Das achte Weltwunder

Der libysche Great-Man-Made-River könnte die Trinkwasserversorgung der Region auf Dauer sichern — nun weckt er die Begehrlichkeiten westlicher Konzerne.

„Wasser statt Waffen“ — unter dieses Motto stellte Muammar al-Gaddafi das größte Wasserbau-Ingenieurwerk der Welt, das der libyschen Bevölkerung die Versorgungssicherheit mit dem wichtigsten aller Lebensmittel garantieren soll. Beschädigt durch NATO-Bomben im Jahr 2011 wird der künstliche Fluss bis heute von Milizen bedroht, und auch seine Instandhaltung ist gefährdet. Ein Text zum #Wasserspezial.

Libyen — der wasserreiche Wüstenstaat

Libyen ist ein an Ressourcen zweifach gesegnetes Land, denn sein größter Reichtum ist nicht, wie viele denken, das Erdöl, sondern es ist das Wasser. Jenes lebensnotwendige Element, das auf unserem Planeten immer knapper wird und um das deshalb, wie Harald Welzer in seinem Buch über Klimakriege befürchtet, die erbarmungslosesten Kriege des 21. Jahrhunderts geführt werden könnten (1).

Karte des Great-Man-Made-River


Die Bedeutung von riesigen unterirdischen Süßwasserreservoirs und deren Nutzbarmachung ist in einem Land, das zu 95 Prozent aus Wüste besteht, nicht hoch genug einzuschätzen. Die Flussläufe, „Wadis“ genannt, füllen sich meist nur einmal im Jahr zur Regenzeit mit Wasser, kein einziger natürlicher Fluss führt das ganze Jahr Wasser. Im Süden Libyens regnet es in manchen Gebieten gerade einmal alle 25 Jahre, wobei die Feuchtigkeit oft noch in der Luft verdunstet. An der Mittelmeerküste mit mediterranem Klima ist zwar in den Wintermonaten mit Regen zu rechnen, doch durch Einsickern des Meerwassers hat das Grundwasser einen relativ hohen Salzgehalt und senkt so die Trinkwasserqualität.

Die Entdeckung der Wasservorkommen

Auf der Suche nach Öl stieß man 1953 in der Sahara unvermutet auf einen riesigen Speicher von fossilem Wasser, den sogenannten „Aquifer“. Dieser Wasserspeicher aus der letzten Feuchtperiode, als es in der Sahara noch grünte und blühte, ist bis zu 2.000 Meter tief.

Das mineralarme fossile Wasser ist zwischen 14.000 und 38.000 Jahre alt und gilt als das größte unterirdische Frischwasservorkommen der Erde. Wichtige Lagerstätten des fossilen Nasses sind die vier großen Becken von Kufra, Sarir, Tazerba und Mursuk (Dschebel Hasuna), wo das Wasser in nubischem Sandstein gespeichert ist. Nach Berechnungen des UN-Zentrums für Umwelt und Entwicklung für die arabische Region und Europa (Cedare) in Kairo reichen die Vorräte des Aquifers bei den jetzigen Entnahmeraten noch 4.860 Jahre (2).

Der Fund großer Mengen Süßwasser in der Wüste kam in den 1950er Jahren einem Wunder gleich. Um dieses Wasser nutzbar zu machen, musste ein Plan erdacht werden, wie das Nass zu fördern und an die Küste zu transportieren sei, wo der Großteil der libyschen Bevölkerung lebt. Die libysche Dschamahirija-Regierung gründete in der Ära des Revolutionsführers Muammar al-Gaddafi 1983 die Great Man-Made River Authority, um das Projekt zu entwickeln und zu verwalten.

Es entstand der Plan für eine riesige Wasserpumpanlage in der Gegend der saharischen Kufra-Oase im Südosten des Landes, von wo das Süßwasser durch Röhren mittels eines gigantischen Wasserleitungssystems an die Küste gepumpt werden sollte, um die dort in den Städten lebende Bevölkerung mit Frischwasser zu versorgen beziehungsweise zur Bewässerung in der Landwirtschaft nutzbar zu machen.

