die er 1945 in Washington hielt: „Der Hang zur Selbstkritik, der oft bis zum Selbstekel, zur Selbstverfluchung ging“, sei „kerndeutsch“ (3). Diese Form der Selbstkritik sei „böser, radikaler, gehässiger als die jedes anderen Volkes, eine schneidend ungerechte Art von Gerechtigkeit, eine zügellose, sympathielose, lieblose Herabsetzung des eigenen Landes“. Freilich erscheint „Selbstekel“ im Jahr 1945, also als die Erinnerungen an die Gräuel von Krieg und Holocaust noch ganz frisch waren, verständlich. Nur leben wir jetzt nicht mehr im Jahr 1945, sondern 2024. Wie der Scheinriese „Herr Tur Tur“ aus dem Kinderbuch „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ scheint die deutsche Schuld mit wachsender Entfernung immer größer, nicht kleiner zu werden.
Der faschistoide Antifaschismus
Der Psychoanalytiker Tilmann Moser sprach in diesem Zusammenhang vom „Fortwirken von Holocaust, Krieg, Gewalt, Rassismus im Bereich des Unbewussten“ (4). Weiter benennt er die „fortdauernde Anstrengung der Abwehr, der Verfremdung, der Kompensation“. Gerade durch das krampfhafte Bemühen, das Gegenteil des „Nazihaften“ zu repräsentieren, nähern sich manche Deutsche dem, was sie auf keinen Fall sein wollen, immer weiter an. Zum Beispiel kann ein eifrig betriebener antirassistischer Kampf Züge einer erbarmungslosen medialen Menschenjagd gegen diejenigen annehmen, die als rassistisch, also als Feinde markiert wurden. „Rassismus gehört ausgegrenzt — sonst niemand“ lautete ein Wahlslogan der Grünen, womit diese signalisierten, dass gegen Ausgrenzung nichts einzuwenden sei, solange es die Richtigen trifft.
Dies mag bei wirklichem Rassismus notwendig sein; wir wissen aber, dass dieser Begriff heute im woken Lager sehr weit gefasst wird und dass auch andere Gruppierungen fleißig ausgegrenzt wurden. Ungeimpfte zum Beispiel. Konservative oder Angehörige der traditionellen Mehrheitsgesellschaft. Stichwort „alte weiße Männer“.
Eine Entschlossenheit zum Hass und eine Lust am Ausgrenzen scheint sich breitzumachen, die sich entlädt, sobald die Betreffenden meinen, dies in ihrem sozialen Umfeld ungestraft tun zu können. In der Mischung aus Rechtsgläubigkeits-Anmaßung und verletzender Entmenschlichungsrhetorik — in Einzelfällen sogar der Gewalt — gegen Andersdenkende nähern sich manche Erscheinungsformen des „Antifaschismus“ dem Faschismus verdächtig an.
Statt Gutes zu tun, will man Böses vernichten, wodurch — weil der Akt des Vernichtens immer hässlich ist — nicht selten wieder Böses geschieht.
Wiederkehr des Verdrängten
Die Dynamik ist tragisch im Sinne etwa der Ödipus-Tragödie des Sophokles. Gerade indem Ödipus zu vermeiden versucht, was ihm ein Orakel prophezeit — den Mord an seinem Vater und die Heirat mit der Mutter — setzt er eine Ereigniskette in Gang, die dazu führt, dass sich die Prophezeiung erfüllt. Ähnlich die Deutschen. Sie versuchen zu vermeiden, „rechts“ zu sein — und driften gerade mit diesem Vermeidungsverhalten unbewusst wieder nach „rechts“. Ob es sich dabei um Waffenlieferungen an Israel handelt oder um brutale Hausdurchsuchungen, Bespitzelung und Einschüchterung im Kampf gegen „Hass und Hetze“.
Was im Falle Deutschlands einer Heilung der kollektiven Psyche im Weg steht, ist ein selbstquälerischer Monopolanspruch auf Schuldigsein. Gabriele Baring schreibt: „Was die Aufarbeitung der deutschen Kriegstraumata so schwierig macht, ist ein Generalverdacht, der bis heute auf uns lastet: Wir seien ein, ja, das Tätervolk“ (5). In der Folge wird völlig ausgeblendet, wo Deutsche auch Opfer waren. Ja, der geradezu eifersüchtig bewachte Täterstatus greift so machtvoll nach unseren Seelen, dass Hinweise auf das Leid unserer Vorfahren einem Sakrileg gleichkommen.
