Das betrogene Volk
Das Schicksal der Palästinenser kann man mit dem nordamerikanischer Indianer vergleichen. Wer nicht vertrieben wurde, blieb als „Unterschicht“ im eigenen Land. Teil 4 von 6.
„Es gibt kein palästinensisches Volk“, sagte die ehemalige israelische Ministerpräsidentin Golda Meir. Der politische Hintergrund dieser Äußerung scheint klar. Dort, wo „niemand“ ist, kann man sich getrost ansiedeln. Und sollten auf dem begehrten Gebiet doch irgendwie Menschen sein, muss man sie nicht so ernst nehmen oder gar als gleichberechtigt anerkennen. Das Bedauern westlicher Länder über die fortdauernde Vertreibung, Unterwerfung und Diskriminierung von Palästinensern durch den „Judenstaat“ hielt sich stets in Grenzen. Tatsächlich kann man bei den Palästinensern alle Merkmale eines eigenen Volkes feststellen: ein eigenes traditionelles Gebiet, eine eigene Kultur und Sprache. In historischen Betrachtungen wird es meist im Doppelpack erwähnt: „Israel/Palästina“. Es wird Zeit, die wechselhafte Geschichte dieses Volkes zu erzählen, bevor immer größere Teile von ihm im Bombenhagel untergehen. In diesem vierten Teil der Reihe geht es vor allem um Landraub, Vertreibung und Neubesiedlung auf vormals palästinensischem Gebiet. Einblicke gibt die Autorin auch in das System der Unterdrückung, das die israelischen Besatzer installiert haben.
„Wir müssen wegen unseres Handels (...) am Meer liegen (…) und für unsere Landwirtschaft weite (...) Flächen haben; wir verlangen, was wir brauchen: Je mehr Einwanderer, desto mehr Land! Gebiet: Vom Bach Ägypten bis zu dem Euphrat“ (17).
1897 war alles noch eine Vision. 1917 — kaum 20 Jahre später — hatte die zionistische Bewegung ihren ersten Trumpf in der Hand: Englands Zusicherung durch die „Balfour-Erklärung“, Palästina in eine „Jüdische Heimstätte“ zu verwandeln. Fünf Jahre später, 1923, wird Palästina englisches Mandatsgebiet durch Beschluss des Völkerbundes. Ein anderes Volk soll sein Land besiedeln dürfen — die Balfour-Erklärung wird Teil des Mandatsauftrags. Das palästinensische Volk wurde nicht gehört — und um seine auch ihm seit dem Ende des Osmanischen Reiches, zu dem es 400 Jahre lang gehört hatte, zustehende nationale Unabhängigkeit betrogen.
Unter dem englischen Mandat wird jede nationale Regung unterdrückt, seine politischen Führer werden ins Exil geschickt, und mit aller Gewalt wird jeglicher Aufstand und jede Forderung nach politischer Organisation und staatlicher Entwicklung zerschlagen. Nur 50 Jahre hat es gedauert, und Palästina wurde durch den UN-Beschluss 181 von 1947 geteilt — ein jüdischer Staat und ein arabischer Staat sollten entstehen. Allein der Name Palästina taucht im Teilungsbeschluss nicht auf, geschweige denn ein palästinensisches Volk.
Die Staatsgründung — der Prozess einer systematischen Judaisierung Palästinas beginnt
Nach der groß angelegten Vertreibung großer Teile des palästinensischen Volkes aus seinem Land, die als „Nakbe“, „die Katastrophe“, in das nationale Gedächtnis der Palästinenser eingeschrieben sein wird, verkündet David Ben-Gurion am Abend des 14. Mai 1948 — dem Tag des offiziellen Abzugs Englands — die Gründung des Staates Israel.
Aber die Proklamation eines Staates allein, mit hunderttausenden zusammengewürfelten Menschen verschiedenster Herkunft, Kulturen und Sprachen, mit offiziell nicht einmal 7 Prozent Bodenbesitz und nichts Gemeinsamem als den sie verbindenden religiösen Hintergrund und das Leid und Trauma, dem die Mehrheit von ihnen ausgesetzt gewesen war, dazu unerfahren im Umgang mit diesem neuen Land und seinen natürlichen und kulturellen Besonderheiten — wie sollte, wie konnte daraus eine Nation, ein „Staatsland“ werden? Zudem gab es noch etwa 160.000 Palästinenser, zwar nach der Vertreibung nur etwa 10 Prozent der Gesamtbevölkerung — Fremde, Minderheit, Feinde —, Zeugen der Gewalt und des Terrors, mit dessen Hilfe dieses „Volk ohne Land“ zu einem „Land (fast) ohne Volk“ geworden war. Das ging nur mit fremder vor allem finanzieller Hilfe, mit Betrug und Selbstbetrug.
