Das betrogene Volk

Das Schicksal der Palästinenser kann man mit dem nordamerikanischer Indianer vergleichen. Wer nicht vertrieben wurde, blieb als „Unterschicht“ im eigenen Land. Teil 1 von 2.

„Es gibt kein palästinensisches Volk“, sagte die ehemalige israelische Ministerpräsidentin Golda Meir. Der politische Hintergrund dieser Äußerung scheint klar. Dort, wo „niemand“ ist, kann man sich getrost ansiedeln. Und sollten auf dem begehrten Gebiet doch irgendwie Menschen sein, muss man sie nicht so ernst nehmen oder gar als gleichberechtigt anerkennen. Das Bedauern westlicher Länder über die fortdauernde Vertreibung, Unterwerfung und Diskriminierung von Palästinensern durch den „Judenstaat“ hielt sich stets in Grenzen. Tatsächlich kann man bei den Palästinensern alle Merkmale eines eigenen Volkes feststellen: ein eigenes traditionelles Gebiet, eine eigene Kultur und Sprache. In historischen Betrachtungen wird es meist im Doppelpack erwähnt: „Israel/Palästina“. Es wird Zeit, die wechselhafte Geschichte dieses Volkes zu erzählen, bevor immer größere Teile von ihm im Bombenhagel untergehen.

„From sea to shining sea“ — kommt Ihnen das bekannt vor?

Dieser Satz gehört zu dem amerikanischen Traum von einer „offenkundigen, unumstößlichen Bestimmung“! „Manifest Destiny“ war, ist ein Begriff, den der Journalist John O’Sullivan in der Mitte des 19. Jahrhunderts prägte und der als Legitimation für die seit Beginn des 19. Jahrhundert begonnene Expansion Amerikas durch Siedler von Ost nach West, vom Pazifik bis zum Atlantik herhalten sollte (1).

„‚Alle Menschen sind gleich‘, dieser berühmte Satz aus der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 4. Juli 1776 war revolutionär im Zeitalter von Feudalismus und Kolonialismus (...) Sie verpflichteten sich den Menschenrechten, der Gewaltentrennung und der Demokratie — ein Highlight der Aufklärung.“

Aber Landhunger und schließlich das Gold vertrieben und betrogen die indigene Bevölkerung um alle Versprechungen und Verträge und vernichteten sie schließlich trotz erbitterten Widerstandes fast vollständig, ein „Ethnozid“ (2).

Haben die Palästinenser nur Glück gehabt, dass der Betrug an ihnen erst im 20. Jahrhundert stattfand und angesichts weltumspannender internationaler Öffentlichkeit und einigen verankerten globalen „Menschenrechten“ nicht so einfach zu vollziehen war?

Mussten erst international alle Schranken von Moral und Menschlichkeit niedergerissen sein, um das Verbrechen in Gaza im 21. Jahrhundert zu ermöglichen?

Jeshajahu Leibowitz, Professor der Universität Jerusalem und Herausgeber der Hebräischen Enzyklopädie, den Ezer Weizmann einen „der größten Persönlichkeiten im Leben des Jüdischen Volkes (...) für viele in Israel als das spirituelle Gewissen“ nannte, urteilt über den von Golda Meir, der ehemaligen israelischen Außenministerin und Ministerpräsidentin, geprägten und bis heute wiederholten Spruch „Es gibt kein Palästinensisches Volk“: „Das ist Völkermord!“

Und zum jüdischen Anspruch auf das Land fragt Leibowitz: Ist der „... im Buche Genesis im 15. Kapitel beschriebene Bundesschluss zwischen Gott und Abraham, der die Landesverheißung einschließt“ heute für „eine historische Tatsache“ zu halten? und schließt an:

„Vier Tannaim und Amoraim vertreten die Meinung, selbstverständlich sei die Landgabe um der Verdienste der Vorväter willen bereits eingelöst und damit erloschen“ (3).

Ist die „Manifest Destiny“ des Jüdischen Volkes „vom Meer bis zum Fluss“ also bestreitbar?

