Das betrogene Volk

Das Schicksal der Palästinenser kann man mit dem nordamerikanischer Indianer vergleichen. Wer nicht vertrieben wurde, blieb als „Unterschicht“ im eigenen Land — oder verschwand. Teil 6 von 6.

„Es gibt kein palästinensisches Volk“, sagte die ehemalige israelische Ministerpräsidentin Golda Meir. Der politische Hintergrund dieser Äußerung scheint klar. Dort, wo „niemand“ ist, kann man sich getrost ansiedeln. Und sollten auf dem begehrten Gebiet doch irgendwie Menschen sein, muss man sie nicht so ernst nehmen oder gar als gleichberechtigt anerkennen. Das Bedauern westlicher Länder über die fortdauernde Vertreibung, Unterwerfung und Diskriminierung von Palästinensern durch den „Judenstaat“ hielt sich stets in Grenzen. Tatsächlich kann man bei den Palästinensern alle Merkmale eines eigenen Volkes feststellen: ein eigenes traditionelles Gebiet, eine eigene Kultur und Sprache. In historischen Betrachtungen wird es meist im Doppelpack erwähnt: „Israel/Palästina“. Es wird Zeit, die wechselhafte Geschichte dieses Volkes zu erzählen, bevor immer größere Teile von ihm im Bombenhagel untergehen.

„Für Europa würden wir dort ein Stück des Walles gegen Asien bilden. Wir würden den Vorpostendienst der Cultur gegen die Barbarei besorgen“ (Theodor Herzl, Der Judenstaat, Wien 1896, Seite 29).

In den vorangegangen Textfolgen ging es um die Versuche des palästinensischen Volkes, seine Identität und seinen Wunsch nach Souveränität deutlich zu vertreten (Teil 1) und um den zeitgleichen Gegenpart, die Zionistische Bewegung, ihre Ziele und die Rolle Englands bei der Planung eines jüdischen Staates auf palästinensischem Boden (Teil 2). Teil 3 und 4 widmeten sich den raumgreifenden und zerstörerischen Planungen des Staates Israel seit seiner Entstehung 1948 und den Folgen für das palästinensische Volk: 700.000 Vertriebene, fast die Hälfte des Volkes und der Verlust von mehr als 70 Prozent seines Bodens.

Der vorletzte Teil zeigte, wie ab 1967 israelische Planungs-, Zerstörungs- und Vertreibungspolitik noch einmal das palästinensische Volk im Gazastreifen, Ost-Jerusalem und der Westbank weiterer Enteignung, Entrechtung bis zur Vernichtung unterwarf und weiterhin unterwirft — und dies unter den Augen und mit Willen der Großmächte, ihrer Organisationen und auch der arabischen Nachbarn. Die „Barbarei“ ist gekommen, die „Cultur“ hat versagt. Der folgende letzte Beitrag beschreibt die Entwicklung des Widerstandes, den Versuch eines Friedensabkommens und die Unerbittlichkeit des Scheiterns.

Aber das palästinensische Volk lebt, die Hälfte etwa in der Diaspora, die andere in Palästina — ein Teil davon in Israel. Die Menschen dort wollen ein friedliches Leben in Palästina, ob in Israel oder an der Seite Israels. Die Zivilgesellschaft in beiden Teilen muss wieder erstarken und sich den messianistischen, militärischen und barbarischen Kräften widersetzen können. Dies mit aller Kraft zu unterstützen ist unsere Aufgabe — im Interesse des Friedens nicht nur in dieser Region.

Die momentane Entwicklung ist bedrohlich — geht es doch um das Ziel „Vom Nil bis zum Eufrat“? Das könnte den USA und dem Hegemon gefallen.

1967 — Von der Besetzung der Westbank, Ost-Jerusalems und des Gaza Streifens bis zum Ende des Friedensprozesses, der PLO und schließlich bis zum Morden in Gaza — Fortsetzung von Teil 5.