Zu den zentralen Fragen und den nächsten Schritten im Folgenden.
Wer ist israelischer Bürger? Die Bevölkerungs-Frage
In der Gründungserklärung vom 14. Mai 1948 ist von gleichen Rechten für alle Bewohner des Landes die Rede. Aber nur wenige Tage später werden die diversen paramilitärischen Milizen und Brigaden zu den „Israel Defense Forces“ (IDF) zusammengefasst. Für einen Krieg war die Entscheidung schon gefallen, und Krieg wird zur Routine des künstlich geschaffenen israelischen Staates gegenüber seinen, zunächst vor allem inneren Feinden.
Die erste Frage ist: Wer ist überhaupt Bürger des jüdischen Staates Israel?
Die Palästinenser werden „Minorität“, und ein „Ministerium für Angelegenheiten der Minderheiten“ ist für sie zuständig.
Die verbliebenen Palästinenser in Galiläa, dem Dreieck südöstlich von Haifa und Wadi Ara, den Küstenstädten und der Negev-Region, werden nach dem noch aus den letzten Jahren des Mandats bestehenden „Emergency Law“ bis 1966 unter Militärrecht und Notverordnungen gestellt. Ihre Bewegungsfreiheit ist beendet, Grundrechte sind ihnen entzogen.
Sie sind voneinander durch Sicherheitskorridore getrennt — getrennt von ihren landwirtschaftlich genutzten Böden, ihrer ökonomischen Unabhängigkeit beraubt, der Armut und Schutzlosigkeit preisgegeben. Sie sind dem Innenministerium und damit den Sicherheitskräften und Geheimdiensten unterstellt. Polizeikräfte, Milizen und Soldaten regeln willkürlich den Alltag; Plünderungen, weitere Zerstörungen, Vertreibungen und Massaker sind an der Tagesordnung.
So werden die mehr als 500 im Krieg eroberten Dörfer zerstört, „um die Rückkehr zu verunmöglichen“, und die arabischen Viertel der Großstädte wie Jaffa, Akka oder Ramle zerstört, seine Bewohner vertrieben oder gezwungen, in die Außenbezirke oder Dörfer umzuziehen.
Bekannt und ein erster Meilenstein in der Erfahrung, rechtlos zu sein, ist ein kaltblütiges Massaker in Kufr Qassim im „Dreieck“ am 29. Oktober 1958, zu Beginn des Sinai-Feldzugs gegen Ägypten. Es ist Ausgangssperre ab 17 Uhr verhängt. Zwar wird der Bürgermeister informiert, aber viele Männer — und auch Frauen und Kinder — sind auf den Feldern oder zur Arbeit in der benachbarten Stadt Netanya und kehren ahnungslos nach 17 Uhr zurück.
Die Soldaten fangen sie vor dem Dorf ab und hatten die Order, jeden und jede, der oder die sich nach 17 Uhr außerhalb des Hauses befand, zu erschießen. Sie töten wahllos 49 Dorfbewohner (18).
Der erste Zensus
„Wir müssen alles nur Mögliche tun, um sichergehen zu können, dass sie nicht zurückkehren“ (19)
Es werden nicht nur Dörfer und Stadtteile bewusst zerstört, um eine Rückkehr zu verunmöglichen. Im November 1948 wird eine Volkszählung des neu etablierten Israelischen Zentralen Büros für Statistik (ICBS) durchgeführt, gestützt durch eine siebenstündige Ausgangssperre und kontrolliert durch Armee und Polizei. Es wird zwischen Juden und Nicht-Juden, und was die „Minoritäten“ angeht, in „Anwesende“ und „anwesende Abwesende“ unterschieden. Wer nicht auf seinem eigenen Land, auf seinem Hof oder in seinem Haus oder seiner Wohnung angetroffen wird, gilt als „abwesend“, obwohl anwesend — eine nirgendwo sonst auf der Welt existierende Kategorie von Bürgern (20).
