Das Ende der Redefreiheit
Die Rückkehr in mein Geburtsland Israel hat mich heimatlos gemacht.
Deutsche Regionalpolitiker verbieten eine Veranstaltung mit einer jüdischen Referentin — wegen Verdachts auf Antisemitimus! Solche Absurditäten sind keine Seltenheit in einem Deutschland, das die Errungenschaften der Meinungs- und Versammlungsfreiheit Schritt für Schritt aufgibt. Die Autorin hatte sich in ihrer Ursprungsheimat Israel nicht mehr wohl gefühlt und war nach Deutschland gegangen — in der Annahme, dort in Freiheit für eine menschlichere deutsche Israelpolitik kämpfen zu können. Fehlanzeige. In einem immer hysterischer und repressiver werdenden Klima wird der Antisemitismusvorwurf heutzutage inflationär eingesetzt, um Meinungsgegner mundtot zu machen. Schlimmer noch: um die lästige Redefreiheit als Ganzes außer Kraft zu setzen.
Gerade komme ich zurück von einer Veranstaltung im Münchner Westen, die es laut Beschluss des Münchner Stadtrates eigentlich gar nicht in der bayerischen Hauptstadt geben dürfte. Also nicht öffentlich und schon gar nicht in städtischen Räumlichkeiten. Denn bei dieser Veranstaltung wird über Israel gesprochen und über die israelische Besatzungspolitik, und das mag man nicht hören und nicht zulassen in der ehemaligen Hauptstadt der Bewegung, denn Israelkritik ist bekanntlich antisemitisch und das kann man nicht wollen. Jedenfalls nicht öffentlich.
Nun bin ich selbst die Referentin dieser Veranstaltung, in Israel geborene Jüdin der sogenannten Second Generation: Großvater im KZ ermordet, Vater Holocaust-Überlebender, Mutter Nachfahrin marokkanischer Juden aus Jerusalem; in Israel und Ostafrika aufgewachsen, mit acht Jahren nach Deutschland gekommen und bis zum reifen Alter von Mitte vierzig in Europa, meist in Deutschland ansässig.
Als ich mich zusammen mit meinem deutschen (nicht-jüdischen) Mann entschloss, 2007 nach Israel zu gehen und meinen Kindern etwas von diesem Land mitzugeben, das mich in meiner Erinnerung durch seine freie, bunte, sozialistische, alle-für-einen-einer-für-alle-Mentalität geprägt hatte, da geschah das in allererster Linie aus einer romantischen Sehnsucht heraus: Ich wollte wieder nach Hause, wollte meine Muttersprache wieder hören und sprechen, wollte die Gerüche und Geschmäcker meiner Kindheit wieder erleben und mit meiner kleinen Familie teilen, wollte meiner großen Familie mit Tanten, Vettern und Cousinen nahe sein, wollte das Meer und die Luft und das Chaos und die Märkte und die Hitze wieder spüren – daheim sein eben.
Genau zwei Jahre später verließen wir Israel wieder, im Gepäck die Überreste eines zerschlagenen Traums. Dieser Entscheidung, unserem zwei Jahre zuvor begonnenen, anfangs aufregendem neuen Leben so abrupt ein Ende zu setzen, gingen tiefgreifende Erfahrungen voraus, die mein gesamtes Weltbild, mein Glaubensfundament in seinen Grundfesten erschütterte. Mit „Glauben“ meine ich nichts Religiöses, vielmehr die Werte, Grundvorstellungen, inneren Leitlinien. Nicht hinterfragte, weil vollkommen selbstverständliche Annahmen, die mich ein Leben lang begleitet hatten, angefangen bei dem ‚unbesiedelten Land’, das meine Vorväter angeblich urbar gemacht hatten, bis hin zur Sperrmauer, die fraglos unschön ist, aber dem common sense nach der Sicherheit Israels vor permanent einströmenden Selbstmordattentätern dient.
Die Realität lehrte mich etwas völlig anderes. Ich besuchte immer häufiger die „Besetzten Gebiete“, also Palästina oder besser gesagt die 22 Prozent, die davon übrig geblieben sind und die wir heute als ‚Westbank’ kennen. Dieses Palästina ist zur Hälfte mit illegalen jüdischen Siedlungen bebaut, mit Checkpoints durchsetzt und von einer bis zu acht Meter hohen Trennmauer umzingelt. Die Menschen leben dort unter israelischem Militärrecht – die palästinensischen Menschen, wohlgemerkt. Die jüdischen Menschen – wir nennen sie Siedler – genießen die demokratischen Rechte aller jüdisch-israelischen Staatsbürger.
PalästinenserInnen können kein selbstbestimmtes Leben führen, buchstäblich jeder Schritt ihres Lebens, jeder Augenblick bei Tag und bei Nacht, ist bestimmt durch eine mittlerweile 51-jährige Militärbesatzung.
