Dämmerung der Lichtgestalten

Weil Personenkulte und Erzählungen über Erlöser noch immer eine starke Strahlkraft haben, lebt ein Großteil der Menschheit bislang noch nicht in der erstrebenswerten Freiheit, die erst durch Selbstermächtigung erlangt werden kann.

Es wird kein Retter kommen! Das ist die bittere Pille, die jeder früher oder später schlucken muss, der zuvor die irreführenden Hopeium-Pillen verdaut hat. Manch einer hofft auf einen neu gewählten US-Präsidenten, andere auf eine Partei, wiederum andere lauschen stundenlang den immer gleichen Vortragsrednern und stehen Ewigkeiten an, um von dieser Lichtgestalt ein Autogramm zu ergattern. Zahlreiche Menschen können lange Listen mit den Namen von Hoffnungsträgern benennen. Sie selbst reihen sich jedoch eher selten in diese ein. Die Welt retten, das „Licht“ bringen oder das Böse bekämpfen — das dürfen immerzu die Helden machen. Also die anderen. Sich selbst machen viele Menschen kleiner als sie sind, während sie ihre Heldenfiguren zu Größen aufpusten, die diese meist gar nicht sind. Weil das zumeist auch „nur“ Menschen mit ihren Fehlern und Schwächen sind. Wir kommen nun in eine Zeit, da das Gelingen des menschlichen Reifungsprozesses hin zur Selbstermächtigung darüber entscheiden wird, ob wir zukünftig in Freiheit leben oder vollständig unterjocht werden. Diese düstere Aussicht stellt sich so dar, dass uns kurzfristig falsche Lichtgestalten fremdbestimmen werden, langfristig nichtmenschliche Herrscher in Gestalt von Algorithmen und KI. Spätestens dann wird es keine Heldenfiguren mehr geben — weder die, die wir anhimmeln, noch jene, zu denen wir selbst werden können. Folglich gilt es, die Ursachen für den ungebrochenen Personenkult zu verstehen. Warum besteht er unentwegt weiter, obwohl sich mit den Erzählungen über unerfüllte Rettungsversprechen ganze Bibliotheken füllen ließen? Warum besteht hier eine so weit verbreitete Lernresistenz trotz der unzähligen Enttäuschungserfahrungen? Erst wenn wir das verstanden haben, können wir Strategien entwickeln, diese Kulte zu überwinden und uns zu ermächtigen, selbst zu einem dieser angehimmelten Vorbilder zu werden. Die Zeichen stehen gut, denn gerade in diesem Jahr werden immer mehr der schönen Masken vermeintlicher Idole porös, mit denen sie ihr falsches, teils scheußlich-böses Gesicht zu verbergen suchen. Mit jedem weiteren entlarvten Guru bricht Stück um Stück ein neues Zeitalter des freien und emanzipierten Menschen an.

„Von Göttern der Antike bis zu Sekten wie Q /
Der Mensch sucht Heldenfigur’n, /
dann muss er selbst nichts tun.“

(Kollegah)

Boy-Bands haben vielfach erlebt, dass so manche Frau in der ersten Konzertreihe ohnmächtig wurde. Im Zustand der Ohnmacht, also einem Zustand ohne Macht, verliert jeder Mensch die Kontrolle über sich. Dieser Zustand ist also exakt das Gegenteil dessen, was für die Menschheit anzustreben wäre: die Selbstermächtigung. Die Nähe zu ihren Idolen hat etwas mit den Frauen ge-macht, was sie hat machtlos werden lassen.

Bei Männern gibt es selbstverständlich ein Pendant. Häufig zu beobachten ist ein regressives Zurückfallen in das Verhalten von Primaten. Selbst manch gemäßigte und kultivierte Mann neigt in der Gruppe dazu, sich angesichts seines Idols in einen Brüllaffen zu verwandeln — perfekt zu erleben auf Fußballplätzen. Beide Zustände sind nicht für ein Geschlecht spezifisch, sondern können auch beim jeweils anderen der zwei Geschlechter auftreten. Ihnen gemeinsam ist das von-Sinnen-sein.

