Das andere Leben
Michel Jacobi wanderte vor mehr als zehn Jahren in die Ukraine aus, um dort ein Aussteigerleben zu führen. Ein Interview.
Nach Abschluss des Forstwissenschaftsstudiums wanderte Michel Jacobi im Alter von 26 Jahren in die Westukraine aus. Dort begann für ihn ein Leben voller Herausforderungen und Schwierigkeiten, die dazu führten, dass er heute mit großen Nutztieren zum Teil im Wald lebt, die ukrainischen Wasserbüffel vor dem vorübergehenden Aussterben rettete und zu wichtigen Erkenntnissen für sein Leben und unsere Gesellschaft kam. Elisa Gratias besuchte den faszinierenden Büffelflüsterer im Sommer 2019 in Transkarpatien, um ihn für den Rubikon zu interviewen.
Elisa Gratias: Ich habe dich bei NuoViso in dem Interview „Der Büffelflüsterer“ gesehen und sofort beschlossen, dich in deinem derzeitigen Zuhause, der Region Transkarpatien in der Westukraine, zu besuchen. Nun sitzen wir tatsächlich mitten im Wald, wo du zurzeit mit deiner Freundin Rike, den von dir gezüchteten Büffeln und einem alten ukrainischen Schäfer wohnst. Wie fühlt sich dieses Leben an?
Michel Jacobi: Das Leben in den Waldkarpaten entspricht meinen Fähigkeiten und Bedürfnissen am ehesten, da ich hier meine Potenziale ausschöpfen kann. Deshalb bin ich glücklich und selbstbewusst, aber noch lange nicht zufrieden. Die Aufgaben nehmen jeden Tag in ihrer Anzahl zu und werden anspruchsvoller.
Momentan sitzen wir hier in einem Eichen-Linden-Hutewald, einer englischen Parklandschaft gleichend, den ich dank der Ruthenen mit sehr vielseitigen, bereits äußerst selten gewordenen Nutztierrassen bewirtschaften darf. So kann ich momentan die Früchte meiner Arbeit genießen, von den Tieren lernen und jeden Tag wieder versuchen, diese Kultur zu bewahren. Das macht mich glücklich. Ohne mich allzu sehr verbiegen zu müssen, scheine ich den Menschen hier ein Vorbild zu sein, dabei nutze ich meine Bekanntheit und verbreite meine Ideale von Frieden, Liebe und vom Weg zurück zur Natur.
Dabei bin ich jedoch noch nicht so erfolgreich und stoße an meine Grenzen, gehe über diese hinaus und werde dann von meiner Umwelt, den Tieren oder den Menschen eines Besseren belehrt. Somit wird meine Naivität und kindliche Vorstellung vom idealen Leben durch die Bedingungen vor Ort geschliffen. Dabei lerne ich aus meinen Fehlern und liebe Herausforderungen: Dazu gehören die ökonomischen Interessen der Bevölkerung, die patriarchale, gewaltbereite Männerkultur und die generelle Skepsis gegenüber Fremden.
Nun wende ich mich, wie mein Vorbild Zarathustra, an die Öffentlichkeit, nicht, weil ich dem Leben überdrüssig bin, sondern eher aus den gleichen Motiven wie die Kogi-Indianer in Kolumbien, die erkannt haben, dass kleine Gemeinschaften alleine nicht mehr die Erde heilen können, wenn der Neoliberalismus mit seiner extraktivistischen Ökonomie fortfährt. Traurig macht mich, wenn ich sehe, wie das kleine Volk der Ruthenen, auf die ich mich hier beziehe, verwässert, ja sogar missbraucht und traumatisiert wird. Traditionen geraten in Vergessenheit, werden letztlich durch Geldhandel, Konsum und Benzinmotoren verspottet, das Vieh wird in modernen Schlachthöfen zerlegt und die Ruthenen selbst im Zivilisationsmüll erstickt.
Wenn ich morgens zu meinen Tieren gehe und diese mich auf ihre Weise herzlich begrüßen, macht mich das froh, denn ich kann ihnen alles geben: die Weiden, das Wasser, den Schutz in der Nacht und im Winter.
