Das Außenseiter-Profil
Wer gegen den Strom schwimmt, gilt in einer Gesellschaft nicht selten als „Idiot“ — vielfach besteht darin aber die einzige Möglichkeit, Mensch zu bleiben.
Nicht wer tötet, steht in autoritären und destruktiven Regimen unter Rechtfertigungsdruck — vielmehr derjenige, der sich dem Töten verweigert. In Israel zum Beispiel ist es extrem schwierig, sich dem Militär zu entziehen. Robert Scheer nimmt seinen eigenen Versuch, aus der israelischen Armee entlassen zu werden, zum Anlass, das gerade heute brandaktuelle Thema des Außenseiters, der zum „Idioten“ wird, erzählerisch zu beleuchten. Auch der Konformitätszwang, so weiß er, wurde nicht mit Corona erfunden.
Im Jahr 1992 gingen alle in die Armee und blieben dort: die Jungs drei, die Mädels zwei Jahre.
Es gab wenige, die nicht in die Armee gingen, aber die wurden fast wie Kriminelle behandelt. Sie waren so etwas wie Aussätzige. Man meinte, diejenigen, die in der Armee nicht gedient haben, würden in ihrem zivilen Leben Probleme bekommen. Lebensläufe, in denen stand, dass man der Armee den Rücken gekehrt hatte, waren für viele Arbeitgeber von vorne herein inakzeptabel.
Die Armee war ein Muss. Niemand sollte das Dienen verweigern. Daher machten sich meine Eltern Sorgen wegen meiner Entscheidung, sie machten sich ernsthafte Sorgen um meine Zukunft. Die Armee war die Tür zur Gesellschaft. Und ich wollte nun diese Tür vorzeitig schließen und das Unerhörte tun: dem Wehrdienst Tschüss und auf Nimmerwiedersehen sagen.
Dem Psychologen neigte man, in so einer Situation wie meiner mit dem Selbstmord zu drohen. Man sagte, dass man sich umbringe, wenn man ihn nicht aus der Armee entlasse. Ein fataler Fehler.
Es war bekannt, dass in solchen Fällen die Psychologen sagen, man solle sich dann umbringen. Und weil die Selbstmorddrohung meistens nicht ernst gemeint war, blieben die Jungs weiterhin Soldaten, und das womöglich noch länger als die anderen. Denn diejenigen, die wegen der falschen Androhung eines Selbstmordes in den Knast kamen, mussten diese Zeit nachholen. Wer einen Monat im Knast war, musste nicht nur die allgemein üblichen drei Jahre dienen, sondern drei Jahre und den zusätzlichen Monat noch dazu.
Im Gespräch mit einem Psychologen von Suizid zu reden, kam also nicht in Frage. Da bekäme man höchstens einige Monate Knast, um über den Selbstmord und die Armee nachzudenken. Das bedeutete für die meisten das Ende des Wunsches, aus der Armee entlassen zu werden. Man musste sich mit dem Gedanken anfreunden, dass es doch nicht anders ging. Nur die wenigsten begingen tatsächlich Selbstmord, genau wie die Psychologen vermuteten. Die meisten wurden gezwungen weiterzumachen, und sie machten weiter.
Ich wollte aber nur raus, raus aus der Hölle. Die Frage war nur, wie ich das tun beziehungsweise was ich dem Psychologen sagen sollte.
Die Wahrheit zu sagen, war natürlich ausgeschlossen. Wenn ich ihm gesagt hätte, dass ich kein Soldat sein wollte, weil ich nicht als Soldat tauge und nicht Soldat sein möchte — würde er mich sofort in den Knast schicken. Und der Knast war zum Greifen nah, weil ich mich bereits Befehlen verweigert hatte.
Zwei Wochen hatte ich schon verordnet bekommen. Würde ich auf irgendeine Weise in der Armee bleiben müssen, müsste ich aufs Erste für diese zwei Wochen in den Knast. Die Situation war also heikel. Etwas musste getan und gesagt werden, aber sicherlich nichts über Selbsttötung.
Man musste kreativ sein, um aus der Armee entlassen zu werden. Die Maschinerie der uniformierten Psychologen war auf keinen Fall blöd. Ihr Auftrag war, alle bei der Armee zu halten. In Israel war ja jeder Bürger Soldat und so musste es auch bleiben. Niemand hatte das Anrecht, kein Soldat zu sein.
