Das falsche Wir
Immer häufiger versuchen Profiteure den Systemopfern ein Gemeinschaftsgefühl zu suggerieren, um sie zur Akzeptanz der Verhältnisse zu überreden.
Die Gleichheit der Ungleichen, das Wir, versteckt sich im Alltäglichen. Ob Mindestlohnempfänger, Krankenschwester oder Multimilliardär: Trotz gravierender finanzieller Unterschiede zahlen an der Tankstelle alle für den Liter Benzin den gleichen Preis. Im politischen Raum ist das Wir fester Bestandteil des Wordings: „Wir stehen an der Seite von Israel“, „Wir gegen rechts“, „Deutschland geht es gut“, „Wir sind bereit, Verantwortung in der Welt zu übernehmen“, „Wir gemeinsam …“, „Wir zusammen ...“ und so weiter. Dabei ist nichts so falsch wie das falsche Wir.
Die Wir-Formeln, die eine gedankliche, weltanschauliche und praktische Einheit unterstellen und innerstaatlich um ein Gemeinschaftsgefühl buhlen, das nur in echten sozialen Beziehungen zu finden ist, vernebeln den Blick auf die Besitz- und Machtverhältnisse, die die unterschiedlichen Interessen der konkurrierenden Gruppierungen in der Klassengesellschaft prägen. Marschieren sie bei Veranstaltungen wie „Unteilbar“ Hand in Hand für eine offene und solidarische Gesellschaft, ändert das nichts an dem Umstand, dass sich Arm und Reich unversöhnlich gegenüberstehen. Armut ist notwendig, um Reichtum zu vermehren. Das ist die ökonomische Logik des freien Marktes — eine Säule der Diktatur des Profits, die keine Solidarität kennt.
Ein Blick auf leere Bäuche
Armut ist weder unsichtbar, noch ist sie leise. Sie liegt auf der Straße, jammert unter den Brücken, sucht im Müll nach Verwertbarem und ist im globalen Norden ein Brandbeschleuniger des Konsumterrors. Wer konsumiert, kann nicht arm sein und erfährt durch Besitz soziale Anerkennung, so die Unterstellung. Ungeachtet dessen, ob das stimmt oder nicht, steht Armut in einem engen Verhältnis zur ökonomischen Ordnung. Obgleich es keinen objektiven Mangel mehr gibt, wird dieser künstlich hervorgerufen, um Nachfrage zu erzeugen, Preise zu erhöhen, Löhne zu senken und genau genommen alles und jeden zu betrügen, um Profit abzuschöpfen. Dafür wird auch über Leichenberge gegangen. Das gilt überall, wo der freie Markt seine klebrigen Finger hineinstecken darf.
Vor allem in Südasien und südlich der Sahara sind die Bäuche leer und ist der Hunger am größten. Woran liegt das? Schlechte Ernten, ausbleibender Regen, Terrorismus? Der Globalisierungskritiker Jean Ziegler schrieb 2011 über den Hunger in dieser reichen Welt:
„Es gibt keinen objektiven Mangel, also keine Fatalität für das tägliche Massaker des Hungers, das in eisiger Normalität vor sich geht. Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet.“
Weder die freie Marktwirtschaft noch die vierte Gewalt, die vor Hungerkatastrophen warnt, oder bessere Governance-Strukturen verhindern das Sterben. Heute verhungern täglich 20.000 bis 30.000 Menschen. Und jeder Hungertote ist einer zu viel.
Schaffen vielleicht Klimagerechtigkeit, feministische Gerechtigkeit, Generationengerechtigkeit und wie sich das alles nennt Abhilfe? Kaum anzunehmen. Können etablierte Organisationen etwas ausrichten? Punktuell vielleicht, das war es dann auch.