Was das Leben unter Besatzung für PalästinenserInnen wirklich bedeutet, kann man nur durch eigene Anschauung begreifen. Daher habe ich 2010 begonnen, Reisen nach Israel und Palästina mit kleinen Gruppen zu organisieren, habe ein Theaterstück über die Besatzungsrealität geschrieben und gespielt, habe als Musikerin ein eigenes Bühnenprogramm dazu entwickelt. Und ich halte Vorträge unter dem Titel „Daheim entfremdet“, in denen ich über meine ganz persönlichen Erfahrungen spreche und daraus politische Schlussfolgerungen ziehe.
Doch das wird hierzulande nicht gern gesehen – jedenfalls soll der Anschein gewahrt bleiben.
„Wir Deutschen“ kritisieren Israel nicht – angeblich aus Respekt gegenüber den jüdischen Opfern des Holocaust heraus. Diese Scheinheiligkeit sucht ihresgleichen.
Wahr ist nämlich:
- Etliche Holocaust-Opfer haben sich entsetzt über die menschenverachtende Politik Israels gegenüber den Palästinensern geäußert, alle mit Bezug auf ihr eigenes Leid, das sie durch deutsche Ausgrenzung, Diffamierung, Haft, Folter und Auslöschung ihrer Familien erfahren haben. Der falsche Antisemitismusvorwurf wird ihrem wirklichen Leid nicht gerecht.
- Hinter vorgehaltener Hand höre ich immer wieder diesen Satz: „Sie als Jüdin können Israel ja kritisieren, aber ich als DeutscheR darf das nicht. Dabei denke ich genauso wie Sie.“ Schlimmer noch: Bei manchen höre ich Sätze wie „Wie können Juden das den Palästinensern antun, was die Nazis ihnen angetan haben?!“, oft noch extremer ausgedrückt. Eine Aussage, gegen die ich mich heftig verwehre, denn das Verbrechen der Nazis lässt sich nicht vergleichen.
- Bei aktiven Politikern und aus Regierungskreisen ist diese Haltung ebenso vertreten, noch verstärkt mit dem Hinweis, man wolle ja nicht seine Karriere aufs Spiel setzen, indem man Israel kritisiere; der Vorwurf des Antisemitismus folge ja auf dem Fuße. Auch diese Aussagen selbstverständlich immer nur hinter verschlossenen Türen und ohne Zeugen.
Infolgedessen werden israelkritische Veranstaltungen landauf, landab immer öfter als „antisemitisch“ diffamiert, kurzfristig abgesagt oder von vorneherein verboten. In München ist mein Vortrag „Daheim entfremdet“ seit Anfang des Jahres 2018 bereits zweimal in öffentlichen Räumen nicht gestattet worden. Begründung: Der Stadtratsbeschluss vom Dezember 2017, wonach antisemitische Veranstaltungen nicht in öffentlichen Räumen stattfinden dürfen. Ich eine Antisemitin?!? Eine Gruppe besorgter jüdischer Münchner Bürger schreibt fleißig diffamierende Mails, in denen behauptet wird, ich sei BDS-Aktivistin und unterstütze den (zivilgesellschaftlich gewaltfreien, durchaus legitimen) Boykott israelischer Produkte.
Ich habe gemäß Stadtratsbeschluss noch nicht einmal Gelegenheit, öffentlich darüber zu sprechen, warum BDS aus meiner Sicht das Beste ist, was der israelischen Regierung passieren konnte! Mit BDS (Boykott, De-Investitionen, Sanktionen ist eine von der palästinensischen Zivilgesellschaft ausgehende gewaltfreie Bewegung) hat Israel den besten Sündenbock, den es sich wünschen konnte, auf den man mit dem Finger zeigen und behaupten kann, der Boykott israelischer Waren sei gleichzusetzen mit dem (tatsächlich antisemitischen) „Kauft nicht bei Juden“ der Nazis.
Dass Deutschland und der Rest der Welt darauf mit entsetztem Zusammenzucken und totaler Ablehnung reagieren würden, war abzusehen und wird von der israelischen „Hasbara“(= offizielle israelische Propaganda, die der Welt die Erklärung – Hasbara auf Hebräisch – liefert, warum Israel tut, was es tut) dankend aufgegriffen. Den Stempel „BDS“ aufgedrückt zu bekommen bedeutet in Deutschland seither, als Antisemit diffamiert zu werden.
Die wirklichen Folgen sind viel weitreichender, denn sie unterminieren nichts Geringeres als unsere im Grundgesetz festgelegten Grundrechte, hier vor allem Artikel 5: Meinungsfreiheit. Wenn wir Israelkritik oder BDS oder sonst etwas nicht einmal mehr öffentlich debattieren dürfen – und genau das sehen Beschlüsse wie der des Münchner Stadtrates vor – was bleibt dann noch übrig von unserer Versammlungs- und Redefreiheit? In der jüngsten Absage des Münchner Stadtmuseums zu einer Veranstaltung, bei der ich mit zwei Stadträten von SPD und CSU, Befürwortern des Beschlusses, über ebendiesen diskutieren sollte, hieß es in der Begründung: „(...) dass Organisationen und Personen, (...) welche sich mit den Inhalten, Themen und Zielen der BDS-Kampagne befassen, (...) von der Raumüberlassung bzw. Vermietung von Räumlichkeiten ausgeschlossen (sind)“.