Doch wenn ich an die Zukunft denke, bekomme ich Angst. Ein traditioneller Betrieb nach dem anderen verlässt seine uralten Wege, die Haltung der Tiere verändert sich, die Rassen selber verblöden, die uralte Symbiose zwischen Tier und Mensch, welche mir so wertvoll erscheint, geht verloren. Ich denke wir müssen neue Wege beschreiten, eine Kombination aus altem Wissen und modernen Erkenntnissen.
In der hiesigen traditionellen Gemeinschaft gibt es leider meist nur einen etablierten und häufig auch nur einen akzeptierten Weg. Daher sind für moderne Menschen Traditionen oft einengend. Ist dadurch das Wissen um die alte Lebensweise mit ihren alten Tierrassen und Sorten erst einmal verloren, ist der Weg zu diesem Leben zurück unglaublich schwierig.
Das klingt etwas desillusioniert. Worin siehst du die Gründe, dass keine Menschen kamen, um hier etwas mit dir aufzubauen? Was hast du nun vor?
Illusionen mache ich mir schon lange nicht mehr. Ich fühle eher eine tiefe Dankbarkeit, denn ich durfte es noch erleben. Von einer Baba habe ich Permakultur gelernt und erfahren, was einem liebende Tiere und ein intakter Bauernwald geben können. Meine Ausbildung in den Transkarpaten habe ich lediglich durch mein demütiges Verhalten und durch mein großzügiges, privilegiertes Elternhaus erfahren können. Das lässt mich nun zu einem Fürsprecher des bedingungslosen Grundeinkommens werden, auch wenn es den Zusammenbruch sämtlicher prekärer Beschäftigungsverhältnisse bedeuten würde.
Ja, ich habe am Anfang wirklich geglaubt, eine Kommune wie die Longo Maï gründen zu können. Einmal hatte ich sogar ein ganzes Tal mit etwa 300 leer stehenden Häusern zur Verfügung, doch die meiste Zeit hauste ich unter wenig romantischen Umständen, geprägt von Arbeit, mangelnder Privatsphäre, fettigem Essen und umgeben von extremen Formen des Alkoholismus. Und ganz ehrlich, wer denkt schon beim Thema Auswandern gleich an die Ukraine. Meine Gesinnungsgenossen und die Gründerväter meiner Initiative zum Erhalt seltener Haustierrassen leben nun auf den Seyschellen, in Costa Rica, Peru, Portugal, Südfrankreich, Österreich, Berlin oder in Brandenburg.
Im Prinzip habe ich hier eine Gemeinschaft gefunden, die ich mir durch das Lernen des lokalen Dialekts erschlossen habe: Es sind die Hirten und Selbstversorger der Karpaten, die Ruthenen. Wenn mich die Sehnsucht nach meiner ursprünglichen Kultur lockt, gehe ich die Anarchisten der Longo Maï im Nachbardorf besuchen.
Meinen Fokus habe ich immer überwiegend auf die Tiere gelegt und versucht, mit Milchprodukten wirtschaftlich unabhängig zu werden und dabei anscheinend dem Aufbau einer Gemeinschaft nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet. Die Besucher waren zahlreich und haben geholfen, die Projekte über die Jahre zu realisieren. Dabei entdeckte ich mithilfe der Freiwilligen von Workaway und HelpX drei Nutztierrassen wieder, rettete den Karpatenbüffel vor dem vorübergehenden Aussterben und baute einen Absatzmarkt für Büffelmilch auf.
Trotzdem können sich nur die wenigsten vorstellen, unter diesen Bedingungen eine Lebensgemeinschaft zu gründen. Wenn ich an Familiengründung denke, werde auch ich anspruchsvoller. Plötzlich reicht es mir nicht mehr, als autodidaktischer Einsiedler in den Waldkarpaten die Ukrainer zu beeindrucken. Ich beginne, mir Gedanken über ein echtes, nachhaltiges Leben zu machen. Wie können die Umstände möglichst viel Potenzial eines Heranwachsenden entfalten?