„Brot für die Welt“ beispielsweise ist seit 1959 in der Entwicklungshilfe engagiert und betreibt mit etwa 560 Beschäftigten und knapp 200 Freiwilligen im weitesten Sinne Lobbyarbeit für die Armen. Man gibt ihnen eine internationale Stimme und schafft Jobs mit Perspektive. Denn substanziell hat sich seit Ende der 1950er-Jahre am Problem nichts geändert. Selbst das in der Agenda 2030 zwischen allerlei Absichtserklärungen verpackte Ziel von Zero Hunger in der Welt wurde schon als unerreichbar zu den Akten gelegt. Wie es auch gedreht und gewendet wird: Hunger und Armut halten sich hartnäckig, weil unter anderem die Spekulation mit Nahrungsmitteln ein lukratives Geschäft ist und eine faire Verteilung unterbleibt. Es ist deshalb auch nicht erstaunlich, dass im reichen Nordamerika die Ernährungsunsicherheit eine Herausforderung darstellt, wie man im Report des Welthunger-Index (2) nachlesen kann. In den USA erhalten etwa 40 Millionen Menschen Essensmarken. Sind die alle faul und liegen in der sozialen Hängematte, oder wurden sie von der freien Marktwirtschaft ausgespuckt?
Genuss im Jenseits
Der sogenannte Wohnungsmangel in Deutschland ist auch keine besondere Erscheinung. Die in den letzten 40 Jahren dynamisch vorangeschrittene Verdichtung von Menschen und Erwerbsarbeit in den Großstädten musste in den urbanen Zentren und dem Umland zu einem Mehrbedarf an Wohnraum führen. Dieser wurde aber nie abgedeckt, nicht einmal im Ansatz, da dies gleichbedeutend wäre mit einer Stagnation bis hin zu einem massiven Wertverlust der Immobilien und Grundstücke. Das wäre für die besitzende Klasse — und für die wird in der marktkonformen Demokratie Politik gemacht — nachteilig. Folglich bleibt der strukturelle Mangel an bezahlbarem Wohnraum vor allem in den Ballungsräumen und Metropolen erhalten, völlig egal, welche Parteien am Ruder sind, wer gegen Wohnungsleerstand protestiert oder welche Sozialbaumaßnahmen versprochen werden.
Das gilt ebenso für die generelle materielle Armut. Es spielt keine Rolle, ob nun 14, 15 oder 16 Millionen Menschen in Deutschland von Armut und Ausgrenzung bedroht oder betroffen sind oder jedes fünfte, vierte oder dritte Kind oder die Hälfte aller Alleinerziehenden. Niemand soll in Armut leben müssen, weil alleine seine Existenz dies verbietet. Das ist die einzige politisch und moralisch logische Antwort, die eine Gesellschaft mit massiver Überproduktion geben kann. Für das System ist aber lediglich relevant, dass die Menschen das Dasein ertragen und an Besserung glauben: „Wir schaffen das.“ Es ist eine Situation, die an die Ursachen für den Aufstand des gemeinen Mannes 1524 erinnert. Da ging es unter anderem um Nahrungsversorgung, die Abschaffung der Leibeigenschaft und das Recht, im Wald Bau- und Brennholz zu schlagen, um sich vor der Kälte zu schützen.
Damals wie heute waren Grund und Boden quasi privatisiert; mit der Kirche an der Seite hatte die Oberschicht das Gemeineigentum gestohlen. Die religiöse Vorhaltung, das Diesseits als von Gott gewollte Ordnung hinzunehmen, um das Paradies im Jenseits genießen zu können, mit der jeder Gedanke über die Gründe sozialer Ungleichheit betäubt wurde, versagte im Angesicht wachsenden Mangels. Der Krieg der Bauern ist somit auch als gesellschaftspolitische Antwort auf die Ignoranz und Dekadenz der Fürsten und Pfaffen zu interpretieren, denen die Armut der Landlosen, Leibeigenen und Bauern, die ihnen mit ihrer Arbeitskraft die Teller, Bäuche und Schatztruhen füllten, egal war. Und heute? Da wird beim Mindestlohn um jeden Cent gefeilscht, jedes Almosen als politischer Erfolg gefeiert, und plötzlich ist Altersarmut ein Thema, weil sich irgendwo eine Finanzierungslücke aufgetan hat — oder was auch immer —, während unvorstellbare Summen in den blutigen Rachen der Rüstungsindustrie geworfen werden, weil „wir“ kriegstauglich werden müssen.