Das Einwanderungs- und das Rückkehrgesetz 5710 von 1950
Dieses Gesetz gilt nur für Juden innerhalb und außerhalb Israels. Es lädt Juden in aller Welt zur Einwanderung ein und garantiert ihnen Staatsbürgerschaft. Sie sind „Oleh“, „Rückkehrer ins versprochene Land“, und notwendig für die „Erlösung Israels“. Als Jude gilt, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde — oder wer konvertiert ist und keine andere als die jüdische Religion hat und dies nachweisen kann. Nur diese Personengruppe kann ein Visum als „Oleh“ beantragen und Staatsbürger werden (21).
Das Staatsbürgerschafts- oder Nationalitätsgesetz 5712 von 1952
Dieses Gesetz unterscheidet prinzipiell zwischen Juden, „Oleh“, also denjenigen, die zur „Rückkehr“(„Aliyah“) nach Israel kommen oder gekommen sind, ob vor oder nach der Staatsgründung unter Paragraph 2 — sie sind Staatsvolk —, und den anderen, nämlich den Palästinensern unter Paragraph 3, die bis zur Erlassung des Gesetzes „wohnhaft“ in Israel waren und sind, gezählt und registriert wurden, also „Anwesende“ sind, oder deren Nachkommen durch Geburt, wenn einer der Eltern diese Definition durch Wohnsitz erhalten hatte. Sie sind Bürger mit „Aufenthaltserlaubnis“ (22). Sie können auch nicht zur Armee, was sie von vielen Staatsleistungen oder Funktionen per se ausschließt.
Diese beiden zentralen Gesetze begründen — ohne es ausdrücklich zu benennen — die Unmöglichkeit jeglicher Rückkehr der Nicht-Juden und der aus dem Gebiet Geflüchteten, denn sie sind weder „Oleh“ noch sind sie Anwesende. Selbst die Anwesenden, auch die abwesend Anwesenden sind in der Statistik höchstens „Araber“ (23).
Das Rückkehrrecht durch Krieg Vertriebener ist ein international gültiges Grundrecht nach dem Völkerrecht und der Genfer Konvention, das bis heute ein zentraler Punkt in der Auseinandersetzung um die Rechte des palästinensischen Volkes ist. Am 11. Dezember 1948 beschließt die Generalversammlung der UN zwar unter 194 die Resolution, nach der die Palästinenser das Recht haben, in ihre Heimat und ihr Land zurückzukehren oder entschädigt zu werden, aber sie bleibt vage und folgenlos — bis heute (24).
Wer besitzt das Land? Die Boden-Frage
„(...) Das Expropriationswerk muß (...) mit Zartheit und Behutsamkeit erfolgen. (…) aber zurück-verkauft wird ihnen nichts.“ (25)
Auch hier ist die Frage: Wem gehört nun der Boden im jüdischen Staat Israel?
„Land ohne Volk“ für das „Volk ohne Land“ — nur noch ein kleiner Schritt?
Zunächst erklärt die Knesset in dem/n „Basic Law(s)“ von 1958 den Staat Israel als den Staat der Juden, als jüdischen Staat. Die Festlegung zum Bodeneigentum folgt dem konsequent, indem das „Basic Law of Israel Lands“ von 1960 den Boden zum Staatseigentum erklärt, das nicht veräußert werden kann. Von den fast 27.000.000 Quadratkilometern oder 27.000.000 Dunam (10 Dunam = ein Hektar) des ehemaligen Mandatsgebietes Palästina hat Israel nun nach dem Krieg etwa 20.000.000 Quadratkilometer oder mehr als 70 Prozent festen palästinensischen Boden unter den Füßen, aber noch nicht alles ist jüdisches Eigentum.
Die Eigentumsfrage lässt sich jedoch schnell erledigen: Nach altem osmanischem Recht, das nicht verworfen wurde und noch gilt, fällt verlassenes und unbearbeitetes Land an den Staat zurück. Mit den Notgesetzen aus der Mandatszeit wird so erfolgreich verfahren:
Die Notstandsverordnungen des „Emergency Laws“ ermöglichen
- 1948 die Erklärung von großen Gebieten zu militärischen Sperrgebieten (Defence Regulations), was dazu führt, dass diese Gebiete nicht betreten werden dürfen, nicht zu Erntezwecken oder sonstiger landwirtschaftlicher Bearbeitung. Es gilt als verlassen und unbearbeitet;
- 1948 die „Ermächtigung“ zur Landenteignung „aus Sicherheitsgründen“, und dieses Land wird schließlich „für die Ansiedlung von Immigranten“ freigegeben.