Bei dem Gedanken an die Zukunft würde ich gerne mein semi-nomadisches Leben weiter-führen und in einem Tiny House unter anderem zwischen Tamera, Grange Neuve, „Wir bauen Zukunft“, Kesselberg, Auroville und dem Hof Schwalbennest in Pehlitz pendeln, um meinen Kindern eine möglichst große Vielfalt zu bieten und sie dem staatlichen Eingriff möglichst lange zu entziehen. Dabei möchte ich immer bei Tieren sein, den Rat guter Freunde hören, einen geschützten Raum besitzen, Wildpflanzen und Gartengemüse schmausen und Gemeinschaft erleben. Das Problem ist, dass ich mich in einige der Tiere, welche leider durch die Ländergrenzen stark diskriminiert werden, so sehr verliebt habe, dass ich sie kaum mehr zurücklassen könnte. Somit ist meine Reisefreiheit momentan praktisch sehr eingeschränkt.
Die Büffel sind nun vor dem Aussterben gerettet. Was wird mit ihnen geschehen? Fühlt sich das nicht schön für dich an, dieser Erfolg, einen so wichtigen Beitrag geleistet zu haben?
Der Karpatenbüffel ist ein spezieller Schlag des mediterranen Wasserbüffels. Die von mir betreute Population in den ukrainischen Karpaten versammelt die letzten reinrassigen Vertreter der nördlichsten Wasserbüffel weltweit. Der Karpatenbüffel konnte sich seit der Antike an das raue Klima der Berge anpassen und wurde vor allem wegen seiner Stärke, Ausdauer und Gutmütigkeit in der Landwirtschaft als „lebender Traktor“ gehalten. Dabei gibt er den Menschen, die mit ihm leben und ihn wie ein Familienmitglied lieben, jeden Tag bis zu 10 Liter besonders fetthaltiger Milch. Er verteidigt den Hof und die Weiden gegen Eindringlinge, Wölfe und Bären, kann bis zu 25 Mal kalben und überlebt den Winter mit niedrigster Futterqualität.
In einigen Dörfern in der Region Maramuresch gab es früher wegen seiner Vorteile für einfache Selbstversorgergemeinschaften mehr Büffel als Rinder. Nach wie vor ist der Karpatenbüffel kaum erforscht. In Rumänien sind in den vergangenen Jahren die Büffelbestände katastrophal eingebrochen. Hier, in der Westukraine, ist er momentan nur vorübergehend vor dem Aussterben gerettet, denn trotz einer Zunahme der absoluten Zahl der Tiere ist die Anzahl der Büffelhalter weiterhin rückläufig.
Auch wird der Karpatenbüffel in modernen Betrieben auf seine Milchleistung oder die Fähigkeit als robuster Landschaftspfleger beschränkt, was meiner Vorstellung von Diversität und ganzheitlicher Entwicklung nicht gerecht wird. Außerdem gibt es ukraineweit nicht mehr als 300 Wasserbüffel, darunter nur einen geringen Teil reinrassiger Karpatenbüffel. Die gesamte Population ist stark von Inzucht bedroht, und es bedarf weiter internationaler Anstrengung und gemeinsamer Koordination. Ich kann mich erst zufrieden zurücklehnen, sobald die Population aus mehr als 7.000 Tieren besteht, alle Eigenschaften, wie die der überragenden Intelligenz der Tiere, zum Tragen kommen und Menschen wieder beginnen, mit Büffeln zu leben.
Das unmittelbare Aussterben haben wir vorerst gestoppt. Darauf bin ich mächtig stolz. Einige Journalisten, ukrainische Kamerateams und ehemalige Kriegsberichterstatter der Gruppe Babylon13 haben mich bei diesen Anstrengungen jahrelang begleitet und schneiden gerade den Dokumentarfilm „Michel“ im Kinoformat zusammen. Dieser Film wird einige dieser Aussagen belegen.
Was bedeutet ein glückliches Leben für dich?
Zufriedenheit stellt sich bei mir wohl erst dann ein, wenn wir das alte Arkadien wieder errichtet haben und ich als Hirte mit Pan den friedlichen Tierherden zuprosten kann. Glück heißt für mich soviel wie Bewusstsein. Ich möchte mir das bewusst machen, was wirklich war, was ist und was sein könnte. Dabei erwarte ich mir die freie Entfaltung meines vollen Potenzials und den Ausbau meiner Fähigkeiten. Am Ende eines jeden Tages mit einem Lächeln auf den Lippen einzuschlafen und mich morgens auf die kommenden Herausforderungen zu freuen und motiviert aufzuspringen, mit reichen Träumen der Nacht erfüllt, bestätigt mir darüber hinaus, ein glückliches Leben zu führen — sowie echte Erkenntnisse zu haben.