„Es ist ein großes Hindernis für unsere seelische Entwicklung und für die Zukunft dieses Landes, dass wir uns bis zum heutigen Tag nicht auch als Opfer anerkennen dürfen. Dass wir die Tragödien nicht beweinen dürfen, die schuldige wie unschuldige Deutsche erleiden mussten.“
Unschuldig Schuldige
Damit deutet Baring an, dass Opfer- und Täterstatus in ein- und derselben Person koexistieren können. Der Prototyp des unschuldig Schuldigen und des hingeopferten Täters ist der in Hitlerdeutschland zwangsrekrutierte Soldat. Kriegstraumata, Kriegsgefangenschaft, Flucht, Vergewaltigung und andere Leiden unserer Vorgängergenerationen wurden nicht anerkannt, wurden oft nicht einmal von den Betroffenen selbst klar angesprochen.
So schwelte das Trauma weiter — in denen, die unmittelbar Opfer waren, wie auch in deren Nachkommen. Bei all dem ist es nicht hilfreich, dass Korrektheit heute mehr denn je die Wahrheit als Richtwert verdrängt. „Das politisch korrekte Denken diktiert eisernes Schweigen über das eigene Leid“ (6). Dabei ist es ein- und dieselbe Menschlichkeit, die dem Leid russischer oder jüdischer Naziopfer seine Reverenz erweist, wie auch den Torturen, denen unsere deutschen Vorfahren als Bürger eines brutalen faschistischen Systems und als Kriegsteilnehmer ausgesetzt waren. Dies schließt Einsicht in eigene Schuldanteile unserer Väter und Mütter nicht aus.
Verbunden mit dem verbreiteten Schweigen war in der Nachkriegszeit eine gewisse Überheblichkeit der Nachgeborenen, die sich oft zu Chefanklägern ihrer Eltern machten: „Mit ihrer Strategie der Entlarvung stellten sich die Nachgeborenen zugleich einen Unbedenklichkeitsschein aus. Sie taten so, als hätte ihnen nicht das Gleiche passieren können wie ihren Eltern“, so Gabriele Baring (7).
Weder die Erfahrungen in der DDR noch die während der Corona-Jahre in Gesamtdeutschland sprechen jedoch für eine grundsätzlich geläuterte nachwachsende Generation, deren Hauptmerkmal rebellische Tapferkeit gegenüber ihrem Staat wäre. Das Gegenteil ist wahr.
Menschen gleichen einander in jeder Epoche und jeder Weltgegend. So ist an der Kollektivschuldthese nur ein einziger Aspekt bedenkenswert: die Annahme einer potenziellen Schuld, die sich aus der Überlegung ergibt, dass viele von uns in der Epoche unserer Vorfahren vielleicht auch ganz brauchbare Nazi-Mitläufer geworden wären.
Das Trauma als Gründungsmythos
Dies gilt aber für Menschen anderer Länder ebenso und ist nicht speziell den Deutschen anzulasten. Vielleicht hat nur die „Gnade der späten Geburt“ (Helmut Kohl) beziehungsweise die Gnade der anderen Nationalität viele vor Taten bewahrt, für die sie sich sehr hätten schämen müssen. Nicht dieses Phänomen der potenziellen Schuld ist aber das deutsche Alleinstellungsmerkmal, sondern der Hang zum hartnäckigen und erbitterten Herumreiten auf dieser einen Schuld — jener unserer Vorfahren während der Nazizeit. Der US-amerikanische Historiker Alfred de Zayas schreibt in diesem Zusammenhang, es sei „kaum zu begreifen, weshalb die Kollektivschuldthese Jahrzehnte nach dem Krieg noch mehr verbreitet scheint als vor 66 Jahren“.
Heute könnte man sagen: als vor 79 Jahren. Dies, so de Zayas, führe zu „Diskriminierung, Hass, sogar Selbsthass“. Und ebendies, die Beschuldigung eines ganzen Volkes, sei „schlechthin rassistisch“. Es „verletzt die Menschenwürde, die Identität und Ehre der betroffenen Menschen“ (8). Gabriele Baring, deren Buch ich dieses Zitat entnommen habe, ergänzt: „Müssen wir uns wundern, wenn unsere Gesellschaft heute in vielem wie gebrochen wirkt?“
Aus der Außenperspektive eines aus Ägypten stammenden Mannes analysiert Hamed Abdel-Samad hellsichtig die angeschlagene Psyche der Deutschen: „Manchmal hat man tatsächlich den Eindruck, als sei dieses Trauma selbst, die Katastrophe des Dritten Reiches, der einzige verbliebene, traumatisch-belastete Gründungsmythos des Landes“ (9). Immer wieder beginnen politische Statements von Deutschen mit „In Anbetracht unserer Geschichte …“.