Der israelische Gründungsbetrug — nicht der erste

In der „Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel vom 14. Mai 1948“ heißt es unter anderem analog wie oben:

„Er wird all seinen Bürgern ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht, soziale und politische Gleichberechtigung verbürgen“ (4).

Nichts von dem ist bis heute erfüllt worden, im Gegenteil.

Bis 1967 stand die gesamte noch verbliebene palästinensische Bevölkerung in Israel unter einem Militärregime und war auch danach und ist bis heute umfassender Diskriminierungen ausgesetzt: als Palästinenser, als „Nicht-Juden“ und als Araber sind sie Bürger zweiter Klasse.

Der größte Betrug an dem in der Verfassung gegebenen Versprechen besteht in der systematischen Enteignung palästinensischen Eigentums allem voran ihres privaten und gemeinschaftlichen Besitzes an Land und Boden bis auf wenige Prozente. Der fortgesetzte „Landhunger“ des Staates Israel reicht inzwischen — wie vor mehr als hundert Jahren beansprucht — „vom Meer bis zum Fluß“, 1967 durch die militärische Besetzung Ost-Jerusalems inklusive der Altstadt und der Westbank nun bis zum Jordan in Erfüllung gebracht (5).

Ein Blick in die Geschichte der Anfänge.

Grundlegende Ereignisse vor und im Ersten Weltkrieg

Es sind bewegte Zeiten in der Wende vom 19. Zum 20. Jahrhundert: Der Machtkampf der großen Industrienationen auf Europäischem Boden um weltweiten Zugriff auf Land, Menschen und Ressourcen der alten Reiche in Osteuropa und im Nahen Osten führt zum Ersten Weltkrieg; die Vereinigten Staaten von Amerika greifen erstmals in das Weltgeschehen ein und mischen seitdem mit; Kolonialvölker und die vielen Nationen unter den alten Reichen, dem Zaristischen Russland, der Habsburger Donau-Monarchie und dem Osmanischen Reich streben nach Unabhängigkeit und Nationalstaatlichkeit; die Russische Revolution, die Gründung des Völkerbundes und die Friedensverhandlungen der Siegermächte in Versailles läuten eine Zeitenwende ein — mit Verheißungen, Enttäuschungen und schließlich neuen Konfliktherden. Es ist die Zeit moderner Nationalstaatsbewegungen.

Vom Untertan zum Staatsbürger

„Viele Völker in Europa waren seit Jahrhunderten oft nicht nur verteilt, sondern lebten auch unter verteilten Herrschaften. Die Umwandlung des Volksbewußtseins in Nationalbewußtsein ist als Konsequenz der modernen Entwicklung der Gesellschaft auf sozialem, kulturellem, rechtlichem, wirtschaftlichem und politischem Gebiet zu betrachten“ (6).

Zu den nach Unabhängigkeit strebenden Völkern dieser Zeit gehört auch das Palästinensische Volk — im Einklang mit den Völkern und Nationen der anderen arabischen Gebiete des Osmanischen Reiches: Groß-Syrien, das damals neben Palästina das heutige Jordanien, Syrien und den Libanon umfasste.

Schwächen, verpasste Chancen und Hoffnungen

Entgegen allgemeiner westlicher und vor allem zionistischer Sichtweise besitzt auch das palästinensische Volk die typischen Merkmale eines eigenen Volkes. Es lebt seit Jahrhunderten in einem definierbaren Raum, dem „Heiligen Land“, und fühlt sich ihm zugehörig; es verfügt über eine eigenständige Sprache, über palästinensisches Arabisch mit diversen Dialekten; und es hat eine nur ihm zugehörige Volkskunst.

Palästinensische Persönlichkeiten, religiöse, politische wie kulturelle lassen sich lange zurückverfolgen (7).

