Das Du in mir

Auseinandersetzungen in der Außenwelt sind oft nur ein Spiegel der Dialoge, die wir mit Instanzen in uns selbst führen.

Unser inneres Geschehen ist überbordend, irrational, emotional und vor allem weltgestaltend. Wir projizieren es auf unser Umfeld. Um uns selbst zu rechtfertigen, verfallen wir in Monologe oder treten mit uns selbst in einen Dialog, um uns entweder zu bestätigen, zu verteidigen oder gar zu zerstören. Diesem Dialog, in dem das Ich mit dem Du konferiert, geht der Dichter Thomas Eblen nach, indem er Situationen beschreibt, in denen sich dieses Du im Widerstreit mit dem Ich artikuliert. Dabei wird das Ich empfänglich, auch für das, was uns anfällig macht: Angst. Auch politische Verletzungen und Wünsche können auf jenen Kampf zurückgeführt werden, den wir mit dem Gegenüber in uns selbst führen. Eine unpolitische-politische Meditation.

1

Du hast es bemerkt. Ich nicht. Jetzt erkenne ich es auch, aber ich kann es noch immer nicht glauben. Es gab Zeiten, da empfanden wir in unserem Leben — das kannst du doch bestätigen, nicht wahr? — eine unglaubliche Weite. Eine, in der man gedankenlos spazieren gehen konnte, ohne dass sich jemand in den Weg stellte. Natürlich gab es immer Einwände, Widerworte, andere Meinungen. Mit denen gingen wir aber eher leichtfertig um. Sie kamen uns zumindest nicht so nahe, dass wir uns bedroht fühlen mussten. Es waren eher leichte Gegensätze, wenn auch oft schwere Geschütze aufgefahren wurden.

Doch nun ist alles anders. Die Leichtigkeit ist weg. Alles ist schwer geworden. Das eigene Argument muss genau abgewogen werden, wehe, man überschreitet Grenzen.

Hast du das erwartet?

Ich weiß, in dir war schon immer ein Misstrauen, ein Nicht-glauben-Können, dass die Macht uns so viel Freiheit gewährt, wobei du mit dem Begriff Macht undeutlich bliebst und ich es deshalb als eine angstgetriebene Vorsicht empfand. Aber du hattest recht, diese Freiheit wurde uns gestattet, wie einem Häftling der Freigang.

Wäre all dies zu verhindern gewesen? Hätte ich dir genauer zuhören sollen, dich ernster nehmen? War ich zu leichtgläubig?

Ich frage dich jetzt, obwohl ich es schon früher hätte tun sollen. Du bist seltsam wortkarg geworden, jetzt, wo du in fast allem Recht bekommen hast. Warum? Siehst du keinen Ausweg?

2

Wieso hast du mich nicht einfach in Ruhe gelassen. Seit ich dich kenne, bist du hinter mir her. Was denkst du dir eigentlich. Drehe ich mich um, bist du da, öffne ich die Augen, starrst du mir ins Gesicht. Will ich meine Ruhe haben, redest du ohne Unterlass. Und es trifft mich. Es ist ja nicht so, dass du mir gleichgültig bist, im Gegenteil, ich halte große Stücke auf dich, weil mich niemand besser kennt als du, bist du doch Teil von mir.

Aber trotzdem, warum bist du so unerträglich geworden? Zu einer Last, die mich schwerer macht als es nötig wäre. Es gab Zeiten, als du noch etwas zurückhaltender warst, wo ich fast das Fliegen lernte. Im übertragenen Sinne natürlich, aber das war schön, herausfordernd, und plötzlich entdeckte ich Räume, in denen ich mich öffnen konnte, und so etwas wie ich selbst trat hervor.

Kannst du das verstehen? Nein! Denn kaum entdeckte ich diese Räume, warst du zur Stelle und zerstörtest sie mit wenigen Worten, und das Schlimme war, dass ich es dir glaubte, denn ich vertraute dir. Jetzt, da ich alt bin, stehe ich da und weiß nichts weiter mit mir anzufangen, als in den Urlaub zu fahren oder spazieren zu gehen. Habe ich deshalb gelebt?