Auch hat ein glückliches Leben für mich viel mit Wahrheitsfindung zu tun. Der Luxus, mich mit den philosophischen Fragen der Welt beschäftigen zu können und mein Leben danach zu gestalten, ist für mich Glück. Konkret heißt das, als Team langfristige ökologische Konzepte zu entwickeln, sprich: Utopie zu leben.
Unglücklich und ärgerlich hingegen werde ich, wenn ich Fehler häufig wiederhole oder wenn ich ungerecht bin. Erfüllung gibt mir die bewusste Arbeit daran, eine Kooperation zwischen Natur und Kultur zu entwickeln. Interessant finde ich auch das Konzept der mythologischen Heldenreise nach Campbell, welches mir dabei hilft, Bewusstheit über meinen Standpunkt und meinen Werdegang zu erlangen. So entsteht in mir nach den vielen Abenteuern langsam Ruhe, eine mir bis dahin unbekannte Gelassenheit.
Orgiastisch sein zu dürfen, macht mich auch glücklich — sowie Ekstase pulsieren zu lassen, Freiheit zu fühlen, eine Wahl zu haben, Lesen zu können, mich bilden zu dürfen, zu reiten, Einfluss zu haben, einen gesicherten Zugang zu gutem Trinkwasser zu genießen, frische Luft zu atmen, inmitten von Bäumen und Tieren zu leben, transzendierte Zustände zu erleben, Gemeinsamkeiten zu erkennen, Synergien zu spüren, Gott und Göttin zu erfahren, Schönheit zu sehen, besonderen Menschen zu begegnen, Erkenntnisse zu teilen.
Mir wird der soziale Aspekt im Leben immer wichtiger. Ich habe ein Bedürfnis nach echten Begegnungen und tiefen Freundschaften. Ich möchte mich hingeben dürfen. Ich möchte schenken. Das macht mich glücklich.
Im Allgemeinen denke ich, dass ein glückliches Leben einer Grundsicherheit bedarf: das Urvertrauen zu besitzen, scheitern zu dürfen, den ersten Schritt in die Freiheit zu wagen, mutig zu sein, sich fallen zu lassen, die innere Kraft, wieder aufzustehen und bereit zu sein, wieder zu scheitern, Verbundenheit mit Menschen zu erleben, Vertrauen zu haben, obwohl es vielleicht keinen offensichtlichen Grund dafür gibt, die positiven Lektionen aus diesen Erfahrungen zu schöpfen und es zu wagen, einen weiteren Schritt zu gehen.
Was hast du durch deine Auswandererfahrung in die Ukraine gelernt?
Was sich in mir manifestiert hat, ist ein Vertrauen in meine Fähigkeiten wie die, von meiner Arbeit leben zu können. Dies ist ein sehr tiefes Gefühl der Richtigkeit des einfachen Lebens. Durch die Konfrontation mit existenziellen Fragen, die mein Leben, das Überleben meiner Tiere und das Fortbestehen einer mitteleuropäischen Kulturgemeinschaft ganz unmittelbar betreffen und durch die vielen positiven Antworten, die ich gefunden habe, welche teils Existenz verlängernd waren, habe ich Selbstvertrauen bekommen.
Herman Hesse spricht von Eigensinn. Ich weiß nun, was das richtige, das gute Leben bedeutet und dass wir gut sein können, sprich, ich habe das Paradies gesehen. Das hört sich nach Spiritualität an, doch ich habe mich von Anfang an auf die praktische Philosophie eingelassen. Ich habe gelernt, andere Wege nicht mehr zu verurteilen. Ich habe eine Welt in unserer Welt erlebt, die mir nur durch Zuhören, Demut und Geduld zugänglich wurde. Durch die Literatur und das tiefere Verständnis meiner Brüder und Schwestern im Geiste habe ich universelle Gesetze dann im praktischen Leben in den Waldkarpaten umsetzen dürfen, wie das Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit, mit neugierigen Helfern und Freunden. Dabei manifestiert sich in mir mehr und mehr die Welt der Mystik und des Okkulten — eine lebenslange Reise.