Schwächung des Widerstandes — Krieg und Vernichtung

Bereits seit den 1960er Jahren attackierten Vorläufer der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), von Ägypten unterstützte Feddayin-Gruppen, Israel von Gaza aus, und der Mossad, der israelische Auslandsgeheimdienst, ist ihnen schon damals auf den Fersen. 1964 wird die PLO gegründet und der militärische Kampf als ein Mittel des Widerstandes ausgerufen, mit arabischer Unterstützung. Prominente militärische wie politische Persönlichkeiten kommen bald ins Visier des Mossad: Ghassan Kanafani, Dichter und Schriftsteller und intellektueller Kopf der Popular Front for the Liberation of Palestine (PFLP), der „Volksbefreiungsfront“, 1972 in Beirut; Abu Jihad, Arafats Stellvertreter und Mitbegründer der Fatah, 1988 in Tunis; es werden Hunderte im Laufe der Zeit (24).

Amman — Beirut — Tunis

1967 zog die PLO mit diversen Kämpfern nach Jordanien. 1971 musste sie Jordanien verlassen. Sie hatte fast einen Bürgerkrieg verursacht — immerhin waren 70 Prozent der jordanischen Bevölkerung nach 1948 palästinensischer Herkunft, darunter Minister, deren Loyalität herausgefordert wurde. Danach verlegte die PLO ihren Hauptsitz nach Beirut und operierte vom Süd-Libanon aus. Dort lagen die größten Flüchtlingslager der 100.000 Palästinenser, die 1948 nach Libanon geflüchtet waren.

Spätestens seitdem geht es nicht mehr nur um Betrug am palästinensischen Volk, sondern um Vernichtung und Krieg.

Im Libanon — ein Land „chronischer innenpolitischer Labilität“— begann 1975 ein Bürgerkrieg wegen immer wieder aufflammender Unstimmigkeiten zwischen diversen muslimischen und christlichen Kräften, in denen auch die Unterstützung der PLO durch libanesische Gruppen und die PLO selbst eine Rolle spielten. Von nun an erschüttern bittere Linienkämpfe die PLO zwischen den Gruppen. Die jeweiligen „Gastländer“ spielen mit „ihren“ Feddayin, die sich zumeist aus den ehemaligen Flüchtlingen rekrutieren: Syrien, Irak, Kuweit, ...

1978, in der Operation Litani, besetzt Israel den Süd-Libanon bis zum Litani Fluss; der Krieg führt zur Vertreibung von Hunderttausenden Libanesen wie Palästinenser und der PLO nach Norden. Israel muss sich schließlich zurückziehen und UN-Truppen besetzen einen Landstreifen im Süden. 1982 beginnt ein zweiter Krieg, Frieden für Galiläa. Erbitterte Kämpfe erreichen Beirut. Nach Verhandlungen unter amerikanischer Patronage verlässt die PLO im August 1982 mit etwa 8.000 Kämpfern, zumeist der Fatah, Beirut und verlagert ihr Hauptquartier nach Tunis.

Garantien für die Sicherheit der zivilen Palästinenser in den Flüchtlingslagern werden gebrochen: Fast direkt nachdem die PLO sich eingeschifft hatte, verüben christliche „Phalangistische Milizen“ drei Tage lang ein Massaker in den Flüchtlingslagern Sabra und Shatila westlich von Beirut — unter den Augen und mit Unterstützung der Israel Defence Forces, IDF, die Beirut erneut besetzt und das Lager umstellt hatte. Bis zu 2.000 Frauen und Kinder wurden geradezu abgeschlachtet. Die IDF verlässt den Libanon erst im Jahr 2000 (25).

Die PLO war empfindlich geschwächt und der militärische Kampf infrage gestellt. Die verschiedenen palästinensischen Gruppen und Kommandos in der PLO, voran die PFLP, hatten in vielen Ländern der Welt mit Flugzeugentführungen und Bombenanschlägen das Prestige der Bewegung stark beschädigt, was von Israel gründlich genutzt wurde, um das palästinensische Volk insgesamt als Terroristen und Kriminelle herabzusetzen und sein Recht auf Selbstbestimmung zu diskreditieren (26).

Die Inifada

Am 9. Dezember 1987 begann die erste Intifada (deutsch: Aufstand), spontan und unabhängig von der PLO Führung — ein echter, zweiter Volksaufstand, der bis 1993 andauert und zu den ersten Verhandlungen „Land gegen Frieden“ zwischen der PLO und Israel führt (27).

