Das erste Opfer

Nachdem der Fall des WikiLeaks-Gründers Julian Assange offenbarte, dass die Pressefreiheit Makulatur ist, dürften weitere Opfer folgen.

„Die Presse ist dein Feind“ wusste schon Richard Nixon — daran scheint sich nicht viel geändert zu haben im freiesten Land der Welt. Danny Sjursen, „Aussteiger“ des US-Militärs und eine der wenigen kritischen Stimmen mit diesem Hintergrund, schreibt über das Märchen der Pressefreiheit in den USA. Wenn wir jetzt nicht alle massiv für den verhafteten Julian Assange eintreten, sagt er, dann kann es sein, dass niemand mehr protestieren kann, wenn wir selbst an der Reihe sind.

von Major Danny Sjursen

Es war einmal, vor nicht allzu langer Zeit, da wurde WikiLeaks von Donald sehr geschätzt. Im Verlauf seiner Wahlkampagne hat er das in mindestens fünf Fällen gesagt — in Pennsylvania, Florida, Ohio und Michigan. Das war, als WikiLeaks — zumindest an der Oberfläche — seinen Zwecken dienlich war. Ebendort waren gehackte e-Mails aus der Korrespondenz des DNC (Demokratischer Nationalkongress) veröffentlicht worden, die seiner Wahlgegnerin Hillary Clinton nicht gerade schmeichelten. Was das von Julian Assange geleitete Webportal betrifft, hat ihm das MAGA-(Make America Great Again)Team zu dieser Zeit wohl zugestimmt: Trump gelang es, alle vier „battleground states” für sich zu gewinnen, was ihn ins Weiße Haus befördert hat.

Nun hatte er mehr als drei Jahre, um sich in seinem neuen Quartier zu akklimatisieren, und irgendwann vollzog er Assange gegenüber eine 180-Grad-Kehrtwendung, die dazu führte, dass seine Administration ihn nunmehr als „Staatsfeind, den es zu eliminieren gilt” betrachtet. So kommt es, dass Assange (…) im Vereinigten Königreich seinen Kampf begonnen hat, möglicherweise buchstäblich einen Kampf um sein Leben — gegen das Ansinnen des Justizministeriums, ihn auszuliefern und ihm in den USA den Prozess zu machen.

Die Feinde Amerikas

Ein Journalist, ein Herausgeber, wurde von der US-Regierung als „Feind Amerikas” etikettiert. Das ist nun wirklich eine gefährliche Ausdrucksweise mit Angst einflößenden historischen Präzedenzfällen in Amerika und auch andernorts. Erinnern wir uns, dass dieser Begriff gegen „unliebsame” Elemente der Presse schon von anderen verwendet wurde: der Militärjunta in Myanmar; Venezuelas Hugo Chavez; Russlands Boris Jelzin und Vladimir Putin; Präsident Richard-„Die Presse ist dein Feind”-Nixon; und, ach ja, von Kambodschas Pol Pot und dem sowjetischen Premier Josef Stalin, wenn ich mich recht entsinne.

In unserer eigenen Geschichte ist die Unterdrückung der Presse, insbesondere in Kriegszeiten, so amerikanisch wie apple pie. Während des Ersten Weltkrieges wurde der Espionage Act — das Spionagegesetz — von 1917 (nach wie vor rechtsgültig) dazu eingesetzt, um den totalen Krieg gegen jegliche Art kritischer Medienquellen zu führen. Gelegentlich grenzte die Verfolgung an Orwell’sche Absurdität. So wurde beispielsweise im September 1918 sogar The Nation (das älteste renommierte Wochenblatt der Staaten; Anmerkung des Übersetzers) für vier Tage von der US-Postbehörde nicht ausgeliefert, lediglich weil man darin den Kriegsbefürworter und Arbeiterführer Samuel Gompers kritisiert hatte.