Meine wichtigsten Erkenntnisse haben mit Dualität zu tun, mit dem Auflösen von Schwarz und Weiß und dem Erkennen der vielen Schattierungen dazwischen. Ich weiß nun, dass die Kraft aus der Synergie von Dunklem und Hellem kommt und im liebenden Geist maßvoll genutzt werden kann, um Gutes zu schaffen. Die maßlosen, patriarchalen, materiellen Strukturen können nur temporär existieren, weil ihr Ausleben destruktiv ist. Meine Aufgabe ist also nicht ein Verhindern, sondern ein Ausgleichen. Das Verständnis um die Beschaffenheit mächtiger Strukturen befähigt mich immer mehr, den Ausgleich der Kräfte zu erwirken. Es geht nicht um Konfrontation, sondern Vereinigung.
Wünsche und Träume sind real zu manifestierende Energiepotenziale, welche von realen Energien gebremst werden, jedoch nicht von der Wirklichkeit limitiert sein müssen. Es geht um das richtige Leben.
Jeder weiß eigentlich, was richtig ist, den meisten scheint nur das Selbstvertrauen zu fehlen oder sie haben Angst vor negativen Konsequenzen.
Ich kenne mich und meine Fähigkeiten nun immer besser und habe keine Angst vor einer unbekannten, unberechenbaren Welt, die über mich hereinfällt. So liebe ich es, kleine Rinderrassen zu erhalten, mobile Tiny-House-Konzepte zu beleben und Downshifting statt Vollgas zu betreiben und mich um meine Büffel zu kümmern.
Sprichst du mit den Menschen hier über Politik? Wie sehen sie den Krieg im Osten des Landes?
Seit ich denken kann, spreche ich mit allen über Politik, die Lust dazu haben. Angefangen hat es mit meinem Vater. Wir haben anfangs viel über Uwe Barschel geredet. Diesen kannte er persönlich, und ich habe sehr früh gemerkt, dass es vielen einflussreichen Leuten in Schleswig-Holstein unangenehm ist, über dieses Thema zu reden. Da die folgenden Affären in diesem Rahmen nicht abreißen wollen, bin auch ich interessiert an diesem Thema geblieben.
So ähnlich habe ich die Ereignisse hier erlebt. Nur formuliere ich meine eigenen Theorien zu den politischen Themen jetzt nicht mehr so frei wie noch bis 2014. Die Stimmung ist gekippt, und wir haben es dank der heftigen Traumatisierung der gesamten Bevölkerung mit emotional sehr bewegten, oft persönlich betroffenen gewaltbereiten Menschen zu tun.
Nichtsdestotrotz gibt es eine wachsende links interessierte junge Generation, die durch Auslandsaufenthalte auch andere Sichtweisen erfahren hat. Am spannendsten aber sind für mich diejenigen, die über Jahre aktiv an Kriegshandlungen teilgenommen haben. Diese kriegserfahrenen Menschen scheinen eine geläuterte Sichtweise der Gesamtlage zu bekommen.
Problematisch für mich als Deutscher ist sicherlich der übertriebene Nationalstolz, welcher auf tönernen Füßen steht, verbissen verteidigt und aufgeblasen werden muss, um seine Existenz zu bewahren. Jedoch akzeptieren die meisten die Knute der NATO, der EU und des IWFs um den Preis der Loslösung von östlichen Abhängigkeiten. Der Krieg scheint voller Faszination für junge Menschen zu sein und trägt einen Schleier des dunklen Grauens, der erst in Jahrzehnten aufgearbeitet werden wird. Solange diverse Tabus existieren und nur ein bestimmtes Wording toleriert ist, werden die Machteliten diesen Krieg uneingeschränkt instrumentalisieren können.
Ich persönlich empfinde diese Region als etwas deprimierend. Sie wirkt auf mich wie die DDR, nur mit Internet und Plastik- sowie Elektromüll überall. Vielleicht liegt es auch am regnerischen Wetter, das alles schlammig macht und mich davon abhält, in den Wäldern wandern zu gehen. Hat dich diese Gegend nie deprimiert? Wie ist das Lebensgefühl der Menschen hier?