Protest ist kein Widerstand
Es geht also immer etwas schief in Sachen Armutsbekämpfung. Deshalb lässt jede „Armutsdebatte“, jedes Ansinnen, der Armut Gesicht und Stimme geben zu wollen, das Untragbare veränderbar erscheinen, ohne es zu verändern, sodass der Protest selbst zu einer Unerträglichkeit wird. Beschwichtigung, leere Versprechungen, Gleichgültigkeit: Diese Fanfare eilte sozialen Umwälzung und Revolutionen voraus. Die gilt es vonseiten des Systems und seiner Profiteure durch ein falsches Wir zu ersticken. Dem kann Protest nicht standhalten — Widerstand schon.
Die Journalistin Ulrike Meinhof, die zu den Mitbegründern der Rote Armee Fraktion (RAF) gehörte, erklärte in einem Artikel im Mai 1968 in der Zeitschrift konkret (3) und mit Bezug auf einen Sprecher der Black-Power-Bewegung den Unterschied:
„Protest ist, wenn ich sage, das und das passt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, dass das, was mir nicht passt, nicht länger geschieht. Protest ist, wenn ich sage, ich mache nicht mehr mit. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, dass alle andern auch nicht mehr mitmachen.“
Die Klarheit der Klassenunterschiede nimmt das falsche Wir nicht an und verneint auch den Protest, weil sich das befreite Bewusstsein, dem das Unrecht keine Ruhe lässt, nicht mit den Verhältnissen abfindet. Es organisiert Widerstand gegen die Tyrannei, um Armut und Elend nicht nur zu lindern, was aus humanistischer Sicht eine Selbstverständlichkeit darstellt, sondern die Wurzel des Übels zu beseitigen.
Beispielsweise gehören Haus- und Betriebsbesetzungen zum Arsenal des Widerstands. Aber auch die Besetzung von Wäldern oder Sitzblockaden vor Kasernen und Waffenschmieden, Demonstrationen und natürlich Streiks. Arbeitsniederlegungen sind eine scharfe und geeignete Klinge, die aber langsam stumpf wird. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad nimm ab und mit ihm die Fähigkeit zum Arbeitskampf. Es sind daher auch Formen der ökonomischen Selbstermächtigung gefragt, nah an der direkten Aktion.
Das Klassenbewusstsein reanimieren
Der Wille muss gegeben sein, das alte System der Profitmaximierung, solange es noch möglich ist, durch ein neues der sinnvollen Produktion und Verteilung zu ersetzen: in Selbstorganisation und auf Basis gemeinsamer Vereinbarungen und individualisierter Konzeptionen realisiert, die sich an Bedürfnissen und sozialen Notwendigkeiten ausrichten, die sich aus den räumlichen, strukturellen und materiellen Voraussetzungen ergeben. Anders ausgedrückt: Es geht um eine Ökonomie der Kooperation, der Herstellung und des Austauschs von benötigten Waren, Dienstleistungen, Nahrungsmitteln, Ressourcen und so weiter, die in der Regel lokalen Charakter hat und nach internationaler Vernetzung strebt. Denn die Diktatur des Profits ist weltumspannend, sodass der Widerstand dies auch sein muss.
Forderungen, die sich mit den Gegebenheiten arrangieren und nach Kompromiss streben, sind auf politischer Ebene reformistisches Getue und journalistisch Schreibkunst ohne Botschaft. Juristische Auseinandersetzungen sind Spiegelfechterei vor einer versteinerten Phalanx, die die untragbaren Besitz- und Verteilungsverhältnisse mit ihren Paragrafen und Rechtsauslegungen absichert. Im sozialen Bereich, exemplarisch dargestellt durch die über 1.000 Tafeln in Deutschland, die einen Teil der Armen speisen, zeigt sich das Zugeständnis an die Diktatur des Profits, den systemisch erwünschten Mangel bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag zu hegen und zu pflegen. Es ist die traurige Seite der bewundernswerten Geste der Menschlichkeit, die Figur des Guten, die helfen will und so zum Werkzeug der Herrschaft wird.