Chelsea Manning

Die relativ verhaltene Berichterstattung in den amerikanischen Mainstream-Medien über diesen höchst aktuellen Kampf um die Pressefreiheit ist gleichermaßen bemerkenswert wie verstörend — doch kaum überraschend. Abgesehen von ein paar wenigen kurzen Spitzen in der Berichterstattung, kann man dasselbe über Assanges angebliche Mitverschwörerin und frühere Militärgeheimdienstanalystin Chelsea Manning sagen — wobei man sich hier oft eher fokussiert auf ihren Status als Transsexuelle oder sie krude des Verrats beschuldigt. Man kann Manning, eine für lange Zeit — und noch immer eingesperrte — politische Gefangene, als Kollateralschaden in der fortlaufenden Saga des Assange-Martyriums betrachten.

Für ihre Rolle in der Weitergabe der fraglichen Dokumente an WikiLeaks erhielt sie vom Justizministerium unter Obama eine 35-Jährige Bundesgefängnisstrafe aufgebrummt — wohl eine der drakonischsten Strafen, die jemals einem Whistleblower auferlegt wurde. Sie hatte sieben Jahre abgesessen, bevor im letzten Moment Präsident Obama ihre Strafe aussetzte— aber, wohlgemerkt, sie erhielt keine vollständige Begnadigung.

Nun hat sich Chelsea in einer bewundernswerten und hochriskanten Zurschaustellung von Courage geweigert, gegen Assange auszusagen. Dieser Ausdruck von Integrität hat sie das eine oder andere Mal ins Gefängnis zurückgebracht, wo sie sich, wohlgemerkt, zum Zeitpunkt dieses Schreibens noch befindet.

Messen mit zweierlei Maß

Für seine „Sünden” kann Assange wahrscheinlich noch härtere Strafen erwarten, sollte er ausgeliefert und — im gegenwärtigen politischen Klima mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit — von einem US-Gericht verurteilt werden.

Er könnte für 75 Jahre einsitzen, sollte er der 18 Anklagepunkte — die meisten nach dem archaischen Spionagegesetz — die man gegen ihn vorbringt, für schuldig befunden werden.

Das ist eine lange Zeit, die hier veranschlagt wird. Es scheint, als habe die US-Regierung jeglichen Sinn für Größenordnung verloren, vielleicht gar ihre geistige Gesundheit. So waren zum Beispiel die gerade mal neun Verurteilten, die der Misshandlung von Gefangenen im Gefängnis von Abu Ghraib im Irak für schuldig befunden wurden — ein globaler Skandal, der, nachgewiesenermaßen, viel mehr „Terroristen hervorgebracht und dadurch zu mehr amerikanischen Toten geführt hat, als alles, dessen man Assange beschuldigt“ — alles dienende Soldaten, keiner von ihnen höheren Ranges als ein Feldwebel.

Die höchste Gefängnisstrafe, die man sich für sie abgerungen hat, betrug zehn Jahre; der Rest lag im Bereich von 0 bis 3 Jahren. Freilich, ein paar Offiziere erhielten mündliche oder schriftliche Abmahnungen — wir sprechen über ein unverbindliches Klopfen auf die Finger — und eine Brigadegenerälin wurde suspendiert und um einen Rang herabgesetzt. Und jetzt sollen 75 Jahre für Assange gerechtfertigt sein? Wirklich?!

Schikanen gegen Assange

Einige der Anhörungen dieser Woche haben Bemerkenswertes enthüllt: die völlig glaubwürdigen — man denke an die unrühmliche Geschichte der Agency — Behauptungen des Assange-Verteidigungsteams beinhalten, dass der US-Geheimdienst (lies: CIA) sich dem Angeklagten gegenüber Drohungen und allerlei Schikanen erlaubt habe. Darunter finden sich Vorwürfe, dass Mitarbeiter einer von den USA gedungenen spanischen Security-Firma Assange während seines Aufenthalts in der ecuadorianischen Botschaft in London überwacht hätten, und möglicherweise sogar erwogen hätten, ihn zu entführen oder zu vergiften. Das alles liest sich wie ein schlechter Spionageroman von John le Carré — und gerade deswegen würde ich es nicht ausschließen.