Emil Kustoritza hat in dem Film „Schwarze Katze, weißer Kater“ die Situation der zusammenbrechenden ehemaligen Sowjet-Satelliten-Staaten am besten beschrieben. Wenn man sich in so einem Film als Betroffener wiederfindet, ist das sicherlich nicht so komisch. Allerdings ist eine Grundvoraussetzung, um überhaupt etwas auf der Welt bewirken zu können, in der Lage zu sein, die Realität auszuhalten, wie Rainer Mausfeld richtig bemerkte. Außerdem gibt es einen Unterschied zwischen eigener Realität und objektiver Wirklichkeit. Mein Bewusstsein dafür zu schärfen, hilft mir in fast jeder Situation, die nicht unmittelbar gesundheitsgefährdend ist, klar zu kommen.
Jetzt, da die meisten meiner Tiere ein sicheres Zuhause gefunden haben, schaffe ich es immer öfter, weniger emotional betroffen zu reagieren und anstehende Probleme mit einer gewissen Leichtigkeit zu managen. Auch habe ich gelernt, mich weniger schuldig beziehungsweise verantwortlich für die extremen Umweltprobleme zu fühlen, welche dieses Land aufgrund kultureller und gesellschaftlicher Missverständnisse hat. Aus der Vogelperspektive betrachtet sind weite Teile der Umgebung sogar noch immer geschlossene Naturwälder, hier existieren die größten zusammenhängenden Streuobstwiesengebiete und Buchenurwälder Europas.
Das Schöne ist, dass ich mich fast jeden Tag auf meinen Huzule-Hengst setzen kann, im 20-Kilometer-Galopp durch Eichenwälder heize und am Abend mit Anarchisten oder echten Schäfern die existenziellen Fragen des Lebens diskutiere. Dieses Land befindet sich in einer Aufbruchsstimmung, es befreit sich aus der „Idiotie“ des Landlebens und stürmt in die Falle der neoliberalen Konsumgesellschaft. Gleichzeitig strömt enorm viel Kapital in die Region, welches diesen Prozess befeuert. So sind die jungen Menschen alles andere als deprimiert, wobei ich Zeitzeuge des Zerfalls einer uralten Hirtenkultur werde und sehe, wie eine Subsistenz-Agrarnation in den Dienstleistungssektor abwandert.
So ist dieses Land weder deprimierend noch besonders lustig. Es fasziniert mich, verstärkt durch mein Verstehen des lokalen Dialektes, dass auf allen Ebenen enorme Vielfalt und Möglichkeiten existieren, doch erahne ich die traurige Entwicklung der nächsten Jahre.
Würdest du aus heutiger Sicht alles noch einmal so machen? Wieder in die Ukraine auswandern und dich einem Leben mit Großtieren in der Natur widmen?
Wäre ich nicht in die Ukraine gegangen, würde es dort heute keine Wasserbüffel mehr geben. Die Arbeit mit den Tieren bereitet mir enorm viel Freude und schafft es, alles Leid der vergangenen Jahre zu kompensieren. Gerade bin ich dabei, ein kleines Tiny-House-Dorf zu gründen, und stehe dabei mit verschiedenen Akteuren im Austausch. Sie wollen alle eine Utopie bauen, scheitern aber an unterschiedlichen Problemen.
Dass ich bisher noch keinen Erfolg hatte, eine Kommune zu errichten, liegt unter anderem an meiner finanziellen Ausstattung, anderweitigen Prioritäten, zum Beispiel dem bisherigen Fokus auf die Lebenserhaltungsmaßnahmen der Wasserbüffel und der Infrastruktur meiner Farm. Aber auch die Erwartungen sowie die Voraussetzungen, welche die Interessenten mitbringen, haben bisher noch nicht mit meinen zusammengepasst.
Wenn ich überlege, wo ich gerne ein neues Gesellschaftsmodell für Mitteleuropäer gründen möchte, fällt mir kein besserer Ort ein. Oft überlege ich, ob Abchasien im Kaukasus, wo Manfred Petritsch alias Freeman lebt, besser geeignet wäre, doch ist der Menschenschlag dort sicher noch eine Nummer härter. So bleibe ich weich, empathisch und hier im Zentrum Europas, gut erreichbar für Freunde und Familie.
Welche Erkenntnis würdest du den Menschen in Deutschland nach dieser Erfahrung in einem so anderen und vor allem ärmeren Land mit auf den Weg geben, wenn sie dich danach fragen würden?