Nach der Beobachtung von Abdel-Samad „merkt man, dass die Guten gut sein wollen, indem sie sich auf das Böse beziehen bzw. davon abgrenzen. Sie konstruieren eine auf Schuld basierende Identität, in der das Gute nur durch Verdammung des Bösen zur Geltung kommen kann“ (10). Umgekehrt gefragt: Wo sind im fortdauernden „Kampf gegen rechts“ die positiven Aspekte, für die es sich zu kämpfen lohnt? Oft werden hierauf nur sehr allgemeine und phrasenhafte Antwort gegeben. „Unsere Demokratie“ muss als Etikett für das, was es zu verteidigen gilt, genügen.
Alle gegen Nazis
Fast nirgendwo findet man in diesem Kampf Freundlichkeit, Höflichkeit und Toleranz für abweichende Meinungen, ein Gespür für soziale Probleme, Liebe zur Natur und das tapfere Eintreten für die Freiheit — Werte also, die man als der Naziideologie entgegengesetzt empfinden kann. Nirgends auch ein wirkliches Gespür dafür, was Deutschland über die Hitler-Jahre hinaus einmal ausgemacht hat und weiter ausmachen könnte.
Es muss nicht gleich „Vaterlandsliebe“ sein, die vielleicht in vielen Fällen wirklich zu realitätsblinder Idealisierung und kollektivem Narzissmus führen könnte, wie ihn der Psychotherapeut Erich Fromm analysiert hat. Es wäre schon wohltuend, wenn mehr Menschen zu erkennen gäben, dass sie wissen, wovon sie sprechen, wenn sie „deutsche Kultur“ und „deutsche Geschichte“ sagen, wenn aus ihren Worten eine aufgeklärt-freundliche Haltung dem „Eigenen“ gegenüber spräche. Raymond Unger schreibt in seinem hellsichtigen Sachbuch „Die Wiedergutmacher“:
„Deutsche Eliten haben keinerlei positive Affirmation, auf die sich ihre Vision von Deutschland beziehen könnte“ (11).
So aber beschränkt sich „Geschichtsbewusstsein“ oft auf ein dienstbeflissenes Mitschwingen mit einem von den Leitmedien definierten Zeitgeist, auf das samstägliche Mitlaufen bei der Demo gegen rechts, weil man heutzutage eben Nonkonformismus vorzeigen muss, um dazuzugehören. Oder wie es Dietrich Brüggemann alias Theodor Shitstorm sang:
„Dennoch und trotzdem nach all der verlorenen Zeit, gibt’s noch eins, was uns bleibt: Wir sind alle gegen Nazis.“
Hamed Abdel-Samad gelingt es immerhin, sich vom linken und grünen Rechtgläubigkeitsdiskurs ebenso abzugrenzen wie vom Rechtsextremismus.
„Die einen suchen in der Multikulti-Doktrin einen Ablassbrief für vergangenen Schuld, die anderen fliehen vor dieser Schuld in Wut, Großkotzigkeit und Reichsnostalgie“ (12).
Es wäre kein ganz neues Phänomen, dass das „deutsche“ Wesen nie in seine Mitte kommt und zwischen Extremen schwankt: von Großmannssucht zu Selbstaufgabe und zurück.
Der Extremismus der Mitte
Raymond Unger deutet übertriebene deutsche Selbstzerfleischung denn auch als den Schatten des gegenteiligen Phänomens: des positiv-affirmativen Patriotismus. Beide sind Ausdruck einseitiger Fixierung, ja oft der Besessenheit von deutschen Themen und deutscher Befindlichkeit. Charakteristisch ist das quälende Nicht-loslassen-Können und Herumreiten speziell auf dem Deutschland der Hitler-Jahre. Nie kann man die eigene Nationalität einmal „auf die leichte Schulter“ nehmen oder von ihr absehen. Unger schreibt:
„Dabei ist übertriebener Nationalstolz tiefenpsychologisch gesehen dasselbe wie übertriebener Nationalhass: Im ersten Fall erfolgt eine Identifizierung mit den positiven Eigenschaften, im zweiten Fall mit den negativen. In beiden Fällen erfährt das zu schwach entwickelte Ich über Identifikation Aufwertung und Größe“ (13).
Absicht ist es vielleicht, aus der Erfahrung des „kleinen“ eigenen Lebens heraus Teil von etwas Größerem zu werden — notfalls auch Teil einer Gemeinschaft von Trägern einer monumentalen, unüberbietbaren Schuld.