Die Region Palästina zum Ende des 19. Jahrhunderts

Palästina, das „Heilige Land“, ist Teil der „Levante“ und des „fruchtbaren Halbmondes“. Das „Heilige Land“ war seit Jahrtausenden für europäische, arabische und fernöstliche Völker ein begehrter Durchzugsraum, eine Landbrücke zwischen Europa und dem Nahen und Fernen Osten. Sie alle haben dort ihre Spuren hinterlassen. Seit der Eroberung durch die Araber im 7. Jahrhundert wird Palästina Teil des arabischen Kulturraumes.

Seit 1516 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, über vier Jahrhunderte also, gehörte der Raum Palästina als „Groß-Syrien“ zum Osmanischen Reich, mit zunehmender Autonomie als arabische Provinz, zusammengefasst mit Syrien und dem Libanon sowie dem heutigen Jordanien, damals Trans-Jordanien. Zu einem Territorium der heutigen Größe wurde es durch die Definition des Britischen Mandates durch den Völkerbund „vom Mittel-Meer bis zum Jordan-Fluss“.

Als das „Heilige Land Palästina, Ursprungsregion der drei Abrahamitischen Religionen, war es über Jahrhunderte Gläubigen aus Europa, aus Afrika oder dem Nahen und Fernen Osten eine Pilgerreise wert. Städte wie Nablus, Bethlehem, Nazareth, Hebron und vor allem Jerusalem wurden beliebte Orte eines frühen Pilger-Tourismus für Juden, Christen und Muslime. Manche dieser Pilger und Träumer blieben, wovon die verschiedenen Viertel in der historischen Altstadt von Jerusalem zeugen, das afrikanische, das armenische, das russisch-orthodoxe, das griechisch-orthodoxe, das jüdische und so weiter.

Im 19. Jahrhundert sind die Palästinenser mehrheitlich Muslime, mit größeren Anteilen an Christen, vor allem in den Städten Jerusalem, Bethlehem und Nazareth, sowie einem kleinen Anteil an verbliebenen nicht zionistischen Juden, vor allem in Galiläa und Jerusalem, Mizrahi wie sie in Israel unterscheidend genannt werden. Sie galten bis zum Ende des Osmanischen Reiches als Palästinenser und waren sämtlich osmanische Bürger unabhängig von ihrer Religion und zumeist seit Jahrhunderten im Heiligen Land ansässig (8).

Wirtschaftliches, soziales und politisches Leben

Ende des 19. Jahrhunderts war Palästina erneut ein prosperierendes Land, exportierte vor allem landwirtschaftliche Güter und war bereits in den Weltmarkt eingebunden. Von den internationalen Häfen Jaffa, Haifa und Akka gingen die berühmten Jaffa Orangen, Feigen, Oliven und Weizen nach Europa. Datteln aus Gaza konkurrierten erfolgreich mit denen aus Jidda oder Doha. Der „Baedeker“ von 1912 etwa lobte ausdrücklich die „Fruchtbarkeit vieler Landstriche mit ihren Orangenhainen, Olivenplantagen und Getreidefeldern“ in Palästina. Der Apfelsinenexport nach Europa erreichte schon vor dem Ersten Weltkrieg 1.608.570 Kisten im Wert von 297.700 Pfund“ (9).

Jerusalem, das gesellschaftliche und religiöse Zentrum, war und ist bis heute ein Umschlagplatz für jede Art Luxusprodukte aus den arabischen Nachbarländern, aus dem gesamten „Orient“. In den Basaren der Altstadt fanden und finden interessierte Händler oder neugierige Besucher alles, was ihr Herz begehrt: Seidenstoffe aus Damaskus, Dolche aus dem Jemen, feinstes Kamelleder aus Saudi-Arabien und selbstverständlich Produkte der heimischen Handwerke, zum Beispiel Töpferwaren und Glaswaren aus Hebron, die berühmte Olivenseife aus Nablus, Flechtkörbe, Stickereien und Webwaren von den ländlichen Märkten der Beduinen und Dorfbewohner (10).

Palästina war bis zu Beginn des 20. Jahrhundert ländlich geprägt.