Zwanzig Jahre Besatzung waren genug, und es machte sich das Gefühl breit, dass Tunis und der bewaffnete Kampf keinen Schritt vorwärtsgekommen waren.

Ein minimaler Anlass — im Flüchtlingslager Djabaliya im Gazastreifen hatte ein Fahrzeug der IDF einen LKW gerammt und dabei vier Palästinenser getötet — führt zum Aufstand und verbreitet sich schnell bis in die Westbank. Alle Dörfer und Städte organisieren lokale Komitees, schließlich entsteht die Unified National Leadership of the Uprising (UNLU), in der alle Gruppierungen der PLO teilnehmen. Sie sorgt dafür, dass der Widerstand in allen seinen Formen überall durch soziale und wirtschaftliche Hilfe unterstützt wird, mit zivilem Ungehorsam, Steuerverweigerung, Boykott israelischer Produkte, Versorgung mit selbst hergestellten Lebensmitteln, Umstieg auf in den besetzten Gebieten hergestellte Produkte, Streiks, „Rote Hilfe“ … (28)

1987 entsteht auch die Hamas, ein Abzweig der ägyptischen Muslim-Brüder. Wie inzwischen bekannt ist, wurde sie von Israel unterstützt, um die PLO zu schwächen. Sie beteiligt sich an dem Aufstand, führt aber ihre eigenen Aktivitäten durch.

Sie lehnt Verhandlungen ab und verfolgt die Zerstörung Israels. Während andere „Ablehner“ wie PFLP oder die Demokratische Front (DFP) einen säkularen demokratischen Staat in gesamt Palästina anstreben, bleibt Hamas in der Fassung der Charta von 2017 ungenau in ihren Vorstellungen zu einem zukünftigen palästinensischen Staat (29).

Eiserne Faust „Macht, Kraft und Prügel anwenden“

So hieß der Befehl des Verteidigungsminister Yitzhak Rabin. Bilder von auf Kinder und Jugendliche einprügelnde Soldaten gehen um die Welt, auch das Bild des kleinen Jungen, der einen Stein auf einen riesigen Panzer wirft, „David gegen Goliath“. Diese Bilder brachten der PLO und dem Widerstand des palästinensischen Volkes weltweit große Sympathien und Interesse ein.

Die Bar der „American Colony“ in Ost-Jerusalem ist Info-Börse sensationslüsterner Vertreter der internationalen Presse. Die mutigen Anwältinnen Lea Tsemel und Felicia Langer berichten regelmäßig in der „Colony“ über Verhaftungen, Folter und Prozesse. Palästina-Solidaritätsgruppen in Europa haben Aufwind, Theatergruppen wie Al-Hakawati machen Rundreisen, Mustafa Al Kurd ist der authentische Sänger bei vielen Veranstaltungen. (...) Die General Union Palästinensischer Studenten (GUPS) und die der Arbeiter (GUPA) sind mit Rednern präsent; Kampagnen und Projekte werden mit Abdallah Frangie in der Bonner PLO-Zentrale geplant.

1988 hatte der Palestinian National Congress (PNC) in Algier die Unabhängigkeit eines palästinensischen Staates erklärt und darin die UN-Resolutionen 242 und 338 und mit Bezug auf 181 formell auch die Zweistaaten-Lösung anerkannt. Kurz darauf hatte Yassir Arafat das Ende des militärischen Kampfes erklärt. Er ging so weit, dass er anfänglich sogar versuchte, die Intifada zu stoppen (30).

Allerdings veränderte sich die Lage im Nahen Osten ... und schwächte die PLO-Führung in Tunis. Der Irak besetzt 1990/91 Kuweit, die PLO setzt auf die falsche Seite, Saudi-Arabien und andere Golfstaaten beenden ihre finanzielle Unterstützung. Die Sowjetunion, ein anderer Unterstützer der palästinensischen Sache, geht auf ihr Ende zu; die verschiedenen PLO-Gruppen liegen im Streit über die richtige Taktik im Widerstand, selbst innerhalb der Fatah. Abu Iyad, einer der klügsten Köpfe der PLO, wird im Januar1991 in Tunis von einem Kämpfer der im Irak entstandenen Abu Nidal-Gruppe ermordet. Betrug und Krieg auch in den eigenen Reihen mit Hilfe der arabischen „Bruderländer“.