Ursprünglich war vorgesehen, die Wüste im Bereich der Wasserförderanlagen im großen Stil als landwirtschaftliche Anbaufläche zu nutzen. Jedoch haben sich die Projekte bei Kufra und Sarir aufgrund der starken Wasserverdunstung und der hohen Kosten nicht als sinnvoll erwiesen, und so wurde die Entscheidung gefällt, das Wasser nicht vor Ort zu verwenden, sondern es an die Küste zu leiten.

Pumpanlagen und Wasserpipelines

1983 vergab Gaddafi die ersten Aufträge an bundesdeutsche Röhrenhersteller und koreanische Baufirmen, doch schon bald gelang es, das gesamte Know-how auf Libyen zu übertragen und die Anlagen in Eigenregie zu übernehmen.

Das an die Oberfläche gepumpte Wasser wird hauptsächlich mithilfe des natürlichen Gefälles, aber auch unter dem Einsatz von Pumpen als großer künstlicher Fluss unterirdisch zur Küste geführt. An der Küste speist das fossile Wasser große, ebenfalls menschengemachte Seen, die durch Verdunstung das Mikroklima verbessern.

1991 wurde der erste Strang der Wasserpipeline eingeweiht. Mit dieser Leitung werden auch heute noch die Städte Adschdabiya und Bengasi im Nordosten sowie Sirte im Zentralnorden versorgt. 1996 folgte die Fertigstellung der Phase 2, die die Hauptstadt Tripolis und 2006 die Stadt Gharian in den Nafusa-Bergen an die fossile Wasserversorgung anschloss. In der Phase 3 wurde auch für die Stadt Tobruk im äußerster Nordosten Libyens die Wasserversorgung durch ein neu erschlossenes Brunnenfeld ermöglicht.

Die Planungen sahen vor, dass ab 2013 mithilfe von insgesamt 1.149 Tiefbrunnen 2,4 Milliarden Kubikmeter fossiles Wasser pro Jahr gefördert werden; davon waren 28 Prozent für die Haushalte und 70 Prozent für die Landwirtschaft vorgesehen. Von den insgesamt fünf Bauphasen des Projekts konnten bis zum Ausbruch des NATO-Kriegs gegen Libyen im Jahr 2011 nur die ersten drei realisiert werden.

Das „Achte Weltwunder“

Dieser große künstliche Fluss, dessen Röhren sieben Meter tief im Saharasand versenkt sind, stellt zweifelhaftlos das bedeutendste Projekt der Gaddafi-Ära dar und wurde nicht nur vom Deutschlandfunk als das „Achte Weltwunder“ bezeichnet (3). Es ist mit 4.000 Kilometern das größte jemals von Menschen erschaffene Röhrensystem der Welt. Die Röhrendurchmesser betragen vier Meter, so dass sogar Lastkraftwagen darin Platz fänden. 2008 fand der Great Man-Made River Eingang ins Guinness-Buch der Rekorde.

Das Wasserprojekt wurde zunächst in den westlichen Ländern verleugnet, lächerlich gemacht oder als gefährlich verunglimpft. Zunächst hieß es, dass es den künstlichen Fluss überhaupt nicht gäbe, dass Gaddafi dort in der Wüste Chemiewaffen produziere oder seine Panzer verstecke.

Dann wurde behauptet, dass dieses Projekt niemals funktionieren könne (3). Später schrieb man, dass die Entnahme des fossilen Wassers aus dem Wüstensand eine Austrocknung der Oasenböden verursache und in nur kurzer Zeit versiegen würde. Diese Befürchtungen haben sich nicht bewahrheitet.

In der Tazerbo-Oase unterliegt der Wasserspiegel einer ständigen Überprüfung. Es konnte kein Abfall des Grundwasserspiegels festgestellt werden, und dies, obwohl die Großstadt Bengasi seit 1991 am Wüstenwasser angeschlossen ist und Tripolis 1996 folgte. Inzwischen bezeugen internationale Experten, dass die Bedeutung des Great Man-Made Rivers für die Entwicklung Libyens nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.