Gesellschaftlich und rechtlich wurde der ländliche Raum von sogenannten „Abwesenden Landlords“ beherrscht und in den alten großen Städten Gaza, Akka, Jerusalem, Bethlehem, Nablus oder Hebron von einer kleinen städtischen Elite, den „Notablen“ politisch vertreten. Das waren Großfamilien wie die Husayni, Nashashibi, Dajani, Abd al-Hadi, Tuqan, Nabulsi, Khoury, Tamimi, Khatib, Ja’bari, Masri, Kan’an, Shaq’a, Barghouthi, Shawwa, Rayyes, Khalidis und andere, die, wie zum Beispiel die Khalidis ihre Jerusalemer Präsenz und Bedeutung bis in vor-osmanische Zeiten zurückverfolgen können. Sie hatten die zentralen Posten der osmanischen Verwaltung in Palästina inne und in den islamischen Institutionen das Sagen, vom Mufti bis zu den Moscheen, beim „Auqaf“, der Behörde des Muslimischen Bodenbesitzes und beim „Zakkat“, also bei der Verteilung der Wohltätigkeits-Spenden. Sie entsandten auch die Abgeordneten in das spätere Parlament in Istanbul. Sie waren die anerkannten Repräsentanten des Volkes ohne Auftrag, waren Vermittler zwischen Volk und Obrigkeit.

Nur in den aufstrebenden Küstenstädten Haifa, Jaffa und Akka war bis zum Ende des Jahrhunderts bereits eine eigenständige Handels-Bourgeoisie und eine städtische Arbeiterschaft entstanden. Hier zog die Moderne ein, mit Buch- und Zeitungswesen, Clubs, Kinos, Theatern oder Salons und besonders dort war die nationale Frage schon Gegenstand von Artikeln und Debatten.

Doch die Eliten verstanden sich mehrheitlich noch an das Osmanische Reich gebunden, von dem mehr als 400 Jahre lang Sicherheit und Ordnung ausgegangen war und von dem sie immer profitiert hatten. Ihre kulturelle Identität war arabisch und die muslimische Mehrheit fühlte sich der Umma, der Welt-weiten Muslimischen Gemeinde zugehörig.

Nach dem Ende des Osmanischen Reiches und dem Zugriff auf das Land durch die europäischen Mächte und die zionistische Bewegung wurde besonders die vormoderne soziale Struktur und die an die Obrigkeit gebundene Elite zur Schwäche des palästinensischen Volkes im Kampf um Unabhängigkeit und Staatlichkeit (11).

Palästinensische Volkskunst

Einzigartig und unnachahmlich ist die palästinensische Stickkunst!

Feinste Stickereien zieren die Trachten der Frauen aus selbst gesponnener und handgefärbter Seide oder Wolle. Hier hat jede Region, ja fast jedes Dorf seine ganz eigenen Formen und Farben entwickelt. Von weitem kann dir jeder auf der Straße sagen, woher diese Frau auf der gegenüberliegenden Seite mit ihrem typischen Kleid kommt. In Ramallah besticken die Frauen zum Beispiel schwarzes und weißes Leinengewebe im Kreuzstich, während in Bethlehem der Schnurstich üblich ist, und so weiter (12).

Es gab und gibt darüber hinaus nur in Palästina typische Gesänge, Tänze wie „Dabke“ oder Speisen wie „Maqlube“, das „Umgekehrte“ oder „Zataar“ aus dem heimischen wilden Thymian. Typische Dialekte weisen auf ihre Herkunftsorte hin. Die „vornehmen“ Jerusalemer lassen das „Qaf“ einfach weg, „Al Quds“, „Die Heilige“, der arabische Name für Jerusalem ist in ihrem Dialekt Al Uds, während in Gaza das Q als hartes G gesprochen wird, also wird daraus „Al Guddes“; westlich von Bethlehem werden Endungen mit -ki wie -ci wie in Italienisch bei Medici oder wie in Kreta bei Theodorakis zum tsch, „kif halik?“, Wie gehts?“ wird zum „tschief halitsch?“ und so weiter.