- 1949 kommt die Notstandsverordnung zur Enteignung von brachliegendem Land „aus Sicherheitsgründen“ hinzu — der entscheidende Schritt.
Das Land der Vertriebenen und der „abwesenden Anwesenden“ wird formal zunächst einem „Kustus“ übereignet — und wenig später nationalisiert als „Staatsland“, es wird „Israel-Land“. Heute sind 93 Prozent des Bodens in Israel „jüdisch“ und Staatsland. Davon verwaltet der 1901 für den Erwerb jüdischen Bodenbesitzers gegründete Jewish National Fund (JNF) 13 Prozent, und 80 Prozent sind der Israel Land Authority (ILA), Teil der Regierung, unterstellt. Die verbliebenen 7 Prozent gelten als privater Besitz oder Besitz religiöser Institutionen — wie beispielsweise dem Auqaf, der muslimischen Behörde in Jerusalem.
So gehen in kürzester Zeit die etwa 20.000.000 Hektar palästinensischen Bodeneigentums in zionistisches/jüdisches, weil israelisches Staatseigentum über.
Von dem formaljuristisch unter Nutzung osmanischen und englischen Rechts enteigneten palästinensischen Boden sind 80 Prozent landwirtschaftlich genutzte Fläche und 20 Prozent städtisches Gebiet (26).
Wie soll der jüdische Raum gestaltet werden? Zionistische Raumplanung
„Wir werden kühner und herrlicher bauen, als es je vorher geschehen ist.“ (27)
Zunächst: Bewältigung der Wohnungsnot
Kühn war das ganze Unternehmen wohl, aber in der allerersten Zeit sah alles kaum „kühn und herrlich“ aus. Zunächst mussten Tausende Neu-Einwanderer ein Dach über dem Kopf bekommen. „Leere“ Dörfer, „leere“ Kleinstädte, „leere“ Stadtviertel gab es nun zur Genüge. Die ersten neu Angekommenen nahmen schnell die in Panik verlassenen palästinensischen Wohnungen in Besitz: zum Beispiel in der schmucken Altstadt von Jaffa, im schönen alten Dorf „Ein Hud“ — nur eines von vielen — und die prachtvollen Villen in der Jerusalemer „Neustadt“. Als die „1 Million“ aus den arabischen Ländern kamen, mussten sie vorerst noch in Zelten und provisorisch errichteten Notwohnungen ausharren, wofür die JA zuständig geworden war.
Aber würden die ursprünglichen Bewohner je zurückkommen?
Die Volkszählung hatte rasch klargestellt, wer als Staatsbürger dieses neuen Landes gilt und daher staatliche Anerkennung und Fürsorge erwarten könne. Juden waren sowieso Staatsvolk, also Bürger, sie waren 1948 etwa 700.000. Von den verbliebenen 160.000 Palästinensern wurden 70.000 zu „abwesenden Anwesenden“ erklärt, also fast die Hälfte: So die meisten Stadtbewohner von Jaffa, Haifa oder Akka, oder die Bewohner von Ein Hud, die sich zu Hunderten nur auf einem Hügel gegenüber ihrem Dorf vor den bewaffneten jüdischen Milizen versteckt gehalten hatten und nicht mehr in ihr Dorf zurückkehren durften; ebenso die Mehrheit der Beduinen, die nur saisonweise Dörfer im Nord-Negev bewohnten, diese und ihr Weideland seit Jahrhunderten traditionell als ihr „Eigentum“ betrachteten, nun aber gerade nicht dort mit ihren Herden zuhause waren. Dokumente hatten sie nicht, wie noch in vielen Dörfern, denn ein modernes Land-Kataster war auch unter dem englischen Mandat nicht komplett erstellt worden.
Sie alle kämpfen bis heute mit anderen nicht anerkannten Dörfern als „The Fourty — unrecognized villages“ immer wieder um Rechte und staatliche Anerkennung. Erst um 2000 konnten nach langem und ausdauerndem juristischen und politisch unterstützten Kampf einige Erfolge erzielt werden (28).