Friedenskonferenz in Madrid — „Land gegen Frieden“?

Die „internationale Gemeinschaft“ fordert eine Lösung für den Nah-Ost-Konflikt. Auch bei der regierenden Arbeiterpartei setzt sich durch, dass die Beherrschung der rebellierenden Bevölkerung in den besetzten Gebieten kostspielig und vielleicht unkontrollierbar bleibt und ein anderer Weg versucht werden müsse.

Am 30. Oktober 1991 eröffnete die „Madrid Friedenskonferenz“ unter der Schirmherrschaft der USA und der UDSSR auf Einladung Spaniens.

Ich war zu der Zeit gerade zurück von meinem zweieinhalbjährigen Arbeitsaufenthalt in den Autonomen Gebieten und konnte es kaum glauben, Faisal und Hanan im Fernsehen als Vertreter für Palästina zu sehen. „Endlich geht es los!“ sagten wir uns. „Die Formulierung „Land gegen Frieden“ ist gut! Hoffentlich geben sie die Intifada nicht auf — der Druck wird weiterhin notwendig sein!“

Als die UDSSR endet, bleiben die USA einziger Verhandlungspartner und der sicherste „Freund Israels“.

Drei Tage Gespräche zwischen Israel, Syrien, Ägypten und dem Libanon machen den Anfang. Israel hatte den USA 1975 vertraglich geheim ein Vetorecht bei allen zukünftigen Entscheidungen abgetrotzt und weigerte sich mit der PLO zu sprechen. Die palästinensische Delegation wird Teil der jordanischen Delegation: Es sind dabei Persönlichkeiten, die später selbständig in Washington verhandeln sollten und von Tunis für die länger andauernden Vorgespräche autorisiert worden waren: Faisal Husseini, Sprecher für Jerusalem, Hanan Ashrawi, Dozentin in Ramallah und Mitglied des Vorbereitungsausschusses, sowie Sari Nusseibi, Philosoph und späterer Direktor der Al Quds-Universität. Haidar Abdel Shafi, Arzt und Politiker aus Gaza, war Chef der Delegation. Sie waren bekannte Stimmen der Intifada — sie sollten eine fünfjährige Selbstverwaltungsregelung für die Westbank und den Gaza-Streifen aushandeln.

Eineinhalb Jahre führte die Beratergruppe, unterstützt von Kennern der USA wie etwa Edward Said, Gespräche in Washington und legte 1992 sogar einen Vorschlag für die Interimsphase vor: „Palestinian Interim Selfgovernment Administration“ (PISGA), um nicht immer nur zu reagieren. Diese Interims-Verwaltung sollte aus freien Wahlen aller Betroffenen, also den Besetzten Gebieten Gaza und die Westbank inklusive Jerusalem, sowie aller aus diesen Gebieten Vertriebenen und Deportierten hervorgehen — Israel sollte die Kolonisierungstätigkeiten stoppen.

Tunis war nicht begeistert und Israel lehnte ab — es kam zum Stillstand. Bis 1999 sollte die Interimszeit währen, sie wurde schließlich verlängert bis das „Aus“ kam.

Die größte „Überraschung“ war, dass offenbar in Oslo hinter dem Rücken der Verhandlungsdelegation in Washington bereits ein geheimer Austausch zwischen der PLO und Israel über „Sicherheitsfragen“ stattgefunden hatte — durch die norwegische Regierung ermöglicht. Der hatte zu einer Vereinbarung geführt, nach der PLO-Kader und möglicherweise sogar Offiziere der Befreiungsarmee in die besetzten Gebiete einreisen und dort als Sicherheitskräfte tätig werden dürften. Die Beratergruppe weigerte sich in diesem Sinne weiter zu verhandeln.

„Zu allererst lasst uns die Oslo-Vereinbarungen beim Namen nennen: sie sind ein Instrument der Kapitulation, ein Palästinensisches Versailles“ urteilt Edward Said November 1993 (31).