Ich möchte den Menschen aus meiner Heimat die Möglichkeit bieten, von meinen Netzwerken in Transkarpatien zu profitieren. Die aktuell frei werdenden Almendflächen dieser alten Hirtenkultur bieten den Utopisten unter uns die Chance, den Investoren und Landgrabbern zuvorzukommen und im Einvernehmen mit der Bevölkerung eine moderne Form der alten Bewirtschaftung fortzusetzen. Sicherlich gibt es auch in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern schöne Initiativen wie in Bad Belzig und „Wir bauen Zukunft“, doch die Freiheiten sind hier noch einmal ganz anders dimensioniert.
Jede an Permakultur interessierte Initiative scheitert in der Bundesrepublik an der Tierhaltung. Die Kuh ist in der ältesten Kultur der Erde nicht deshalb ein heiliges Tier, weil die Menschen dort dem Götzentum verfallen sind, sondern weil sie die Basis des unabhängigen Selbstversorgerlebens und der Selbstbestimmung bildet. Es geht nicht um die Milch, sondern es geht darum, aus Cellulose und Chlorophyll Dünger für unser Gemüse zu produzieren.
Jeder Gedanke an Nachhaltigkeit oder an einen ganzheitlichen Ansatz muss den Wiederkäuer involvieren, denn unsere Ökosysteme sind auf diese Megaherbivoren angewiesen, so wie wir Menschen auch. Es ist schlau und toll in Deutschland Veganer zu sein, denn die Tierhaltung wurde pervertiert, trotzdem sollten wir objektiv bleiben und dürfen extensive Weidesysteme mit symbiotischen Interaktionen zwischen Tier und Mensch nicht wegen traumatischer persönlicher Erfahrung verdammen.
Gerade die Haltung kleiner Wasserbüffelherden oder von Ziegen und Bergrindern kann äußerst bequem und mit vielen Synergie-Effekten gekrönt sein. Wenn wir das verstanden haben, sollte sich jeder einmal fragen, was es in der jeweiligen Umgebung bräuchte, um diese Symbiose leben zu können. In Deutschland wird man dann sehr schnell auf erhebliche Widerstände stoßen, die hier noch nicht so existieren. Diejenigen unter euch, die das verstanden haben, sind herzlich willkommen, sich mir und meiner Freundin anzuschließen.
Was ist dein größter Wunsch für dein Leben und für die Menschheit im Allgemeinen — oder vielleicht zumindest in Europa und der Ukraine?
Mein größter Wunsch ist natürlich eine Renaissance der Aufklärung und die Realisierung Kants „Zum ewigen Frieden“ in Europa. Nach meinem Verständnis führt dies zur Abschaffung der Atomwaffen, der einseitigen Abrüstung, der Etablierung einer Diplomatie nach Recht und Vernunft und zur Entmachtung des Kapitals. Die Fähigsten und Intelligentesten würden die wichtigsten Entscheidungen zum Wohle aller treffen und kleine Gemeinschaften hätten maximale Autonomie.
Wir würden die Wüsten wieder begrünen, matriarchale Strukturen fördern und uns mit allen Tieren und Pflanzen verschwestern. Konkret würden die Vorlesungen von Bernd Senf viel besucht sein, Eugen Drewermann würde zum Heiligen erklärt werden, Frank Stoner würde eine Mainstream Sendung betreiben, KenFM wäre ein öffentlich-rechtlicher Sender und der Jugendstil würde den Bauhausstil ersetzten.
Dazu müsste es umfangreiche Dezentralisierungsmaßnahmen geben, Gemeinden und Sippen müssten den Status von autarken Teilrepubliken mit eigenem Währungssystem erhalten und Nürnberger Prozesse würden in Den Haag für universelle Gerechtigkeit sorgen. Anarchie würde funktionieren, weil marodierende Banden von wehrfähigen Selbstverteidigungseinheiten mit Nichtkampfprinzipien in ihre Schranken verwiesen werden würden, und ich würde in einer nomadischen Sippe durch Saharasien ziehen.