Auf diese Weise wurde die Wohnungsfrage schnell geklärt: Tausende jüdischer Neubürger erfreuten sich ihrer neuen Behausungen, wie beispielsweise der alten traditionellen Steinhäuser von Ein Hud. Das historische Ensemble der Altstadt von Jaffa wurde beliebt bei Künstlern, und Jaffa wird heute gern als „Altstadt von Tel Aviv“ touristisch vermarktet.
Das Land der Palästinenser, die im Lande geblieben waren und bald zurückkamen, war bereits dem Kustos für verlassenes Land übergeben worden, und sie wurden Mieter von AMIDAR, der Institution, die für die gesamte Wohnungsbewirtschaftung und -verteilung zuständig geworden war. Sie konnten mit viel Glück ihre Häuser zwar wieder bewohnen, aber nun als Mieter von AMIDAR, ohne das Recht, ihr Eigentum als solches zu verändern oder gar durch Anbauten zu vergrößern. Aus Jaffa gibt es viele Beispiele, dass solche Alt-Bewohner, die zu Mietern in ihrem eigenen Haus geworden waren, noch bis heute vom Abriss bedroht werden, weil sie — verständlicherweise bei der wachsenden Bevölkerung — weitere Zimmer oder Gebäudeteile „illegal“, ohne Genehmigung, angebaut hatten (29).
Aus der Altstadt von Akka war ein Großteil der Bewohner in Richtung Libanon geflohen. Aber die vielen tausend Flüchtlinge aus dem Süden, die es nicht bis in den Libanon, sondern nur bis Akka geschafft hatten und die in die fluchtartig verlassenen palästinensischen Häuser strömten — auch sie wurden Mieter von AMIDAR, mit denselben Diskriminierungen und Problemen bis heute.
Masterplanung bis 1966
„Nun, meine Freunde, wir werden ein Netz von Bauernkolonien über das Land spannen (…) genauso haben wir vorzugehen …“ (30)
„Raumplanung ist (...) die demokratische Entwicklung von Städten, Dörfern und Regionen (..). zum Lebensraum für eine menschliche Gesellschaft“ schrieben vor Jahren die Studenten an die Außenwand der Fakultät für Raumplanung an der Technischen Universität Dortmund. Utopie? Stimmt nicht eher folgender Satz in unserer am Profit orientierten Welt, von dem die Fakultät offiziell ausgeht: „Raumplanung ist ein Herrschaftsinstrument — auf Anordnung der Politik, im Interesse bestimmter Fraktionen in der Gesellschaft und zur möglichst konfliktfreien, rationalen und profitablen Nutzung des Bodeneigentums“?
Zionistische Raumplanung ist sicher ein Herrschaftsinstrument — aber die Frage ist erlaubt: Für wen und welche Gesellschaft?
Auf Anordnung von Ben-Gurion wurde schon 1948 eine Planungsgruppe unter Leitung des Bauhausschülers und Architekten Arieh Sharon gegründet, die 1950 den berühmten gewordenen Masterplan für den Aufbau einer völlig neuen Raumstruktur für das gesamte Land vorlegte — ein Plan zur radikalen Umordnung, zur Judaisierung des Landes. Darin waren vorgesehen:
30 neue Städte
Bis 1966 sollte es 30 neue Städte geben, nach dem Modell der „New Town Gartenstadt“. Etwa die Hälfte von ihnen entsteht auf den Ruinen ehemaliger palästinensischer Dörfer oder von „Arabern“ bereinigten Städten wie Safad, Lydda, Bir Saba und so weiter, oder als Konkurrent zu bestehenden, noch immer rein palästinensischen Städten wie Nazareth. Daraus wurde „Nazareth Illit“, „Ober-Nazareth“, neben dem historischen Nazareth erbaut. Die vorhandene Infrastruktur zu nutzen war eines der wirtschaftlichen Argumente dafür. Das neue Nazareth sollte ausdrücklich auf Wunsch Ben-Gurions als Signal für die „Judaisierung Galiläas“ vorangetrieben werden (31)
Ein Netz von 480 Dörfern
Bis 1966 sollte ein Netz von 480 neuen Dörfern entstehen, Kibbuzim oder Moshavim, im Verbund mit Zentraldörfern oder Kreisstädten, idealtypisch nach dem Prinzip von Walter Christaller.