Schwache Beweise

Was unterdessen gegen Assange vorgebracht wird, ist eher schwach. Es fußt auf vagen, heimtückischen und unbewiesenen Vorwürfen seitens der Regierungsanwälte, dass er „wissentlich Leben auf’s Spiel gesetzt habe”, indem er die geleakten Dateien publiziert habe. Konkret hat James Lewis, als Vertreter der US-Behörden, dem Gericht erklärt:

„Den US sind Quellen bekannt, deren editierte Namen und weitere Informationen zur Identität in durch WikiLeaks publizierten Geheimdokumenten enthalten waren, und die in Folge verschwunden sind.”

Klingt ominös, was? Nun, es kommt noch dicker — Lewis fuhr fort mit dem atemberaubenden Eingeständnis:

„Obschon die US zum gegebenen Zeitpunkt nicht beweisen können, dass ihr Verschwinden eine Folge der Veröffentlichungen durch WikiLeaks war.”

Für mich klingt das nach Hörensagen. Ist das nicht unzulässig vor Gericht? Und die US-Regierung kann nicht beweisen, dass WikiLeaks diese ruinösen Auswirkungen gehabt hat? Nennt mich verrückt, aber ich hatte immer den närrischen Eindruck, dass der „Beweis” der eigentliche Dreh- und Angelpunkt des Rechtswesens sei. Unterm Strich: Sogar nach dem umfänglichen Katalog der Lügen, die das Geheimdienstwesen im Vorfeld des Irakkrieges verbreitet hat, und wenn wir das Folterprogramm der CIA — ein Detail am Rande — in Betracht ziehen, erwartet man wohl vom amerikanischen Volk, dass es diesen Clowns einfach blind vertraut. Ohne mich.

Darüber hinaus besagt das britische Gesetz, dass eine Auslieferung nicht durchgeführt werden kann, falls die Anschuldigungen des Staates, der sie beantragt, „politisch motiviert” sind, was, wie die Verteidigung versichert, für das Verfahren gegen Assange zutrifft. Ja, natürlich ist es offenkundig politisch motiviert! Wie sehr die Regierungsanwälte das auch leugnen mögen — ist nicht ein solches Affentheater an sich schon unglaubwürdig? — das tatsächliche Verbrechen Assanges — aus der Sicht der Regierung — war es doch, sie zu kompromittieren, indem er die weitverbreiteten Kriegsverbrechen der USA und die damit einhergehenden Vertuschungsversuche aufdeckte.

Alles Informationen, die, wohlgemerkt, „Wir das Volk“ zu Recht wissen müssen.

Freie Presse in Gefahr

Was hier auf dem Spiel steht, ist ganz ohne jede Übertreibung die Existenz der freien Presse als solcher. Und in der zusehends mehr und mehr globalisierten Informationssphäre dieser Tage ist es nicht wirklich von Belang, dass Assange zufälligerweise australischer Staatsbürger ist. Sehen Sie — in einer nur ansatzweise freien Gesellschaft sollte die Unschuldsvermutung in solchen Fällen auf Seiten des Publizisten, des Journalisten, des Schreibers sein. Wie Thomas Jefferson im selben Jahr, in dem die heute gültige US-Verfassung ausgearbeitet wurde, geschrieben hat:

„Wäre es mir überlassen zu entscheiden, ob wir eine Regierung ohne Zeitungen oder aber Zeitungen ohne eine Regierung haben sollten, würde ich nicht einen Moment zögern, das Letztere vorzuziehen.”

Kann es in Anbetracht solch „radikaler” — zumal im 18. Jahrhundert — Empfindungen Zweifel darüber geben, auf wessen Seite — zumindest theoretisch — unser (gemeint ist hier das US-amerikanische Volk; Anmerkung des Übersetzers) dritter Präsident in der Angelegenheit „Assange“ steht?

Beachten wir auch, dass diese Vorwürfe nicht etwas sind, das Trump einfach aus dem Ärmel geschüttelt hätte. Sankt Obama hat die Präzedenzfälle und das Fundament für die Pressezensur gesetzt, mit denen Trump jetzt arbeitet. Erinnern wir uns, dass Obama mehr Whistleblower nach dem Spionagegesetz verfolgt hat als alle anderen Präsidenten in einem Zeitraum von hundert Jahren vor ihm zusammen. Darüber hinaus hat sein Möchtegern-Nachfolger im Geiste, Joe Biden, bekannterweise Assange einen „High-Tech-Terroristen” genannt. Wenn wir also sagen wollten, dass Obama die Kegel aufgestellt hat, so ist es nun an Trump, sie umzulegen. Donald hat jedenfalls die Angelegenheiten um einen gefährlichen Schritt vorangetrieben, der in naher Zukunft die bloße Existenz freimütiger Publikationen sensibler Informationen existenziell bedrohen könnte.