Du bist seltsam einsilbig geworden, als ahntest du, was du verbrochen hast, so über mein Leben hinweg. Letztendlich kann ich dir aber keinen Vorwurf machen, denn ich habe dich willkommen geheißen, anstatt dich zu bekämpfen. Nein, das Beste wäre wohl gewesen, ich hätte dich gar nicht erst angesprochen. Doch geht das überhaupt?

3

Ich habe schlimme Dinge getan. Du weißt es, du hast mir dazu geraten. Ich war im Zwiespalt, aber deine Kälte hat mich dann doch überrascht. Deine Einflüsterungen kamen zur rechten Zeit. Ich war unter Druck geraten. Du weißt ja, wie es ist, wenn man Vorgesetzte hat, die selber unter Druck stehen. Auch wie du argumentiertest, mit welcher Härte, Brutalität und Gleichgültigkeit. Es ging schließlich um Menschen, um ihre Existenz, die ich bedrohen sollte. Die hatten Familie, zum Teil kleine Kinder. Das schien dir gleichgültig, und meine Einwände, zugegebenermaßen schwach, wischtest du mit ein paar Worten weg.

Was sagtest du nochmal: Jetzt hab dich nicht so. Man muss auch mal an sich denken, und die Doppelhaushälfte, und das Kind, das studieren soll, und an die Frau, die in dir einen starken Mann sieht. Und überhaupt, was gehen mich diese Leute an. So hast du mich überzeugt, wobei ein kleiner Zweifel blieb.

Ich spürte während einigen Tagen einen Druck in der Magengegend, vor allem als ich den Artikel schrieb, der die Vernichtung — im wahrsten Sinne des Wortes — dieser Leute auslöste. Irgendwann hörte der Druck auf und ein Machtgefühl stieg in mir auf. Ich lächelte überlegen und drückte die Hand meines Vorgesetzten ein wenig stärker als zuvor.

4

Jetzt ist es dir doch gelungen, alle Hemmnisse, die in dir tobten, abzulegen. Es hat zwar lange gedauert, aber du hast es geschafft. War ich dir Ratgeber genug oder hörtest du auch auf andere?

Ich hab eigentlich nie auf dich gehört, immer waren es Menschen, denen ich begegnet bin. Sie durchwanderten mich und ließen kleine wertvolle Geschenke zurück. Diese festigten sich in mir und bildeten meine Sprache um und aus, so dass ich mit der Zeit sprechen lernte, so zu sprechen, dass mir Menschen zuhören.

Also erkennen sie sich in mir wieder. Vor allem in Bildern tauchen sie auf, gehen darin umher und suchen einen Sinn für sich. So zumindest stelle ich mir das vor.

Du, der du mich ja immer begleitet hast, warst eher ein Hemmschuh, denn du stärktest mit deinen Ratschlägen meine Zweifel, mein Ungenügen, meine Ängste. Ich bin dir deshalb nicht böse, denn das hatte seinen Sinn.

Ich musste mich gegen dich auflehnen, und das geschah, bis du irgendwann geschwiegen hast, und wenn du dann doch etwas sagtest, war es eine Frage. Du wurdest neugierig und nicht mehr anklagend. Du wolltest Antworten von mir.

5

Jetzt ist es mir doch wieder gelungen, dich für eine Zeit zurückzudrängen. Wie gut es mir ging. Ich sah meiner Liebe, an der du doch so viel auszusetzen hast, offen in die Augen und lächelte sie an. Wie befreiend das war, ohne deine dauernde Kontrolle, dein Misstrauen und ohne deine Angst, sie, meine Liebe, könnte mich verlassen.

Immer wenn ich dich höre, bin ich wie ein Punkt im Universum meiner Wirklichkeit. Immer wieder zerrst du mich zurück in deine Höhle, dort wo ich nur Fläche sein kann, keine Tiefe mehr wahrnehme, sondern nur deine dauernden Vorwürfe. Wie hineingehalten in eine unlebbare Welt. Und doch schaffst du es immer wieder, sie bewohnbar zu machen. Kleidest sie mit schönen Möbeln aus, mit Geschenken wie Hoffnung, Glanz und Unverletzbarkeit.