Idealtypisch wird nach Christaller eine Gruppe von Kibbuzim mit einer bestimmten Landwirtschaft durch ein größeres Dorf als Verwaltungszentrale mit den notwenigen Sozial-, Versorgungs- oder Vermarktungseinrichtungen wie zum Beispiel einer Konservenfabrik ergänzt. Auch hier werden zum Teil auch aus Kostengründen die vorhandenen, verlassenen Strukturen ehemals palästinensischer Dörfer zugrunde gelegt.
Hinzu kommen Bearbeitungs- und Industriekomplexe, Schwerpunkte je nach den lokalen ökonomischen Gegebenheiten und Ausrichtungen oder Zielen.
Der Plan erhält internationale Aufmerksamkeit, vor allem die Struktur der “New Towns“ werden als Innovation bestaunt — so von Erika Spiegel, Professorin für Stadtentwicklung an der Universität Dortmund. Wo kann man schon in der Welt so freizügig einen großen Raum ohne Eigentumskonflikte und Konkurrenzen so komplett neugestalten — außer vielleicht im Sowjetsystem?
Die entsprechende Infrastruktur an Straßen und Autobahnen folgt den neuen Raumbeziehungen und verändert das alte Netz an historischen Wegen und Verbindungen zusätzlich (32).
Der National Water Carrier
„Wir werden die Wüste zum Blühen bringen.“
Es war Ben-Gurions großer Traum, die Negev-Wüste in eine fruchtbare Agrar-Region zu verwandeln. 1953 wurde er Mitglied des Kibbuz Sde Boker, südlich von Bir Saba/Ber Sheva, um seinem zionistischen Traum, die Wüste zum Blühen zu bringen, näher zu kommen.
Teil des nationalen Raumentwicklungsprogramms war die Absicherung einer ausreichenden Wasserversorgung.
Dazu gehört der raumgreifende „National Water Carrier“, der 1951 begonnen wird und sich im Wesentlichen auf Wasser des nördlichen Jordangrabens — das Hula-Gebiet — stützt.
Die 35 Dörfer und Strukturen des Hula-Gebietes im oberen Galiläa waren im Vertreibungs-Krieg völlig zerstört worden. Nach einer aufwendigen Drainierung der wegen ihrer teilweise sumpfigen Struktur und den vielen fischreichen Gewässern bekannten Region, die von den Quellflüssen des Jordan aus dem Hermon-Gebirge gespeist wird, sieht der aufwendige Plan vor, diese Gewässer über den See Genezareth in einem groß angelegten raffinierten Kanalsystem mit unterirdischen Zwischendepots in die neuen landwirtschaftlichen Gebiete bis hinunter zum Negev zu leiten (33).
Natürlich hat das Projekt negative Auswirkungen auf die Wasserversorgung der Westbank und das Ostufer des Jordangrabens, also auf Jordanien.
Erst viel später, im Rahmen der Friedensverhandlungen mit Jordanien 1994, wird die Frage eines „Water-Sharing“ zur Sprache gebracht, wie es damals schon notwendig gewesen wäre.
Das „Blühen der Wüste“ ging also offensichtlich zu Lasten anderer Anrainer des Jordantals und der palästinensischen Bevölkerung auf der Westbank. Zudem wird Baumwolle, eine neue Industriepflanze, angebaut; eine Pflanze, die der Region fremd und sehr „wassergefräßig“ ist. „Ein Unsinn“, sagen die erfahrenen Bauern der Region.
Das Ende der Aufbauphase
Bis 1966 ist die Grundstruktur gelegt, die Nation gefestigt, das jüdische Volk in seiner „Heimstätte“ angekommen. Ihm gehört mehr als 90 Prozent des Bodens, es bildet die große Mehrheit der Bevölkerung. Die Notstandsgesetze und das Militärregime werden aufgehoben.
Die Machtfrage ist geklärt, die Bodenfrage ist gesichert, nur die demografische Frage wird scharf unter die Lupe genommen: Die palästinensische Bevölkerung in Israel macht bis heute nicht mehr als 20 Prozent aus, dennoch wird die Bevölkerungsstatistik kritisch überwacht und als Maßstab des Grades der „Erlösung“ Israels, ja mehr noch, als „Existenzfrage“ des Staates betrachtet.
Das Wachstum der palästinensischen Bevölkerung wird in Medien und Politik immer wieder als „tickende Zeitbombe“ skandalisiert. Trotz Aufhebung des Militärregimes gehen Landenteignungen, Dorfzerstörungen und die Politik der Unterdrückung jeglichen Unmuts oder gar Widerstands weiter.
