Das deutsche Dilemma
In ihrem Bemühen, nicht für Antisemiten gehalten zu werden, diskriminieren viele Landsleute jetzt Muslime — nur eine ausgewogene Haltung könnte hier heilsam sein.
Die veröffentlichten Debatten der Leitmedien über die aktuellen Gewaltakte in Nahost tendieren vielfach zu einem menschenverachtenden Legalismus. So wird Unmenschliches legitimiert, was so gut wie nichts zu einem friedlichen, kosmopolitischen Zusammenleben in Deutschland beiträgt. Man hat den Eindruck, die deutsche Öffentlichkeit beschränke sich auf Rechthaberei und politischen Opportunismus. Aus dem Blick gerät dabei, dass sich dieser Umgang mit dem nahöstlichen Themenspektrum sowohl antisemitisch als auch antifilastinisch — also diskriminierend gegen Palästinenserinnen und Palästinenser — auswirken kann. So wird eine weitere gesellschaftliche Spaltung begünstigt, die wir nicht brauchen.
Von der Judenverfolgung zur Muslimenverfolgung
In einem Interview mit dem britischen Journalisten und TV-Moderator Piers Morgan erklärte der ägyptische Herzchirurg und Satiriker Bassem Youssef, wie er den Nahostkonflikt empfindet. In drei Zeilen, die sich wie Skalpellinzisionen bei einer Operation am offenen Herzen ohne Narkose anfühlten, sagte er: „Du hast 80 Jahre gebraucht, um ein Wort auszutauschen: aus ‚jüdisch‘ wurde ‚muslimisch‘. Und dann hast du deine Schuld auf uns projiziert und uns unser Land weggenommen. Dieser Deal ist echt beschissen, Mann!“ (1).
Mit „du“ meinte er selbstverständlich nicht die Person Piers Morgan, sondern den ihm gegenüberstehenden Westler als Gesprächspartner oder Zuhörer. Unmittelbar davor erwähnte Youssef die in den USA begangene Ermordung eines sechsjährigen palästinensisch-amerikanischen Jungen durch einen 71-jährigen Amerikaner, der rief: „Ihr Muslime müsst sterben!“ (2).
Stellen wir uns für einen Moment vor, der Westler, den Bassem Youssef hier anspricht, wäre ein Deutscher, er repräsentierte die deutsche Gesellschaft oder die deutsche Mentalität — auch wenn Verallgemeinerungen nie akkurat sein können. Ist etwas dran, an dem, was er sagt? Kann es sein, dass „der Deutsche“ seine vornehme, historisch übernommene Genozid-Reue, welche zu einem identitären Moment des deutschen Nationalbewusstseins erhoben wird, auf die arabischstämmigen Palästinenser projiziert? Vielleicht umarmen die Deutschen deswegen das zionistische Projekt Israels so enthusiastisch, weil sie es halbbewusst als das eigene, selbst auferlegte Fegefeuer-Projekt ansehen.
Elemente der Ausbildung eines Nationalbewusstseins
Wer sich als Deutscher für die zionistisch-nationale Sache kritiklos einsetzt oder sie sogar zu einem Teil der „deutschen Staatsräson“ erheben möchte, läuft Gefahr, sich gleichermaßen für identitär-rassistische Dinge gegen das palästinensische Volk zu engagieren. Das wäre nichts anderes als Antiarabismus, oder genauer gesagt Antifilastinismus — was nicht mit dem ästhetischen Philistinismus oder dem Philistertum zu verwechseln ist, obschon all dies Ausdruck ein und desselben Phänomens ist: identitärer Rassismus.
Antifilastinismus ist ein zusammengesetztes Wort aus dem modernen hocharabischen Filastin beziehungsweise al-Filastinijjun zur Bezeichnung des alten und modernen Palästinas sowie dessen Bewohner und dem altgriechischem Präfix antí- für „gegen“ oder „in Ablehnung von“. Antifilastinismus will in diesem Zusammenhang dasselbe identitär-rassistische Phänomen wie Antisemitismus bezeichnen, aber richtet sich gegen Palästinenserinnen und Palästinenser.
In einem Wort, es handelt sich um den identitären Rassismus gegen palästinensische Menschen aufgrund ihrer ethnischen Herkunft oder kulturellen Identität, eine sehr spezifische Form von Antiarabismus also.
Warum kann denn ein braver deutscher Staatsbürger Gefahr laufen, sich in solchen Rassismus verwickeln zu lassen? Das kann durch eine gut gemeinte und trotzdem unkritische, ideologiebelastete Sympathie für Israel geschehen. Inwiefern?
Antifilastinische Aspekte
Das zionistisch-nationale Bewusstsein der Israelis hat sich unter anderem stets in Abgrenzung zu den arabischstämmigen Bewohner Palästinas entwickelt, die die zionistisch beeinflussten jüdischen Einwanderer aus Osteuropa und Russland in den 1880er Jahren vor Ort fanden.
