Das Corona-Tagebuch
Die Mutmach-Redaktion lädt die Rubikon-Leser zum kollektiven Schreiben ein. Teil 2.
Seit kaum mehr als drei Wochen macht uns ein regelrechter Notverordnungs-Tsunami zu einer weltweiten Schicksalsgemeinschaft. Dabei ist es völlig egal, ob wir vor dem Corona-Virus Angst haben, vor der Errichtung einer modernen Diktatur, vor Einkommens- oder Job-Verlust — niemand kommt an den täglich neuen Nachrichten über das Virus und die gesetzlichen Maßnahmen vorbei. Und egal, wie man darüber denkt, überall lauern genügend Gründe, um Angst zu haben, sich bedroht zu fühlen. Schreiben wir uns die Angst von der Seele und tauschen wir uns aus, um unsere zwischenmenschliche Verbindung zu stärken.
Wir können uns hier auf dem Rubikon zusätzliche Informationen holen, welche die übermäßig große neue Gefahr dieses Virus in Zweifel stellen, doch das bringt gleich wieder neue Ängste auf. Überrollen uns die Mechanismen der Macht nun so vollständig, dass uns die letzten Entscheidungsräume genommen werden? Werden wir sie jemals wieder vollständig zurückgewinnen?
Eine Möglichkeit mit beängstigenden Situationen umzugehen, ist, davon zu erzählen, sie mit anderen zu teilen, indem man sie aufschreibt. Ganz nach dem Motto der Schriftsteller:
Wer schreibt, kann kein Opfer sein.
Wer schreibt, stellt sich neben sich, betrachtet sich selbst und die eigenen Gefühle, nimmt sie wahr, anstatt sie zu verdrängen, fasst sie in Worte und hat sie damit, zumindest für den Moment gebannt. Die Angst zu gestalten anstatt sie zu erleiden — schon das ist ein heilsamer Prozess.
Und während wir überall hören müssen, Abstand sei das Gebot der Stunde, wächst doch gerade der Wunsch, sich mitzuteilen, die Isolation aufzuheben, wo immer es geht.
Und was wissen wir jetzt überhaupt noch voneinander? Für uns alle ist diese Situation etwas völlig Neues. Wie geht es den Infizierten, den Erkrankten, aber auch: Welche gesundheitlichen Risiken bringen die Einschränkungen mit sich und natürlich welche wirtschaftlichen Ängste?
Was passiert mit uns, wenn sich fast an jedem Tag die Gesetzeslage auf gravierende Weise ändert? Könnte es jetzt nicht etwas sehr Beruhigendes und Heilsames sein, unsere Ängste und Gedanken miteinander zu teilen, uns also schreibend mitzuteilen? Das immerhin lassen die Isolationsvorgaben ja zu.
Wer schreibt, der bleibt, heißt es so schön. Vier Rubikon-AutorInnen machen den Anfang, stellen in den ersten Teilen dieser Serie ihre eigenen Tagebuch-Texte vor und laden Rubikon-Leser zum Mitmachen ein. Probieren Sie die heilsame Wirkung des Schreibens aus, wenn Sie das nicht ohnehin schon tun, und schicken Sie uns Ihre Texte per E-Mail mit dem Betreff „Corona-Tagebuch“ an mut@rubikon.news.
Der letzte freie Tag
von Roland Rottenfußer
Ich hab ein letztes Mal versucht, die Sonne einzufangen.
Und bin, weils noch erlaubt ist, in die Veilchenschlucht gegangen.
Ich sah den Milan kreisen, er ist freier jetzt als ich.
Wer weiß, wann ich ihn wiederseh, sie machen alles dicht.
Noch einmal dort zum Gatter, wo die lieben Esel stehen.
Sie wirken ganz entspannt, sie wissen nichts von alledem.
Noch einmal in mein Stammcafé, das letzte Croissant.
Noch einmal unbefangen sein, die letzte Illusion.
Vorbei an Maskenträgern, die sich Klopapier besorgen.
Sonst geht die Nacht vorbei, vielleicht hat diese keinen Morgen.
Die Straße wird zum Feindesland, die Wohnung unser Sarg
Am letzten freien Tag.
Nur einmal still am Wildbach stehen, solang man es noch darf.
Schon morgen wird das nicht mehr gehen, sie kontrollieren scharf.
Wie oft hab ich den Leib gekühlt im Sommer dort am Wehr
Mich in die Gischt gestürzt — aber das geht ja jetzt nicht mehr.
Am Himmel sieht man schwirrend Überwachungsdrohnen schweben.
Zwei Buben lachen schrill, noch regt sich widerrechtlich Leben.
Sie bauten auf die Fügsamkeit und sie behielten Recht.
Wer auf den geraden Gang gewettet hat, der kennt uns schlecht.
Die Despotie trumpft auf, sie überrennt die letzten Hürden.
Noch schnell mein Lieb umarmt, bevor sie es verbieten würden.
Und während ich dies schreib, vergeht er mit dem Glockenschlag:
Der letzte freie Tag.
Mein eingesperrtes Land, ich würd drum weinen, was passiert.
Hätt man mir nicht gesunde Wut schon lange abtrainiert.
Und mancher nölt noch, jedoch hinter vorgehaltner Hand.
Das Feuer der Revolte ist doch längst schon abgebrannt.
Sie haben uns eingelullt, wir haben es lange nicht kapiert.
Wir fanden es behaglicher, dass jemand uns regiert.
Die Leinen wurden kürzer, die Verlautbarungen länger.
Die Welt, die sie uns ließen, wurde eng und immer enger.
In Fügsamkeit erstarrt, haben die meisten aufgegeben.
Sie sind nicht tot, doch kann man auch nicht sagen, dass sie leben.
Erst als die Freiheit ging, spürt ich, wie viel mir an ihr lag
Am letzten freien Tag.
Die Herren blähen sich auf und ihre Schergen salutieren,
Erpicht darauf, dass sie uns streng des Atmens überführen.
Die Smarten witzeln noch, sie überspielen ihre Scham.
Und keiner gibt sich Rechenschaft, wie alles so weit kam.
Wir waren von ihr umgeben, waren verwöhnt von ihren Küssen.
Wie Fische, die — vom Meer umspült — vom Wasser gar nichts wissen.
Gelangweilt von Optionen und zum Seitensprung bereit
Bestiegen wir das Bett der falschen Braut, der Sicherheit.
Verzeih uns, Freiheit, unsere Ignoranz war dein Verhängnis.
Und wir verrieten dich für dies vergoldete Gefängnis.
Und wenn jetzt nichts geschieht, dann war das, glaubt mir was ich sag:
Der letzte freie Tag.
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