Zuerst Assange, dann … wer?

Alles das stellt einen gefährlichen Präzedenzfall auf. Whistleblower werden schon seit Langem von der US-Regierung verfolgt und bestraft. Publizisten? Eher nicht so oft. Das ist eine Linie, die nur wenige Regierungen überschreiten würden. Sogar der Spionagegesetz-Enthusiast Obama schreckte davor zurück und beschloss, Assange nicht anzuklagen. Hinsichtlich der Räson von Obamas Rechtsabteilung berichtete die Washington Post 2013:

„Offizielle Rechtsvertreter sagten, sie hätten Assange verschärft ins Visier genommen, jedoch erkannt, dass sie ein — wie sie es bezeichneten — „New York Times-Problem” hätten. Würde das Justizministerium Assange anklagen, müsste es konsequenterweise auch die New York Times anklagen sowie weitere Nachrichtenorganisationen und Autoren, die geheimes Material veröffentlicht haben — einschließlich der Washington Post und des britischen Guardian.“

Also sollten amerikanische Mainstream-Herausgeber von Zeitungen und Online-Seiten sowie Produzenten von Fernsehnachrichten unbedingt ihre Evelyn Beatrice Hall auffrischen; ihr wisst schon, ihre oft zitierte, aber selten umgesetzte Maxime:

„Ich stimme nicht mit dem überein, was Sie sagen, aber ich werde Ihr Recht, es zu sagen, mit meinem Leben verteidigen.”

Letztlich spielt es keine Rolle, ob man Assange mag, seine Weltsicht teilt oder gar mit seinen Taktiken einverstanden ist. Das Ringen um die bürgerliche Freiheit muss vielmehr im Namen der Solidarität um die Souveränität der Presse geführt werden und dabei über die Person des Herrn Assange hinausgehen. Man mag ihn lieben oder hassen, WikiLeaks mögen oder verabscheuen — die mächtigsten amerikanischen Presseorganisationen müssen den Schulterschluss mit Assange üben. Es ist so gut wie sicher, dass die Washington Post, die New York Times und der Rest der etablierten Clique das nicht tun wird. Denkt an meine Worte: Sie werden den Tag bereuen, an dem sie es nicht getan haben.

Wenn nämlich Trump — oder welches potenzielle Monster ihm auch immer folgen mag — einst den gerichtlichen Präzedenzfall eines in der Vergangenheit verurteilten Assange herbeizitieren sollte, um, sagen wir, die New York Times anzuklagen, sollte dieses Blatt eines Tages etwas veröffentlichen, das die Regierung kompromittiert oder ärgert, wer wird dann da sein, um seine Stimme für das „Leitmedium der Nation ” zu erheben?

In seinen Betrachtungen zur staatlichen Unterdrückung durch die Nazis kam Martin Niemöller zu dem Schluss, dass diese nur durch die Komplizenschaft des deutschen Volkes möglich war, und schrieb die berühmten Zeilen:

„Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat.

Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Gewerkschafter.

Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen: ich war ja kein Jude.

Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“

Wie im Deutschland der Mitte des 20. Jahrhunderts, so heute im Amerika von 2020. Lasst mich nur eine modifizierte Version von Niemöllers Zitat vorschlagen, die höchst relevant für die Mainstream-Presse sein sollte:

Zuerst haben sie sich (ja, so war das!) Antiwar.com vorgenommen. Dann WikiLeaks. Dann Max Blumenthals The Grayzone … und dann, nun, ihr wisst schon, wo das hinführt...


Quellen und Anmerkungen:

Major Danny Sjursen ist ein Offizier der U.S. Army im Ruhestand und ehemaliger Geschichtsdozent an der West Point Akademie. Er war im Irak und in Afghanistan mit Aufklärungseinheiten im Einsatz.

Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „They came first for Assange“. Er wurde vom ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.