Libyen konnte das Man-Made-River-Großprojekt — sowohl Planung als auch Bau — fast ohne ausländische Unterstützung realisieren und war bis zum NATO-Krieg 2011 weltweit führend in Sachen Wasserbautechnologie. Die Leitstelle für das Management des Projekts Wüstenwasser befindet sich in Bengasi, wo von einem Kontrollraum aus die Funktion der gesamten Anlage überwacht und gesteuert wird.

Libyen stiftete den Internationalen Wasserpreis für herausragende Forschung zur Wassernutzung in Trockengebieten, den die UNO 1999 zum ersten Mal vergab.

Röhren für den Great-Man-Made-River

NATO-Bomben auf den Great Man-Made River — ein Kriegsverbrechen

Umso schockierender war im Juli 2011 die Nachricht, dass dieses wichtigste Infrastrukturprojekt Libyens das Ziel eines NATO-Bombenangriffs war.

Nachdem bereits die Wasserleitung von Brega von Bomben getroffen worden war, bombardierte die NATO am 22. Juli 2011 die nahe gelegene Röhrenfabrik und zerstörte große Teile der Anlage (4). Bei dem Angriff kamen auch sechs Sicherheitskräfte des Werks ums Leben.

Als Vorwand für den Angriff gab die NATO bei einer Pressekonferenz am 26. Juli 2011 an, es hätte sich bei dem Bombenziel um militärische Versorgungseinrichtungen gehandelt, und in einer benachbarten Betonfabrik seien bewaffnete Gaddafi-Kräfte gesichtet worden. Aus Google-Earth-Aufnahmen geht jedoch eindeutig hervor, dass es sich bei den fraglichen Bauwerken um eine Röhrenfabrik und keinesfalls um militärische Einrichtungen handelte. Auf die von Human Rights gestellten Fragen, ob es konkrete Beweise dafür gebe, dass Raketen aus dem Inneren der Röhrenproduktionsanlage abgefeuert wurden und ob das genaue Ziel und der Zeitpunkt der Angriffe innerhalb dieser Anlage benannt werden können, blieb die NATO bis heute Antworten schuldig.

Die Funktionsfähigkeit des Röhrenwerks ist für die Versorgung des ganzen Landes mit Wasser unverzichtbar. Mit dem Bombenangriff auf das Röhrenwerk hat sich die NATO eines Verstoßes gegen das internationale Recht schuldig gemacht, das den Angriff auf Ziele, die der zivilen Infrastruktur und Versorgung der Bevölkerung dienen, als Kriegsverbrechen einstuft. In Paragraph 54 heißt es:

„Das Angreifen, Zerstören, Entfernen oder Abschalten benötigter Objekte, die für das Überleben der Zivilbevölkerung unverzichtbar sind, ist verboten.“

Einen Monat nach dem Angriff auf das Great-Man-Made-River-Projekt war mehr als die Hälfte der libyschen Bevölkerung ohne Fließendwasser.

Wasser für westliche Konzerne?

Inzwischen ist Libyen ein gegen den Willen der Bevölkerung weitgehend in einen West- und einen Ostteil gespaltenes Land, in dem die Abhaltung von Wahlen aus politischem Kalkül immer wieder verschoben wird. Die in Tripolis ansässige und vom Westen und der sogenannten „internationalen Gemeinschaft“ anerkannte Regierung des Premierministers Abdulhamid Dabaiba schloss im Bereich der Erdöl- und Erdgasförderung trotz großer Proteste neue Verträge ab, die ausländische Konsortien stärker als bisher bevorzugen. Und erst im Februar 2024 wurde die Privatisierung wichtiger Infrastrukturprojekte bekanntgegeben, darunter die Schifffahrtsagenturen Schahat und Dscharma, die International Shipping Company, die General Rapid Transport Company, die General Company of Roads and Bridges, das libysche Cateringunternehmen und die Libyan Air Assistance Ground Services Company.