OSLO — die PLO „Subunternehmer der Besatzung“

Am 1. Juli 1994 trifft Arafat in Jericho ein und wird begeistert empfangen. Er jettet zwischen Gaza und Ramalla hin und her und lässt sich feiern, vertraut den alten Strukturen und empfängt die alten Mukhtare in Gaza — wir wurden Zeuge davon, als unsere Studentengruppe bei ihm zum Empfang geladen war. Auf die Warnungen der Aktiven aus der ersten Intifada hört er nicht.

Die Begeisterung hält nicht lange an: einerseits fließt nun viel Geld in die sogenannten Autonomiegebiete, in Gaza Stadt und Ramallah entstehen neue Straßen, neue Wohnviertel, Villen, ein Museum, ein Konservatorium, sogar eine „Mall“ — die zurückkehrende PLO-Elite profitiert. Es ist von Korruption die Rede, von einem selbstherrlichen Arafat und völlig undurchsichtigen Entscheidungsstrukturen.

Rabin, der — trotz scharfem Gegenwind von den religiös nationalistischen Gruppen in den Kolonien — immerhin bereit gewesen war, die PLO und das Palästinensische Volk formell anzuerkennen, wird 1995 von einem Tora-Studenten aus diesen Kreisen ermordet. Seitdem sind diese Gruppen tonangebend, und sie regieren heute mit.

Viele von ihnen mussten 2005 nach Netanyahus Beschluss Gaza verlassen — und wurden in die Westbank-Kolonien transferiert und trieben dort ihr Unwesen. Sie wollen jetzt zurück (32)!

Oslo I und II erwirken nichts Substantielles: Israel bleibt hartnäckig, behält die Kontrolle über Wasser, Luft und Grenzen, von der Nationalisierung Jerusalems wird kein Stück abgerückt. Im Gegenteil: Der Besuch Sharons auf dem Tempelberg im September 2000 zeigt allen, wem Jerusalem gehört! Auch in Israel sind die Palästinenser empört und gehen auf die Straße. Verzweiflung und Enttäuschung über die unerfüllten Hoffnungen, zunehmender Landraub, zunehmende Kolonisierung — die Anzahl der Kolonien verdoppelt sich während des „Friedensprozesses“ — Haus-Zerstörungen, auch zunehmende Armut und außerdem die Repression durch den Sicherheitsapparat der Autonomiebehörde (PNA) bringen das palästinensische Volk am Tag nach dieser Provokation Sharons erneut zum Aufstand. Allerdings treiben die Ereignisse auch viele in die Arme der Hamas. Eine zweite Intifada bricht aus, sie ist blutig, Selbstmordkommandos in den Straßen West-Jerusalems oder Tel Avivs begleiten sie.

Diese Intifada bleibt schließlich erfolglos und führt zu schärferer Repression. Die Mauer wird gebaut.

Das palästinensische Volk wird erneut als „Friedens-unwillig“ gebrandmarkt, während sich die Hamas als wahrer Vertreter der Interessen des palästinensischen Volkes präsentiert, am bewaffneten Kampf festhält und von Gaza aus weiterhin Raketen auf israelisches Gebiet abfeuert. Die IDF reagiert unerbittlich mit mehreren Feldzügen gegen die Hamas und die Zivilbevölkerung. Nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal werden Gazas Wohnviertel, Kleinstädte und Flüchtlingslager zerstört, sterben Kinder und Frauen.

Faisal Husseini, Verfechter des Dialogs stirbt 2001 „plötzlich und unerwartet“ in Kuweit (33).

Im Januar 2002 stürmt die Israelische Armee nun auch die unter der Autonomie stehende Westbank, Ramallah im Gebiet A kommt unter Ausgangssperre, im September wird Arafat in seiner „Muqata“ belagert, er bleibt, bald todkrank, Gefangener der IDF bis kurz vor seinem Tod in Paris 2004. Die Sperr-Mauer wächst. Sie „frisst“ weiter palästinensisches Land, die Kolonisierung nimmt weiter Fahrt auf. Israel erfährt ungebremste Unterstützung durch den Westen.