Die „Palästinensische Hikaye“, „Erzählte Geschichte vor allem der Frauen“ ist von der UNESCO zum immateriellen Kulturerbe unter der Nummer 0124 registriert worden (13).

Der Einfluss Europas und der Einzug der Moderne

Keine der christlichen Sektionen fehlt zumindest in Jerusalem mit einem Kloster oder einer Kirche — und einer diplomatischen Vertretung „zum Schutz ihrer Pilger“. Die Grabeskirche in der Jerusalemer Altstadt mit ihren unterschiedlichen Abteilungen, Altären und unterirdischen Gewölben spiegelt vor allem zu den Osterfesttagen diese Vielfalt der Glaubensrichtungen, der griechisch-orthodoxen, der römisch-katholischen, der Armenier et cetera wider — und auch ihre Uneinigkeit.

Im 19. Jahrhundert spielt jedoch die Religion keine Rolle mehr. Es tummeln sich im „Heiligen Land“ seit dem langsam untergehenden Stern des Osmanischen Reiches („Der kranke Mann am Bosporus“) neben den Gesandtschaften bereits unzählige europäische Institutionen, vor allem in Jerusalem.

Seit Langem ist der „Orient“ Objekt europäischer Einflussversuche. Der Suezkanal beschleunigt den Welthandel und England ist an einer sicheren Landbrücke bis Britisch-Indien interessiert. Es lockt außerdem das Öl im Iran und im Irak. Vom Gas unter der Mittemeerküste ist noch nicht die Rede.

Die von den ausländischen Mächten geforderte Modernisierung des Bodenrechts wurde ein Schlüssel. Muslimisches Stiftungsland, „Waqf“, das zu großen Teilen zum Beispiel in der Altstadt von Jerusalem noch immer vorherrscht, konnte nicht veräußert werden. Mit der allgemeinen Modernisierung und speziell dem Land-Code von 1858 wurde langsam eine Katastierung des Bodenbesitzes begonnen und außerdem der Bodenerwerb von sogenanntem „Staatsland“ auch Nicht-Muslimen, also Ausländern möglich. Einrichtungen wie Krankenhäuser, Schulen, archäologische Forschungseinrichtungen und sogar das Postamt „verdanken“ die Stadt und das Land aufgrund dieser Modernisierung und des neuen Rechts den Engländern, den Deutschen, Franzosen oder Italienern, sogar den Amerikanern aus jener Zeit.

Von diesen vielfältigen Einrichtungen im späten 19. Jahrhundert profitiert auch die palästinensische Gesellschaft, weil die osmanische Regierung nun ihrerseits säkular ausgerichtete Schulen und verschiedene Bildungseinrichtungen errichtet. Immerhin ermöglicht das vielen Kreisen den Zugang zu einem modernen Ausbildungssystem im Gegensatz zu islamischen und Koranschulen, wenn auch nicht allen Bürgern (14).

Als die Altstadt Jerusalems dem Wachstum an Bevölkerung und Wirtschaft nicht mehr gewachsen ist, entstehen um die Jahrhundertwende in der „Neustadt“ im Westen der Altstadt neue moderne Wohngebiete und die Wohlhabenden ziehen aus der Altstadt um und in Villen im Stil der neuen Zeit. Bauhaus, Art Deco sind beliebt.

Auch die politischen Ideen Europas, Wünsche und Ansprüche nach Unabhängigkeit und Demokratie ziehen ein. Neben den oben genannten Salons und Clubs entstehen erste nationale Organisationen wie die erste palästinensische Frauen-Organisation 1903 in Akka. Allerdings sind es häufig Abzweige der in Istanbul entstehenden arabischen Parteien, die oft, wie die 1908 in Jerusalem ansässige Patriotic Society, ein Zweig der Patriotischen Osmanischen Partei (CUP) sind, die Muslime, Christen und (osmanische/Mizrahi) Juden zusammen vertritt und säkular auftritt; 1910 entsteht auch eine palästinensische Jugendorganisation. Noch verstehen sich diese Parteien und Vereine zumeist als arabische Nationalbewegungen innerhalb des Osmanischen Reiches. Auch eine kleine kommunistische Partei wird gegründet, in ihr sind nicht zionistische Juden und Araber vereint.