Michel Jacobi, Jahrgang 1982, diplomierter Forst- und Umweltwissenschaftler, arbeitet seit 2008 an dem Erhalt kleinbäuerlicher Strukturen in Transkarpatien und ist maßgeblich an den Auswilderungsprojekten im Donaudelta beteiligt. Er wirbt öffentlich für dezentrale, autarke Selbstversorgergemeinschaften. Im Sommer erscheint ein internationaler Kinofilm mit Namen „Michel“, er schreibt auf der Seite www.karpaten-bueffel.eu zusammen mit Rike de Vries.
Michel auf Pauliko, den er selbst aufgezogen hat. Bildrechte: Elisa Gratias.
Michel und Rike machen Feuer für einen Tee. Bildrechte: Elisa Gratias.
Dorfleben in Transkarpatien. Bildrechte: Elisa Gratias.
Ernüchterung. Überschwemmung und Plastikmüll im Wald. Bildrechte: Elisa Gratias.
Elisa und sattes Grün so weit die Augen reichen. Eine Wohltat im Vergleich zu den Ernüchterungen in Ortschaften und Plastikmüll in Gewässern und am Straßenrand. Bildrechte: Elisa Gratias.
Jens Lehrich: „Nur Mut! Wenn wir uns ändern, verändert das die Welt!“
Hier können Sie das Buch bestellen: als Taschenbuch oder E-Book.
Stimmen zum Buch:
„Ich möchte allen Menschen raten, mutig zu sein, und sich nicht durch Angst erdrücken zu lassen. Wer mutig ist kann freudig und gewaltlos seinen Weg gehen. Das ist bestimmt nicht immer einfach. Aber Mut öffnet Türen, die sonst verschlossen bleiben. Die in diesem Buch abgedruckten Texte zeigen, wie wichtig Mut im 21. Jahrhundert ist.“
Dr. Daniele Ganser, Friedensforscher
„Das ist ein ganz besonders Buch, denn mit jedem seiner vielfältigen Beiträge werden Sie eingeladen, ermutigt und inspiriert, sich mit all jenen zu verbinden, die künftig nicht mehr gegeneinander, sondern miteinander leben wollen.“
Dr. Gerald Hüther, Sachbuchautor und Vorstand der Akademie für Potentialentfaltung
„In einer Zeit, in der regressive Kräfte sehr von den Verunsicherungen in unserer Gesellschaft profitieren, brauchen wir Mutmacher mit einem langen Atem. Menschen, die uns mit Fakten und Bildern speisen, die uns an unser eigenes Potential für Veränderung und Glück erinnern. Danke Rubikon! Für dieses Buch und für eure gesamte Arbeit.“
Veit Lindau, Autor und Bewusstseinsforscher
„Dieses einzigartige Buch macht großen Mut zur Veränderung. Es verwandelt Verzweiflung in Hoffnung, Wut in Liebe und ist ein kraftgebender Kompass durch schwere Zeiten. Für mich eines der wertvollsten Bücher der letzten Jahre.“
Jens Lehrich, Autor und Comedian
„‚Nur Mut!‘ ist ein Buch, das den Leser dazu auffordert, sich selbst zu ermächtigen. Wer sich im aufrechten Gang den Problemen dieses Planeten entgegenstellt, macht sich zwar angreifbar, kann von sich aber behaupten, in der Stunde der Bewährung seine eigene Angst besiegt zu haben. Ohne solche Menschen hat unsere Spezies keine Zukunft. Die Belohnung für gelebten Mut ist ein Leben, in dem die Angst nur noch eine untergeordnete Rolle spielt.“
Ken Jebsen, investigativer Journalist
„Nur, wenn wir uns selbst und unsere Gefühle erkennen, wenn wir unser Unbewusstes bewusst machen und aus dem kollektiven Stockholm-Syndrom, auf das man uns von Kindertagen an festgelegt und zu dem man uns erzogen hat, aussteigen, können wir wirkliche Liebe, vor allem aber unsere tägliche Unterdrückung erkennen. Dann können wir aus dem inneren wie äußeren Gefängnis aussteigen und unser eigenes Leben leben, in dem wir zu fühlen beginnen, was gut und ungut, was richtig und gelogen, was Liebe und was Ausbeutung und Unterdrückung ist. Wider den Gehorsam! Die Wahrheit schlummert in jedem von uns.“
Jens Wernicke, Autor und Publizist