Die PLO ist keine einigende Kraft mehr, die noch existierende „Selbstverwaltung“ ist schwach, „kooperiert“ nach wie vor in Sicherheitsfragen und verliert die Unterstützung der Mehrheit — Wahlen werden jedoch immer wieder verschoben, Westbank und Gaza sind voneinander isoliert.

Das kommende Desaster ist voraussehbar. Netanyahu kann verlauten lassen, dass die Palästinenser „Tiere“ seien und umgebracht werden können. Entmenschlichte Soldaten, durch Regierung, Medien und Rabbiner aufgestachelt, gehen buchstäblich über Leichen — mit Panzern und Jeeps, ohne irgendein (Mit-)Gefühl. Ein zukünftiger Außenminister Donald Trump verkündet, dass „der Tempel gebaut werden wird“.

Wird der messianische Alptraum Realpolitik? Im 21. Jahrhundert? Oder bedeutet der jetzige Krieg — Höhepunkt aller Kämpfe seit Beginn des Zionistischen Projektes auch — das Ende dieses besonderen Projekt eines modernen „Siedler-Kolonialismus“, wie Ilan Pappé ihn nennt (34)?

Ausblick? „Eiserne Mauer“ oder „Vettern“ ?

Zu Beginn dieser Artikelreihe habe ich den Vergleich mit dem Schicksal der indianischen Völker herangezogen, deren Land mithilfe unbeirrter Kolonisierung europäischer Einwanderer dem amerikanischen Traum from sea to shining sea geopfert wurde (35). Etwa 100 Jahre später, 1923, zieht Vladimir Ze’ev Jabotinsky ebenfalls diesen Vergleich heran, er spricht davon, dass die „eifersüchtige Liebe (der einheimischen Bevölkerung) zu Palästina“ der „eifersüchtigen Liebe (der Sioux) zu ihren hügeligen Prärien“ ähnelt und gelangt zu dem Schluss:

„Die zionistische Kolonisierung muss ... hinter einer eisernen Mauer (voranschreiten), die die einheimische Bevölkerung nicht durchbrechen kann“.

Auch ginge es nicht ohne Gewalt (36).

Und wie im Falle der Gründung der USA auf Kosten der indigenen Bevölkerung zog — als Besiedelung an ihrer Stelle, nicht zu ihrer Ausbeutung — schon Theodor Herzl einen zivilisatorischen Missionsanspruch, sozusagen ein moralisches Recht heran.

„Für Europa würden wir dort ein Stück des Walles gegen Asien bilden, wir würden den Vorpostendienst der Cultur gegen die Barbarei besorgen“ (37).

Es kam anders, der Staat Israel wurde mit Gewalt und Vertreibung gegründet. Damit hätte Schluss sein können — eine Zweistaatenlösung war versprochen worden —, wenn das auch nicht gerecht und gegen die indigene Bevölkerung gerichtet war. Die Kräfte um Martin Buber, die das Projekt in einem einvernehmlichen Zusammenleben mit der einheimischen Bevölkerung entstehen sehen wollten, konnten sich nicht durchsetzen. Nicht die „Cultur gegen die Barbarei“ hatte gesiegt, sondern die nackte Barbarei, wie wir heute erkennen müssen. Auch davor haben prominente Zionisten wie Meron Benvenisti und vor allem Jeshajahu Leibowitz nach der Besetzung des „Rest-Palästina“ gewarnt, auch wenn sie die „Kosten“ der ersten Eroberung von 1948 für gerechtfertigt hielten — als Kompensation für Jahrtausende alte Verfolgung der Judentums (38).

Im Teil 2 über die Anfänge des zionistischen Projektes kam Yusuf Diya al-Din Pascha al Khalidi, einst Bürgermeister von Jerusalem, zu Wort, der in seinem persönlichen Brief an Theodor Herzl von 1906 seine Bewunderung für Herzl und Respekt gegenüber den Juden und dem Judentum bekannte — „Für uns sind Sie Vettern“ — und auch Verständnis für die Beweggründe des Zionismus, nämlich „die beklagenswerte Verfolgung der Juden in Europa“ ausdrückte — um schließlich vor den unausweichlichen Folgen zu warnen (39).