Selbst die junge Generation der notablen Familien beteiligt sich an den Kongressen in Damaskus zur Frage von Unabhängigkeit und Loslösung vom Osmanischen Reich.

Vor allem Zeitungen wie Al Quds in Jerusalem, Al Najah in Nablus, Al Muqtabas in Akka, Filistin in Jaffa, Al Carmel in Haifa und so weiter breiten die Debatte um die nationale Frage aus. Die sichtbare beginnende zionistische Einwanderung, Landkauf und Kolonien werden als Bedrohung der nationalen Entwicklung Palästinas thematisiert. Entsprechende Petitionen werden eingereicht, Vertreter verschiedener Städte und Regionen sprechen in Istanbul vor, eine erste förmliche Debatte um die Gefahren des Zionismus wird im Parlament erwirkt. Immer wieder geht es um Restriktionen beim Landkauf durch nicht historisch ansässige, also nicht osmanische Juden und den Schutz vor dem Ausverkauf und der Enteignung ganzer Dorfgemeinschaften. Berichte über Auseinandersetzungen palästinensischer Bauern mit neu-jüdischen Kolonisten nehmen überall zu.

Die Regierung reagiert durchaus: mit erhöhten Steuern auf Neukäufe. Zudem unterbindet sie den bisher üblichen Versteigerungs-Verkauf von öffentlichem, staatlichem Land, beschränkt jüdische Einwanderung und die Vergabe von osmanischer Bürgerschaft.

Im Jahr 1911 veröffentlicht Najib Nasser eine erste Analyse auf arabisch zum Thema „Zionismus, seine Geschichte, seine Ziele und seine Bedeutung für Palästina“. Aref al Aref, der Herausgeber der Zeitung Filistin schreibt am 25. Januar 1913:

„Wenn der jetzige Zustand so weitergeht, dann wird der Zionismus die Herrschaft über unser ganzes Land übernehmen, Dorf um Dorf, Stadt um Stadt, und morgen wird ganz Jerusalem verkauft sein.“

Mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges und dem Eintritt des Osmanischen Reiches im August 1914 an der Seite Deutschlands gibt es allerdings kein Pardon mehr für „Abtrünnige“. Arabische Nationalisten, darunter auch palästinensische Vertreter, Mitglieder der Dezentralisierungs-Partei, die 1912 die Ablösung der arabischen Gebiete aus dem Osmanischen Reich gefordert hatten, werden öffentlich gehängt wie Salim Ahmed Abdul Hadi aus Jenin 1915 in Beirut oder der Mufti von Gaza am Jaffa-Tor der Jerusalemer Altstadt (15).

Fazit

Die Identität der Palästinenser ist ein Produkt der Epoche des untergehenden Osmanischen Großreiches und des wachsenden Wunsches im ganzen arabischen Teil des Reiches nach Unabhängigkeit. Alles verschärft sich mit dem Auftreten des Zionismus, den ersten Einwanderungs-Wellen, ersten Bodenkäufen, Siedlern und Kolonien.

Die Palästinenser sind jedoch noch nicht ausreichend organisiert, um den auf sie zukommenden großen Herausforderungen zu begegnen, uneinig darüber, wohin die Reise gehen kann, von den hierarchischen Strukturen und den Eliten abhängig, politisch wenig geschult. Sie sehen sich zunehmender Bevormundung durch europäische Mächte und einer starken, gut organisierten und politisch erfahrenen Zionistischen Bewegung gegenüber — ohne entsprechende Wirk-Möglichkeiten. Mit dem Ersten Weltkrieg beginnt der systematische Betrug gegenüber dem palästinensischen Volk durch die Weltmächte, England, die abhängigen Arabischen Staaten und den Zionismus.

Zur Entwicklung des Zionismus geht es in Teil 2.