International gesehen erfreut sich der Staat Israel in der UNO zunächst der Unterstützung der beiden neuen Großmächte USA und UdSSR. Beide hatten dem Teilungsbeschluss zugestimmt und leisteten im Krieg militärische Hilfe. Sobald aber der UdSSR deutlich wird, dass Israel kein Partner des Sozialismus sein würde, bleiben die USA Hauptförderer des neuen Staates, und Israel sieht vorausschauend Amerika als einen zentralen Verbündeten seines Einflusses auf den gesamten Nahen Osten und wird wichtiger Teil des westlichen Imperialismus.
Die Interessen des palästinensischen Volkes geraten unter die Räder des Ost-West-Konflikts, der auch die arabischen Nachbarstaaten spaltet.
Der Widerstand erwacht
Palästinenser — geschlagen, aber in ihrem Wunsch nach Unabhängigkeit und Souveränität ungebrochen
„(…) die arme Bevölkerung trachten wir unbemerkt über die Grenze zu schaffen, aber in unserem eignen Lande jederlei Arbeit verweigern. (...) Ziehen wir in eine Gegend, wo es für den Juden ungewöhnlich wilde Tiere gibt — große Schlangen und so weiter —, so benütze ich die Eingeborenen, bevor ich sie in den Übersiedlungsgebieten beschäftige, dazu, diese Tiere auszurotten...“ (34)
Widerstand in Israel? Können Sklaven den Aufstand proben?
Erste Schritte des Umgangs mit den „anwesenden“ Palästinensern entsprachen in etwa den oben genannten Vorstellungen Theodor Herzls. Hunger und Mittellosigkeit machen dies leicht. Ein Beispiel:
Die Zitrus-Ernte und die Sesam-Ernte standen bevor. Aber kein Wunder, dass die verbliebene palästinensische Bevölkerung jede Zusammenarbeit mit den neuen Machthabern verweigert. Shmuel Zammir, erfahrener Kolonist, Siedler und Beamter des Minoritäten-Ministeriums, entwickelt ein Modell, das über die neue Gangart Bände spricht. Er bewirbt dieses Projekt damit, dass es „eine solide Brücke (..) schlagen und die zukünftigen Beziehungen zwischen uns und den Minderheiten regulieren“ werde.
Er ließ als ein erstes „Modell“ im August 1949 ein Arbeitslager in der Nähe von Ramle und ein zweites zu Beginn des Novembers in Lydda (heute Lod) errichten — inmitten der Zitrusfrüchte produzierenden israelischen Kibbuzim. Tausende Arbeiter aus Nazareth sowie Akka und Tamra werden dafür zwangsverpflichtet. „Wir müssen die erfahrensten Landarbeiter nach genauer Prüfung auswählen“ ist die von Zammir ausgegebene Richtlinie.
Die Lager werden von Soldaten bewacht, nachts unter Ausgangssperre gestellt, es gibt weder Wasser noch hygienische Einrichtungen. Die Versorgung ist katastrophal. Das „Experiment“ wird nach einem Jahr beendet — jedoch nicht aus humanitären Gründen, sondern weil der Zustrom neuer Einwanderer und die neuen Projekte andere Prioritäten setzten.
Hunger treibt schließlich die palästinensischen Bauern zu Billiglohn-Arbeiten auf ihren ehemaligen Feldern und auf die neuen Baustellen. Es gibt kaum eine Alternative, auch wenn — je nach politischen Gegebenheiten — Arbeit bei den Israelis schwankende Sicherheit bedeutet (35).
Der palästinensische Widerstand agiert zunächst vorsichtig von außen und gerät zwischen die Fronten
Während die maßlose Unterdrückung der Minderheit in Israel fortbesteht, wächst die Wut über das Geschehene und der Widerstand in den Flüchtlingslagern der Westbank und vor allem im Gazastreifen. In nächtlichen Aktionen versuchen „Fedajin“, Gruppen junger Militanter, die Grenze nach Israel zu überschreiten und Soldaten und die neuen, auf ihren zerstörten Dörfern entstandenen neuen Kolonien anzugreifen. 1955 formiert sich als erste Widerstandgruppe die „Fatah“ im Gazastreifen. Israel reagiert mit äußerster Härte.