Inzwischen leben etwa eine halbe Million Kolonisten in der Westbank in über 300 Kolonien, und fast 250.000 im besetzten Ost-Jerusalem. Eine Million soll es nach Plan werden. Nicht mehr als 12 Prozent des Bodens sind unter palästinensischer „Kontrolle“. Nach Aussage des Stockholm International Peace Research Institute forderte dieser nun schon 100 Jahre andauernde Krieg seit 1948 fast 200.000 Todesopfer, in diesem und letzten Jahr sind bisher sicher 50.000 dazu gekommen, vielleicht sogar noch einmal 100.000, sagen manche Quellen. Der Gazastreifen ist dem Erdboden gleichgemacht, und in der Westbank haben die Kolonisten freie Hand, bedrohen Dörfer und Stadtviertel, zerstören Häuser und Olivenbäume, hindern die Bauern an der Ernte und so weiter ... (40).

Aber hätte es überhaupt anders ausgehen können angesichts der Verquickung dieses hundertjährigen Krieges mit den Interessen der Großmächte und darüber hinaus mit den messianischen Ambitionen weltumspannender Kräfte?

Kann es jetzt noch einen Ausweg geben?

Als „Vettern“ haben sich weder die Palästinenser noch die Juden in diesem hundertjährigen Krieg sehen und anerkennen können, aber als Leidende schon.

Um das Leiden zu beenden, haben Leitfiguren des zivilen Widerstandes wie Azmi Bishara, „Aktivist“ und Wissenschaftler auf der Israelischen Seite, und Mustafa Barghouti , „Aktivist“ und Arzt auf der Westbank-Seite, sich schließlich für die Akzeptanz des jüdischen Staates in Grenzen von 1948 und nach wie vor für Verhandlungen eingesetzt — ohne das Recht auf Rückkehr und Kompensation infrage zu stellen, denn es ist ja ein außerordentlich hoher Verzicht mit dieser Akzeptanz verbunden. Dazu gehört auch Salman Abu-Sitte — als Kind Vertriebener aus seinem Dorf nahe Gaza, das heute ein Kibbuz ist — der einerseits zum Verstehen des Leidens im „Atlas of Palestine“ Opfer und Verluste akribisch zusammengetragen hat und andererseits wiederholt Belege dafür vorlegt, dass — ohne einen der inzwischen in Palästina geborenen Israelis zu vertreiben und ohne Gewalt — eine „Rückkehr“ möglich ist (41).

Aber — so sagt Khalidi — trotz der aktuellen unverhältnismäßigen hohen Verluste auf Seiten des palästinensischen Volkes, das zurzeit die höchsten Opferzahlen der letzten 100 Jahre ertragen muss, wird es nicht umhinkönnen, das über Jahrhunderte aus Leid entstandene extreme Sicherheitsbedürfnis der jüdischen Seite zu verstehen. Genauso sei aber auch das jüdische Volk, das in diesem letzten noch nicht beendeten Krieg die höchsten Verluste seit 1948 erlebt, gefordert, das aus dem hundertjährigen Konflikt geschehene Leid des palästinensischen Volkes anzuerkennen (42).

Dieser Krieg ist noch nicht zu Ende und das „Danach“ wenig klar. Es muss aber auf israelischer Seite auch klar geworden sein, dass brutale militärische Macht allein kein Mittel sein kann, um gesicherten Frieden zu erhalten.

Die Formel „Land gegen Frieden“ hat unwiderlegte Aktualität. Sie erfordert kluges Umdenken auf beiden Seiten, vor allem auf Seiten der Zivilgesellschaften, die sich neu finden, umdenken und als einheitliche Kraft in beiden Völkern wiedererstehen müssen, um den militärischen Kräften die Initiative aus der Hand zu nehmen.

Wenn es den beiden traumatisierten Gesellschaften nicht gelingt, den Hass zu überwinden und einen erneuten Anlauf statt Rache nehmen zu wollen, muss es einen Impuls, Druck von außen geben, sagte Gideon Levy in einem Interview vor einem Jahr in der Tagesschau (43).