Dass Palästina beziehungsweise die südliche Levante praktisch unbewohnt und unterentwickelt vorgefunden wurde, ist ein gängiger, rassistisch motivierter Mythos, den leider viele Deutsche und viele Christen in aller Welt gerne glauben. Dieses verzerrte Bild wird durch die Tatsache widerlegt, dass das von den Einwanderern begehrte Palästina bereits seit Jahrhunderten und zum Zeitpunkt der ersten Einwanderungswelle von rund 450.000 Muslimen überwiegend arabischstämmiger Herkunft und circa 15.000 Juden bewohnt war (3).
Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildete sich in Palästina eine städtische Mittelschicht heraus, die den sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt der Region bezeugte und ein wichtiger Faktor für das entstehende Nationalbewusstsein der Bewohner Palästinas war und ist (4). Nichtsdestotrotz geht das Selbstverständnis der jüdischen Einwanderer seitdem mit einem dezidierten Anspruch auf das vorgefundene und über mehrere Phasen sowie durch unterschiedliche Mechanismen angeeignete Territorium einher. Das mit diesem Anspruch verbundene Zugehörigkeitsgefühl der zionistisch geprägten Israelis zur Region Palästinas wird nicht zuletzt durch die biblischen Erzählungen des hebräischen Tanach besonders geprägt.
Die Identität der Bewohner der südlichen Levante
Hingegen haben sich das Nationalbewusstsein der Palästinenser und ihr Zugehörigkeitsgefühl zur südlichen Levante unter anderem auch in Abgrenzung zu den ungefähr 380.000 jüdischen Einwanderern herausgebildet, die von 1882 bis 1939 in die Region kamen (5). Die Palästinenser nahmen allmählich die jüdischen Einwanderer immer weniger als freundliche Gäste wahr. Jüdische Immigranten wurden nach und nach eher als Eindringlinge und Landusurpatoren angesehen, von denen sich die Einheimischen bedroht fühlten.
Die Tatsache, dass auch die Herausbildung eines palästinensischen Nationalbewusstseins mit einer grundlegenden Feindseligkeit gegenüber jüdischen Menschen einhergeht, ist nicht zu übersehen. Diese Feindseligkeit muss nicht unbedingt von vornherein Hass bedeuten, aber schon eine gewisse Abneigung oder ein grundsätzliches Misstrauen. Deswegen läuft auch hier jeder Gefahr, identitär-rassistische Bestrebungen gegen Israelis zu unterstützen, der sich unreflektiert für die palästinensische Sache einsetzt. Mit der nötigen Verwirrung könnte dies sogar zu blankem Antisemitismus führen.
Judenfan oder barmherziger Samariter?
Wahrer Antisemitismus gehört bekämpft, zweifelsohne. Aber der Philosemitismus ist dafür eine sehr schlechte und klägliche Strategie. Wieso? Norman G. Finkelstein gibt eine scharfsinnige wie prägnante Erklärung dafür:
„Die schlimmsten Feinde im Kampf gegen den wahren Antisemitismus sind jedoch die Philosemiten. Das macht sich vor allem in Europa bemerkbar. Weil die Philosemiten glauben, aus Rücksicht auf das historische Leid des jüdischen Volks die Augen vor israelischen Verbrechen verschließen zu müssen, versetzen sie Israel in die Lage, seinen mörderischen Weg unbehelligt weiterzugehen“ (6).
Das Samariter-Prinzip hingegen ist wesentlich effektiver gegen jede Art von ethnisch-kultureller Diskriminierung.
Die christliche Parabel des barmherzigen Samariters steht für vorurteilsfreie praktizierte Nächstenliebe. Das Samariter-Prinzip, wie man es aus dem überlieferten Gleichnis im Lukasevangelium 10, 25-37 herauslesen kann, besteht im Wesentlichen darin, den Nächsten, unsere Mitmenschen also, nicht erst daran zu erkennen, ob er „einer von uns“ ist, unserer Denkweise entspricht oder unsere Werte und kulturellen Traditionen teilt, sondern von Anfang an allein daran, dass er genau so ein Mensch ist wie man selbst.
Dasselbe gilt bei Konflikten.
Wer ernsthaft daran interessiert ist, einen zwischenmenschlichen Konflikt zu lösen, muss den Gegenüberstehenden als vollwertigen Menschen anerkennen und ihm auf Augenhöhe begegnen.
Erst wenn man die eigenen Grundbedürfnisse und die des jeweiligen Anderen erkennt, besteht ein geteilter Boden, nämlich unsere bedürftige menschliche Natur als solche, auf dem die Suche nach einer gemeinsamen Lösung möglich wird. Ein empathischer Mechanismus der Selbstidentifikation zeigt sich dafür als unentbehrliche Voraussetzung: Man muss sich selbst im Anderen wiederfinden, um überhaupt den Nächsten wie sich selbst lieben zu können. Kein anderer Weg, so legt die biblische Überlieferung nahe, führt zur Nächstenliebe.