Die erlebte Realität aber richtet sich nach der Aufmerksamkeit. Mit dem sich aufbauschenden „Kampf gegen …“ scheinen auch tatsächlich immer mehr Rechte aufzutauchen. Dies liegt einmal daran, dass die Aufmerksamkeit der Kämpfer sehr geschärft ist, zum zweiten daran, dass der Begriff „rechts“ immer stärker ausgeweitet wird, bis er fast alle außerhalb der eigenen Rechtgläubigen-Gemeinschaft umfasst, drittens dann auch, weil immer mehr Menschen sich konservativen Positionen zuneigen, da sie zwar von den Grundüberzeugungen her eher links sind, jedoch mittlerweile diese Linken nicht mehr ertragen können — die Extremisten der vermeintlichen politischen Mitte miteingeschlossen.
Destruktive Güte-Exzesse
Einer, der immer an „seinem“ Deutschland gelitten und sich über Jahrzehnte hellsichtig an ihm abgearbeitet hat, war der Schriftsteller Thomas Mann. Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa, Ende Mai 1945, hielt Mann vor amerikanischer Zuhörerschaft eine Rede, die auch das „Wesen“ der Deutschen zu beleuchten versuchte. Sie gipfelte in der Aussage, „dass es nicht zwei Deutschland gibt, ein böses und ein gutes, sondern nur eines, dem sein Bestes durch Teufelslist zum Bösen ausschlug. Das böse Deutschland, das ist das fehlgeleitete gute, das Gute in Unglück, in Schuld und Untergang“ (14).
Auf wenige Epochen scheint diese Aussage besser zu passen als gerade auf unsere heutige. Man denke nur an die Güte-Exzesse des „Gesundheitsschutzes“ im Zeichen von Corona, an die Unterwerfung der Mehrheitsgesellschaft unter die Forderungen der Transbewegung, welche zu einer Art Meinungsterror um der Toleranz willen führte. Oder an einen „Kampf gegen rechts“ mit extrem autoritären Mitteln — also etwas mit geplanten Parteiverboten, Cancel-Culture und Transparenten wie „AfDler töten“.
Gutwilligkeit und das Umkippen ins Grotesk-Bösartige sind in deutschem Handeln oft so eng ineinander verzahnt, dass man staunend und ratlos vor den jeweils neuesten Entwicklungen steht.
Deutsche Schuld und die Erinnerung an die Vertreibungsgeschichte vieler Deutscher führte zu jenem „freundlichen Gesicht“ in der Flüchtlingsfrage, das Angela Merkel beschworen hatte. Diese Dynamik könnte jedoch bewirken, dass man Kräften Raum gibt, die dem Nazi-Totalitarismus grausig ähnlich sind, nur unter anderen — also islamistischen — Vorzeichen. Wie auch Güte-Bemühungen der deutschen „Eliten“ zur Komplizenschaft bei den Kriegen der USA, beim Massaker Israels an tausenden Palästinensern und beim von Nazis unterwanderten ukrainischen Regime führten. Gott schütze uns vor deutscher „Güte“ — mit deutscher Bosheit kommen wir dann schon selbst klar.
Was heilen könnte: die Realität
Gerade im von „Antideutschen“ beeinflussten Milieu handeln Deutsche oft nach dem Motto: „Je schlechter wir mit uns selbst umgehen, desto größer die Güte.“ Mit sich selbst entzweit zu sein, permanent an sich zu leiden und sich — einem unbewussten Zwang folgend — selbst zu schädigen: Das ist schon eine Definition von Krankheit. Kann die „deutsche Seele“ jemals heilen, wie es die Gruppe „Alien’s Best Friend“ forderte? Gibt es so etwas wie die deutsche Seele überhaupt — oder doch nur viele einzelne Deutsche in psychisch mehr oder weniger labilem Zustand?
Vielleicht wäre das beste Heilmittel tatsächlich eines, das uns auf den ersten Blick grau und reizlos erscheinen mag: die Realität. Die besagt, dass es durchweg gute oder schlechte Länder eigentlich nicht gibt und dass die Bilanz für Deutschland — wie für andere Länder auch — durchaus gemischt ausfällt. Größenfantasien sind der Wahrheit ebenso abträglich wie dauerhafte, ausschließliche Zerknirschung.
Heilsam könnte da ein anderes Lied wirken, nämlich „Heimat“ von Anna Depenbusch. Dort heißt es: „Meine Heimat und ich sind wie Schatten und Licht eng verbunden. (…) Weil ich hierher gehör, ob ich will oder nicht.“