Genau deshalb und gerade wegen der Mitverantwortung an dem Konflikt durch den Holocaust und die „Wiedergutmachungsmillionen“, die in das Projekt Israel flossen, statt den Betroffenen selbst zugute zu kommen, muss Deutschland für einen sofortigen Stopp der Kriegshandlungen eintreten, einen Stopp des Waffen- und Kriegs-Technologie-Transfers nach Israel verordnen und ein Ende der Besatzung einfordern, statt Kritiker israelischer Politik und der Endzeitvisionen zionistischer Politiker als Antisemiten zu diskreditieren.

Die Mehrheit der Menschheitsfamilie ist längst dieser Meinung, und vielleicht ist der Druck durch das jüngst gefallene ICC-Urteil ein Anfang.

Anmerkungen

Kolonien oder Siedlungen? Kolonisten oder Siedler?

Da es sich bei Israel inzwischen um ein weltweit so gesehenes Kolonialprojekt handelt, benutze ich nicht den Begriff Siedler oder Siedlungen; es handelt sich bei den Kolonien nicht um einfache Wohnsiedlungen, und ebenso wenig sind die Kolonisten „Siedler“ im Sinne von Landnehmer für ein neues Bauprojekt oder landwirtschaftliches Projekt im Rahmen einer Neuerschließung von bisher anders oder noch nicht bewirtschaftetem Land durch entsprechend abgesegnete lokale oder regionale Rahmenpläne.

Zu meinen Aufenthalten:

Seit 1984 konnte ich im Rahmen meiner Dozenten- und Forschungstätigkeit an der Abteilung Raumplanung, heute Fakultät, regelmäßig zu Forschungszwecken in die besetzten Gebiete reisen. Von 1997 bis 2000 war ich für einen Arbeitsaufenthalt in Gaza und Ramallah freigestellt zur Unterstützung des Wohnungs- und Bauministeriums der PNA im Rahmen der bundesdeutschen Unterstützung der PNA durch das Center for International Migration (CIM), das Experten und Rückkehrer in die OPT entsandte. Danach wurde ich Beauftragte für die Kooperation zwischen der Fakultät Raumplanung und der Ingenieurs-Fakultät der Birzeit-Universität bei Ramallah zur Unterstützung der Lehre in dem neu gegründeten Studiengang Urban Planning.

Die Abteilung Raumplanung, Reform-Gründung an der Universität Dortmund — heute TU — ließ ihren wissenschaftlichen Mitarbeitern freie Hand für eigene Forschungen; mein Interesse galt neben anderen der Planung in Entwicklungsländern, auch im Nahen Osten. 1986 entstand eine erste, damals gemeinsame Veröffentlichung mit Joachim Zschiesche, „100 Jahre Zionistische Siedlungspolitik“, darüber hinaus zahlreiche Artikel in Zeitschriften der damals noch existenten 3.-Welt-Bewegung; sogar in der Frankfurter Rundschau gelang es am 23. Dezember 2000 eine zweiseitige Dokumentation zur Situation in Jerusalem zu veröffentlichen.

Aus der Zusammenarbeit mit der PLO in Bonn und Paris entstanden diverse Beiträge auf Konferenzen vor allem zu Jerusalem: 1987 Speaker in der Konferenz zu Al Quds—Jerusalem, bei der UNESCO-Jahresversammlung in Paris mit einer anschließenden Ausstellung mit Plänen, Karten und Fotografien; 1988 mit einem Beitrag in der Versammlung der Arabischen Liga zu Jerusalem in Kairo; 1993 bei der Tagung der ISESCO zu Jerusalem in Rabat und 1997 bei der Tagung der Islamic League in Rom; 2002 wurde ich mit einem Report für UN-Habitat Nairobi beauftragt zur Wohnungssituation in den besetzten Gebieten (OPT) und Vorschlägen für entsprechende notwendigen Schritte; 2005 mit einem Beitrag auf der AESOP-Konferenz der Europäischen Planer in Wien zusammen mit palästinensischen Doktoranden der Fakultät Raumplanung; 2008 beteiligt an einer Wirkungsanalyse zur Tätigkeit des Applied Research Institute ARIj Jerusalem. Nach meinem endgültigen Ausscheiden aus der Universität 2016 war meine Zuständigkeit für die Partnerschaft beendet.