Es war Pflicht, ein Soldat zu sein, und kaum jemand stellte diese Gegebenheit in Frage. Das war normal so. Und es ist mehr oder weniger auch heute noch so. Früher war die Armee, im Vergleich zu heute, vielleicht noch stärker ein Ideal. Der blinde, idealisierte Glaube erlaubte keine Ausnahmen. Auch wenn es einige solcher Ausnahmen immer gegeben hatte, denn nicht alle können ja Soldaten sein. Diese Ausnahmen waren damals viel stärker als heute stigmatisiert und wurden als Abweichung von der Norm betrachtet. So wurde man zum Außenseiter. Viele soziale Kontakte wurden in der Armee geknüpft. Wer nicht dort war, war von diesen „Freundschaften fürs ganze Leben“ ausgeschlossen. Wenn man „Israel“ sagte, sagte man gleichzeitig „Armee“.
Eines sonnigen Tages war es so weit. Mutter und ich warteten in einem Saal, bis wir zu dem Psychologen gerufen würden. Mir schien es so, als wären wir in eine neue Dimension des Daseins eingetreten. Im Büro des Psychologen wurde es ernst. Der graue Psychiater in der gepflegten Uniform sagte meiner Mutter und mir, wir sollten uns setzen. Dann fragte er mich, warum ich die Armee verlassen möchte.
Ich habe Träume, sagte ich. Was für Träume?, fragte mich der Uniformierte. Da holte ich einen Poster von Ozzy Osbourne aus meiner Tasche, auf dem der Rocksänger in einer seiner Meschugge-Posen blutverschmiert und mit durchgedrehtem Blick abgebildet war und nun Richtung Psychologe starrte. Ich und Ozzy Osbourne sahen den Psychologen so an, als wären wir die Normalen und er derjenige, der dringend Hilfe brauchte.
Ich habe Träume mit ihm, sagte ich und zeigte wieder auf das Poster. Deswegen muss ich aus der Armee, fügte ich hinzu. Ich habe Träume … ich habe Träume …
Meine liebe Mutter, die beste Mutter von allen weinte. Sie konnte mit dem Weinen nicht aufhören. Ihre Tränen rannen wie ein Wasserfall über ihre nassen Wangen. Wir hatten den Plot besprochen, aber sie konnte nicht anders als weinen.
Der Psychiater hatte mich aus der Armee entlassen, nicht bevor er mit meiner Mutter die Konsequenzen einer solchen Entscheidung in aller Länge und Breite erörterte. Er sagte, die Armee sei wichtig, bei der Jobsuche könnte der Sohn Probleme haben. Der Uniformierte betrachtete es als seine Pflicht, meine Mutter — die nun noch mehr weinte — zu informieren. Ozzy Osbourne war eine gute Hilfe und sorgte dafür, dass auch meine zweiwöchige Haft gestrichen wurde, zu der ich wegen Befehlsweigerung verurteilt war. Es hatte keinen Sinn mehr, jemanden, der nicht in der Armee blieb, noch in den Knast zu schicken.
Ende gut, alles gut. Die Armee hatte mich offiziell für dienstuntauglich erklärt. Damit meinten sie nichts anderes, als dass ich verrückt sei. Sie hatten mir das sogenannte Profil 21 erteilt, das Schreckprofil aller normalen Menschen in Israel. Die Profile fangen mit 100 an. Allerdings haben nur die wenigsten dieses Profil, denn wegen der Beschneidung werden den meisten Männern in Israel 3 Punkte abgezogen. Profil 97 gilt als das beste Profil. Das bedeutet, dass der Soldat körperlich am besten dasteht und für eine Kampfeinheit tauglich ist.
Das hätte auch mein Schicksal sein können, denn ich hatte Profil 97. Ich hätte Profil 100 haben können, wenn meine Eltern mich und meinen Bruder im Sommer 1984 in unserer Geburtsstadt Carei nicht beschnitten hätten. Natürlich waren es nicht meine Eltern, die die Beschneidung tätigten, sondern ein Arzt und Freund der Familie namens Dr. Gyerkes. Meine Eltern wollten, dass wir in Israel genauso beschnitten sein sollten wie die anderen. Die Beschneidungen, meine und die meines Bruders, waren übrigens ein großer Erfolg. Es tat eine Weile da unten verdammt weh, aber so ist es manchmal im Leben: no pain, no gain.
Dieser Eingriff minderte mein Profil von 100 auf 97. Aber in Israel würde ein Hundertprozentiger wohl schief beäugt. Die israelische Armee bevorzugt Soldaten mit Profil 97 und nicht mit Profil 100. Die Profile liegen also in der Skala von 97 bis 21. Profil 21 gilt als das Profil der Verrückten, der Asozialen, der Außenseiter. Es ist kein Profil, mit dem man prahlen kann, jedenfalls nicht in Israel. Ganz im Gegenteil, in Israel gilt dieses Profil bis heute als eine große Schande.
Manchmal frage ich mich, wer nun verrückter ist, die Armee oder ich. 97 oder 21? Und nur selten gelingt mir eine eindeutige Antwort. Vielleicht sollte man doch Ozzy Osbourne diese Frage stellen.
Herr Osbourne, sagen Sie mal, 97 oder 21?