Vergeltungsmaßnahem treffen die noch vorhandenen palästinensischen Dörfer, wie 1953 das Dorf Qibya in der Westbank. Nachdem Fedajin drei Zivilisten in der neuen Stadt Yehud getötet hatten, werden 45 Häuser im Dorf Qibya mit darin 69 Zivilisten in die Luft gesprengt. Ariel Sharon ist der verantwortliche Kommandeur der Spezialeinheit 101.
Auch Jordanien und Ägypten versuchen mit allen Mitteln und Härte, die Militanten an ihren Überfällen zu hindern. Sie wollen und können sich keinen Ärger mit Israel leisten.
Der Gazastreifen trägt schon damals die Hauptlast des ungleichen Kampfes. Ägyptische Soldaten kontrollieren die Lager, werden aber in Kämpfe mit israelischen Streitkräften verwickelt, die mehrfach in den Gazastreifen eindringen. Auch ägyptische Soldaten werden getötet. Unter Gamal Abdel Nasser versucht Ägypten blockfrei zu bleiben, aber die wiederholten Angriffe Israels bringen es dazu, sich der Waffenhilfe durch Verbündete der UdSSR zu versichern. Der folgende Suez-Krieg Israels mit Unterstützung Englands und Frankreichs im Dezember 1956 — ein letztes Bündnis mit den alten Kolonialmächten — ist nur ein halber Sieg für Israel. Es muss auf Betreiben der USA und der UdSSR in der UNO die besetzten Gebiete, den ägyptischen Sinai und den Gazastreifen verlassen. Aber es hatte in der kurzen Zeit seiner Besetzung vor allem in den Flüchtlingslagern Khan Yunis und Rafah mit Massakern gewütet und hunderte Männer, Frauen und Kinder ermordet. Es war ein Vorgeschmack auf dieser Art der Vergeltung, der weitere folgten (36).
Auf Betreiben Ägyptens wird 1964 schließlich durch die Arabische Liga die Palästinensische Befreiungsorganisation, die PLO, als Dachorganisation der inzwischen entstandenen verschiedenen militanten Gruppen gegründet. Sie wird anerkanntes Mitglied in der Arabischen Liga — eine Reaktion auf den erstarkenden und erneut sichtbaren unabhängigen Aktivismus des palästinensischen Volkes, des aufkeimenden palästinensischen Selbstbewusstseins und Nationalbewusstseins, das man gern unter die eigene Kontrolle gebracht hätte. Ägypten unterstützt seitdem die militanten Aktionen und erhofft sich, einen Partner in seinem panarabischen Nationalismus-Bestreben gewonnen zu haben.
Schon wieder wird die Palästina-Frage anderen Interessen untergeordnet.
Ägypten, speziell Kairo, wird aber vor allem ein Ort des kulturellen und intellektuellen Widerstandes und des Wiedererstarkens des palästinensischen Nationalbewusstseins über die Literatur.
Emil Habibi, Ghasan Kanafani, Mahmud Darwish, die bekanntesten Schriftsteller, drücken in Romanen, Theaterstücken, Gedichten und Kurzgeschichten das Leid, die Sehnsucht und die Probleme der heimatlos gewordenen Individuen und Familien aus, deren ewiger Traum von der Rückkehr handelt. Ein Trauma, das bis heute weiterwirkt bis in die Familien und ihre Nachkommen in Europa, den arabischen Ländern, den USA und weiteren Ländern. In den meisten Ländern außerhalb Palästinas erleben sie ebenfalls Diskriminierung und sind keinesfalls den jeweiligen Bürgern gleichgestellt (37).
1967 — nachweislich ohne eine Bedrohung durch die Palästinenser oder andere arabische Staaten — greift Israel auf die Westbank, den Gaza-Streifen, Ost-Jerusalem und die Golan-Höhen zu. Die USA sind zumindest eingeweiht. Der dritte große Krieg gegen das palästinensische Volk beginnt. Dies ist der Zeitpunkt, zu dem sich Golda Meir zu dem Spruch verleiten lässt: „Es gibt kein palästinensisches Volk.“ Ja — es scheint ausgelöscht, ausradiert, hat keinen Namen, keine Geschichte, wird nicht erwähnt — aber es lebt! Jeshajahu Leibowitz, Professor der Universität Jerusalem und Herausgeber der Hebräischen Enzyklopädie, urteilte: „Das ist Völkermord!“ (38).