Die Diktatur des Profits, die uns in der Realität als Errungenschaft untergejubelt wird, setzt sich die Tarnkappe des Sozialen auf, ist aber gekleidet in ein Totenhemd.
Sie produziert Reichtum und Armut von biblischer Bekanntheit: Wer hat, dem wird gegeben, und wer nichts hat, dem wird genommen, was er hat. Fragen Sie, wieso Menschen in Berlin, Paris, Barcelona oder sonst wo ihr Blut verkaufen, auf den Strich gehen, ihre Organe versilbern, Drogen verticken, klauen, betteln oder Rentner im Müll nach etwas Essbarem suchen, aber nichts finden, weil ein Obdachloser schon zugegriffen hat? Meine Antwort: Weil die Würde des Menschen unter den Bedingungen des freien Marktes und der uneingeschränkten Verfügungsgewalt über Besitz antastbar ist. Chris Hedges hat dazu mit Blick auf die USA in seinem Report auf Substack (4) einige passende Zeilen verfasst:
„Eine kleine Gruppe von Hightech-versierten Unternehmern, die die Geschwindigkeit der technologischen Innovation verstehen, haben sich diese neue Macht zunutze gemacht, um räuberische Hightech-Monopole wie Uber oder Amazon aufzubauen. (…) Die Schwächsten werden für den Profit geplündert. Die Kranken nähren die Profite von Big Pharma. Die Körper der armen Männer und Frauen auf den Straßen unserer trostlosen, deindustrialisierten Städte sind nichts wert, solange sie nicht in einen Käfig im größten Gefängnissystem der Welt eingesperrt sind und dem Gefängnis-Industriekomplex 50.000 oder 60.000 Dollar pro Jahr einbringen, einschließlich privatisierter Telefondienste, Geldtransferdienste, Kommissariate und medizinischer Dienste. Die an private Unternehmen verkauften Versorgungsbetriebe prellen uns mit überteuerten Rechnungen für Wasser, Strom, Parkplätze und Abwasser. Gleichzeitig sind wir die am meisten beobachtete, fotografierte, ausspionierte und überwachte Bevölkerung in der Geschichte der Menschheit. Diese Technologie ist weit davon entfernt, unser Leben zu verbessern, und schafft eine neue Leibeigenschaft, wenn nicht gar eine neue Sklaverei (…).“
Der irreale Glaube an eine Gemeinschaft aus Herrschern und Beherrschten, Besitzenden und Besitzlosen, Ausbeutern und Ausgebeuteten, Obdachlosen und Miethaien, Arbeitern und Konzernbossen, im globalen Norden sprachlich zur Sozialpartnerschaft verformt, wird bemüht, um dieses ökonomische System der Barbarei, das Abermillionen im Elend vegetieren und Abertausende täglich verhungern lässt, nicht nur zu erhalten, sondern seine digitale, smarte und ökologisch gewaschene Variante ungestört zu installieren.
Jede Handreichung taugt der Diktatur des Profits als Fundament für eine Art Systemkult, in dem nicht etwa ein Führer verehrt wird, sondern ein Konzept der Plünderung. Ihm zu begegnen bedeutet, das falsche Wir abzuschütteln und das verschüttete Klassenbewusstsein zu reanimieren, um gegen die fantasierten „Sozialpartner“ bestehen zu können. Und die erste und einfachste Maßnahme ist es, weder ihre Argumente noch die Überbringer der Botschaften zum Gegenstand inhaltlicher Auseinandersetzungen zu machen, sondern sie zu Randnotizen zu degradieren, um eigene Lösungen zu durchdenken für die Zeit nach der Diktatur des Profits, in der Armut und Hunger abgeschafft sein werden.