Handlungsalternative in Modalform
Man muss jedoch die Ressourcen und die Kapazität haben, um großzügig sein zu können. Menschen, die wahrhaftig souverän sind, können es sich leisten, großzügig zu sein. Ich bezweifle aber, dass man derart menschliche ethische Tugend nahtlos auf einen Staat übertragen kann. Könnte ein Staat vielleicht eine Art Großzügigkeit entwickeln, mutatis mutandis, als Zeichen seiner robusten Macht und seiner erschütterungsfesten Souveränität im Kontext zwischenstaatlicher Spannungen? Übertragen auf die jetzige militärische Auseinandersetzung in Nahost, kann ich mir gut vorstellen, dass eine Weltmacht nicht mit einer Machtdemonstration reagiert hätte, zumindest nicht zuerst. Einer Weltmacht ist in der Regel bewusst, dass die Welt um sie herum weiß, dass sie vollumfänglich mächtig und souverän dasteht.
Zumindest wäre es denkbar, dass sie sehr wohl von vornherein auf den Austausch von Geiseln eingegangen wäre, und erst dann, nachdem alle Geisel lebend wieder sicher zu Hause sind, wäre sie in Gaza einmarschiert, und zwar ohne wahllose Bombardements. Nur eine eindeutig konsolidierte Weltmacht kann es sich leisten, sich von einem kriminellen Überfall nicht provozieren zu lassen, es sei denn, sie verfolgt andere Ziele als nur den Schutz der Opfer, der Bevölkerung und die Sicherung ihrer Grenzen. Denn ein souveräner Staat weiß, dass er nicht reagieren darf, wie ein empörtes Individuum reagieren würde.
Nur ein Staat, der sich in Verlegenheit sieht, braucht das Gegenteil zu demonstrieren. Israels Antwort auf die Ereignisse vom 7. Oktober 2023 war alles anderes als weise und mäßig. Aus meiner Sicht, war und ist Israels Reaktion nicht zielführend, weder bezüglich der Rettung aller Entführten noch in Bezug auf die Beseitigung des Terrors in der Region. Die Reaktion Israels war also für einen Staat recht unklug. Realpolitisch wäre dieses Vorgehen jedoch nur im Hinblick auf andere mögliche Ziele opportun – wenn nicht opportunistisch –, die zumindest theoretisch in Frage kämen. Zur Debatte stehen diese hier aber nicht.
Die Zwickmühle
Inwiefern stecken die Deutschen also in der Zwickmühle? Einerseits besteht die Gefahr, sich aus einer historisch überkommenen und gewiss noblen Genozid-Reue heraus von zionistischen Zwecken instrumentalisieren und in der Folge zum Antifilastinismus verleiten zu lassen. Andererseits droht das Risiko, durch eine unbesonnene oder bedingungslose philosemitische Haltung einen ernst zu nehmenden Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft wieder zu schüren, wie Norman G. Finkelstein aufzeigte. Auch eine fanatische, unbesehene pro-palästinensische Positionierung könnte in diese Richtung gehen.
Eine erste ausgewogene Haltung zur Überwindung dieses Scheindilemmas besteht darin, in Demut anzuerkennen, dass die menschliche Natur unvollkommen und fehlerhaft ist.
Dass jeder Mensch und jede von Menschen geführte Organisation, auch jeder Staat, an ihr teilhat. Deshalb ist es endlich an der Zeit aufzuhören, die Welt in gute und böse Menschen einzuteilen.
Das ist allerdings eine gewaltige Herausforderung für Kulturen wie die unsrige, die genau dies über Jahrhunderte gepflegt haben: aus der Welt ein schwarz-weißes Schachbrett zu machen. Daraus entwickelt sich fatalerweise ein Legalismus, der gar zu oft mit Zynismus einhergeht. Es ist die nahezu zwanghafte Bereitschaft, Maßstäbe oder Rechtfertigungen buchstäblich und bedingungslos durchsetzen zu wollen, ohne auch nur auf das Elementarste des Menschlichen Rücksicht zu nehmen. Derartiger Legalismus gehört ebenfalls vermieden.
Denn keine Inhumanität lässt sich durch irgendetwas rechtfertigen, auch nicht durchs Rechthaben. Für diese großmütige Geisteshaltung will aber leider nicht jedes Individuum, geschweige denn jeder Staat, die notwendige Kapazität erarbeiten, solange sie nicht als unabdingbar für allen Frieden gesehen wird. Diese konsequente Lebenseinstellung gegen alle Unmenschlichkeit trägt genauso den Gedanken, der sich gegen die Todesstrafe und gegen jedes Todesurteil ausspricht. Denn die Achtung der Würde des Menschen und der Menschenrechte ist das Mindeste, das jeder Staat in seiner Innen- wie Außenpolitik leisten muss, um seiner wahrhaftigen Verantwortung vor der Menschlichkeit gerecht werden zu können.