Es steht zu befürchten, dass auch das fossile Süßwasser der Sahara schon längst die Begehrlichkeiten der Privatinvestoren-Krake geweckt hat.

Im Dezember 2020 berichtete Bloomberg, dass der Finanzsektor das lebensnotwendige Gut Wasser offiziell in eine Ware verwandelt hat, und Wasser zum ersten Mal neben Gold und Öl als Rohstoff an der Wall Street gehandelt wird. „Schon seit Jahren bereiten sich Großinvestoren auf das Geschäft mit Wasser vor.“ Sogenannte Marktteilnehmer könnten sogar auf die Verfügbarkeit von Wasser Wetten abschließen.

„Die Wall Street scheint sich der Investitionsmöglichkeiten in den Bereichen Wasserversorgungsinfrastruktur, Abwasseraufbereitung und Bedarfsmanagementtechnologien bewusst zu sein“ (5).

Es ist anzunehmen, dass gierige Großkonzerne bereitstehen, um das libysche Wasser — den wichtigsten Rohstoff der Zukunft — zu privatisieren. Gerade in dieser Weltgegend mit zunehmender Wasserknappheit, in der Länder wie Sudan und Ägypten um das Nilwasser, oder Jordanien und Israel um das Jordanwasser erbittert streiten, werden Libyens Wasserreserven mitsamt seiner Infrastruktur Begehrlichkeiten wecken. Und so ist es sicher keine unbegründete Befürchtung, dass sich zukünftig auf den Etiketten von Plastikflaschen neben der Aufschrift „Great Man-Made River“ auch die Namen von Lebensmittelkonzernen wie Nestlé oder von privaten Wasserwerken wie Veolia finden.

Milizenkämpfe und unzureichende Wartung

Bisher stehen solchen Vorhaben immer noch die unruhige politische Lage und gefährliche Milizen im Wege — in dem Land, das von der NATO in einen Failed State gebombt wurde. So besetzten am 19. Mai 2019 Milizen die Kontrollstation der Wasserversorgung von Tripolis und zwangen die Belegschaft, die Wasserversorgung über den Great Man-Made River in der libyschen Hauptstadt abzuschalten. Erst zwei Tage später wurden die Ventile wieder geöffnet (6). Das Gleiche geschah im April 2020 (7). Es erfolgen bis heute immer wieder Anschläge auf Pumpstationen und Pipelines; und mit der Drohung, die Wasserversorgung zu unterbrechen, versuchen verschiedene Akteure, politische Forderungen durchzusetzen.

Am 7. Februar 2024 gaben die Behörden der USA die höchste Reisewarnstufe für Libyen heraus. Als Grund wurden erhebliche Sicherheitsbedenken und potenziell lebensbedrohliche Gefahren genannt, hervorgerufen durch die anhaltende politische Instabilität, den immer wiederkehrenden Ausbruch von Gewalt und die Aktivitäten von Milizen (8). Einerseits eine Gefahr für das „Achte Weltwunder“, andererseits sein Schutz vor Privatisierung.


Redaktionelle Anmerkung: Der Text erschien unter dem Titel „Ein ‚Achtes Weltwunder‘: Der libysche Great-Man-Made-River“ zuerst auf gela-news.de.


Am 22. März ist Weltwassertag. Es ist wichtig, dass Medien es nicht dabei bewenden lassen, stets nur auf den neuesten Wahnsinn in der Welt zu reagieren, sondern selbst in das Agieren kommen. Deshalb setzen wir zusammen mit einer Reihe von weiteren Medienportalen selbst ein Thema auf die Agenda. Die beteiligten Medienpartner, bei denen in der Woche vom 18. bis 24. März im Rahmen des #Wasserspezial Beiträge zu finden sein werden, sind derzeit:

Manova
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Punkt.Preradovic
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