Wir sollen uns also nicht mit einem bestimmten Thema „befassen“ dürfen?! Während seit Monaten wöchentlich Mügida-Demonstranten in München ihr Unwesen treiben dürfen und auch noch von der Polizei geschützt werden?
Während AfD und NPD jederzeit öffentliche Räume anmieten dürfen?
Im Gegenteil, wir sollten uns alle ganz viel damit befassen, wir sollten uns empören und protestieren und uns zur Wehr setzen! Denn solche Absagen sind nicht etwa eine bayerische Unart, sondern ein Phänomen, das sich landauf, landab in Städten wie Frankfurt, Hamburg, Berlin, Freiburg und anderswo schon zig-fach ereignet hat. Annette Groth, frühere menschenrechtspolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke, hat 2017 zusammen mit Günther Rath die Broschüre „Meinungsfreiheit bedroht?“ zum Umgang mit Israelkritik herausgebracht. Ebenso existiert eine Liste mit knapp 100 dokumentierten Absagen, die seit 2005 von Christoph Rinneberg akribisch geführt wird und die beweist, dass jede Form von Israelkritik unterbunden werden soll.
Doch es geht schon lange nicht mehr allein um Kritik am Staate Israel, die noch am einfachsten als „Antisemitismus“ gelabelt und mit vermeintlich gutem deutschen Politiker-Gewissen abgewürgt werden kann. Es geht um die Beschneidung demokratischer Grundrechte, die über die Hintertüre Einzug hält und sich langsam wie ein Krebsgeschwür ausbreitet.
Eine Beschneidung, wie sie im jüngst verabschiedeten bayerischen Polizeiaufgabengesetz (PAG) Ausdruck findet, das trotz massiver Proteste problemlos durchgewunken wurde, weil nach Meinung unseres Innenministers Seehofer 30.000 Protestanten falsch informiert seien und sich zu Unrecht über die umfassendste Ermächtigung der Polizei seit Kriegsende aufregten. Werden wir alle mit der Zeit unmündige Bürger? Oder geraten wir vielmehr in einen globalen Sog rechter und selbstgerechter Machtbetrunkenheit, angeführt von Leuten, deren Namen ich hier gar nicht aufschreiben möchte, so unangenehm und bedrohlich und verächtlich empfinde ich ihr Getrampel auf unseren Menschenrechten, ja auf uns Menschen selbst.
Noch haben wir in Deutschland demokratische Wege und Möglichkeiten, uns zur Wehr zu setzen und gegen schreiendes Unrecht aufzubegehren. Als ich Israel vor bald 10 Jahren verließ, hatte ich bereits das Gefühl, dass die Möglichkeiten dort eingeschränkt sind. Ich ging in meine alt-neue Heimat Deutschland zurück, in der Gewissheit, hier mit allen demokratischen Mitteln für ein positives Einwirken Deutschlands auf die israelische Politik kämpfen zu können, damit ich eines Tages vielleicht in meine befriedete Erstheimat zurückkehren und mit allen Menschen dort unter gleichen Rechten leben kann.
Wie soll ich heute darüber denken, wie soll ich mich fühlen, wie verhalten, nachdem Israel seinen 70. Geburtstag mit über 60 Toten und Tausenden Verletzten begangen hat, deren Leid in Israel eine Randnotiz ist und in deutschen Medien meist als selbstverschuldet und terrorgelenkt dargestellt wird? Wohin soll es führen, wenn selbst das Sprechen über eigene persönliche Erfahrungen in öffentlichen Räumen nicht mehr stattfinden soll?
Wie kann ich dazu schweigen, dass Israel längst nicht mehr das Land ist, wofür meine Eltern kämpften – nicht nur für das physische Land, sondern vor allem für seine Ideale und Werte?
Wenn wir darüber nicht einmal mehr hier in Deutschland reden dürfen, geht etwas Universelles verloren, das die Menschheit sich schwer erkämpft hat und das sie nach dem letzten großen Weltkrieg in der Charta der Menschenrechte festgehalten hat. Sie beginnt mit den Worten:
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.
Darum lasst uns empört sein, lasst uns wo auch immer Veranstaltungen (1) abhalten, lasst uns solidarisch sein und eigene Befindlichkeiten überwinden; lasst uns menschliche Werte und Liebe und Respekt voreinander leben; lasst uns austauschen und streiten und voneinander lernen.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Zum Thema „Zukunft für Palästina und Israel“ hat das Bündnis zur Beendigung der israelischen Besatzung BIB e.V. eine Konferenz vom 25. bis 27. Mai 2018 in Heidelberg organisiert und stellt die Kernfrage, ob Deutschland die israelische Besatzung verlängert.