Dann traue ich dir sogar, ja bin ganz bei dir, höre dir mit offenen Sinnen zu. Doch zerstörst du mich mit nur einigen Worten, so als ob du nicht anders könntest, und ist das nicht die Tragik unseres Lebens? Machst mich, sobald ich auch nur einen kurzen Moment mich weiten will, wieder zu einem Staubkorn meiner Wirklichkeit, und die Angst kriecht hoch, macht dich fett und breit, während ich darbend dahin vegetiere, abgehärmt, durchsichtig und keiner Lebendigkeit mehr fähig.

Wie sehr sehne ich mich nach den Momenten, in denen du mich in Ruhe lässt. Die erreiche ich nur, wenn ich mich meiner Liebe vollkommen öffne, wir ineinander verfangen sind und so etwas wie Einheit erfahren. Fast göttlich mutet es an.

6

Und, wie ist es gelaufen. Wurdest du genommen, hast du alles gewusst, was von dir verlangt wurde? Hast du es gut formuliert, so dass sie merken, woher du stammst? Du wirst doch kein falsches Wort gesagt haben, eines das zwischen die Sätze schlägt, wie eine Axt in einen Baumstamm. Nun sag schon, ist alles gut gegangen. Wir haben uns ja gut vorbereitet. Haben ein neues Kleid gekauft, die Haare schön gekämmt, das Gesicht in ein makelloses Bild verwandelt. Die Hände manikürt und die Fingernägel mit einem unaufdringlichen hellen Rot angemalt. Und die Wangen in ein leichtes Rouge getaucht, als wärst du dauernd ein wenig aufgeregt, was ja viele Menschen stimuliert, zumal du so schön bist.

Aber das hat ja nur eine geringe Rolle gespielt, außer Acht darf man es allerdings auch nicht lassen. Wichtig ist dein Fachwissen, und wir haben gepaukt, weißt du noch, ganze Nächte sind wir aufgeblieben, nur um diese Worte, diese verdammten Sätze, mit ihrem holprigen Sinn in uns zu stopfen. Ich fragte dich ab, ich war streng, ja erbarmungslos. Als deine Augen vor Müdigkeit zufielen, war ich zur Stelle und riss sie wieder auf, denn ich war nicht zimperlich.

Oft erschrecktest du ein wenig, manchmal weintest du sogar. Aber der Erfolg gibt uns recht. Du wirst die Stelle bekommen, davon bin ich überzeugt. Dann, wenn es so weit ist, können wir uns für einen Augenblick zurücklehnen, aber dann, ja dann, wirst du den Anforderungen gerecht werden. So wirst du dein Glück finden und ich werde endlich stumm sein können. Ist das nicht dein größter Wunsch.

7

Wenn du mit mir gerade einen Disput ausgetragen hast, in dem ich als Verlierer hervorging, und du deshalb wieder in deine Anonymität verschwinden konntest, empfand ich eine schier unerträgliche Einsamkeit. Dann diese Stimmen, die von außen auf mich eindrangen. Bildschirmstimmen, die mir erzählten, dass man für die anderen sein eigenes Leben einzuschränken habe, dass man Rücksicht nehmen soll, für Leute, die man gar nicht kennt. Da man ja gefährdet sei und damit andere bedrohte. Ich wollte dich darauf ansprechen, aber du schlummertest schon auf unserem gemeinsamen Kissen der Erholung. Ich komme gleich nach. Doch noch bin ich zu aufgeregt.

Welche Anmaßung in dieser Forderung steckt, erkennt man daran, dass nur noch die Angst als Antrieb bleibt, wenn man es aus der Entfernung betrachtet. Doch in der Gegenwart, im Augenblick, ist die Angst gut versteckt in Rechtfertigungen und Begründungen. Sie ist listig und rücksichtslos. Sie zerstört immer im Augenblick und löscht eine lebbare Zukunft aus. Morgen früh, nach schweren, tiefsitzenden Träumen, werden wir uns aufs Neue sprechen. Zuerst müde und verzweifelt, dann allmählich aufgerichtet, stolz und Veränderungen wollend. So will ich dich, so willst du mich.