Vor allem im Mainstream, aber eben auch in den Kreisen, Bubbles und Communitys der kritischen Masse ist derlei fremdüberhöhende und selbstherabsetzende Ehrerbietung zu beobachten. Beispiele ließen sich hier zahlreiche aufführen. In Zeiten der Hyperindividualisierung verehrt jeder seine eigenen Nischenhelden. Auch wenn sich das Heldenspektrum im politisch-gesellschaftlich-ideologischen 360-Grad-Raum erweitert hat, bleibt die Blickrichtung aller Hoffenden und Ehrerbietenden gleich: Sie schauen nach oben.

Helden kommen selten nicht allein

Helden der Popkultur treten meist alleine, allenfalls in einer kleinen Gruppe auf. Tritt ein Held als Einzelner auf, ist häufig von „dem (einen) Auserwählten“ die Rede, von „the chosen one“. Ein Helden-Kollektiv geht dann nicht einmal über ein Dutzend hinaus, wie bei Marvels „Avengers“.

Stets ragen Lichtgestalten aus der Masse der zu tatenlosem Schrei- und Jubelvieh reduzierten Menschen heraus. Sie allein sind es, die letzten Endes das Böse bekämpfen oder die Katastrophe abwenden. Die Masse ist dabei nie involviert, was dem neoliberalen und postheroischen Zeitgeist entspricht.

In diesen Zeiten will jedermann und „jederfrau“ sich selbst bei den schier unendlichen Möglichkeiten verwirklichen. Für die Verwirklichung politischer, weltanschaulicher, klassenkämpferischer oder transzendentaler Ideale zu kämpfen oder um diese zu ringen, sehen viele als nichtig an. Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama hatte bereits im Sommer 1989 in einem Artikel für The National Interest das Ende der Geschichte deklariert und damit galten Revolutionen, umstürzlerische Umtriebe und jede Art von Vorhaben zur Systemüberwindung als out. Das birgt die Gefahr, dass die angestrebte Karriere einen Dämpfer erhält.

Stattdessen wurden Helden auf der Leinwand, in TV-Dokumentationen oder in der Literatur bestaunt. Jeder identifizierte sich gerne mit dem Helden, während es tagsdrauf wieder hieß, zum nine-to-five-Job oder in andere Speichen des Hamsterrads zu gehen. Freilich zeigen manche Blockbuster auch den sich zum Helden mausernden kleinen Mann, mit dem sich männliche Rezipienten leichter identifizieren: „Das könntest auch du sein“, lautet dann die Botschaft. „Du“ aber nicht „ihr“. Auch der kleine Mann ist ein allein handelnder Held. Ein Heldenkollektiv kleiner Männer gibt es wiederum nicht und die Masse fehlt gar ganz.

Outsourcing im Großen wie im Kleinen

Die in der Popkultur zementierte Opposition zwischen einzelnen Helden und der hilflosen Menschenmasse wurde in den letzten Jahren um folgende Gesellschaftsentwicklungen ergänzt: Unzählige Bereiche der alltäglichen Lebensführung wurden im Kleinen wie im Großen an Dienstleister übertragen und damit fehlt die Möglichkeiten, sich im Alltag als Held zu erweisen. Im Smartphone-Zeitalter geschieht dies mit steigender Tendenz nach unten in Richtung Selbstentmächtigung. So wurden viele Alltagsaufgaben an prekär beschäftigte Dienstleister abgetreten.

Lieferdienste sind hierbei das mustergültigste Beispiel. Das Groß- und Erziehen der Kinder wird zumeist an Mitarbeiter der Kitas, die Pflege der Älteren an die „Sterbecenter“ outgesourced. Die Verantwortung für die eigene Gesundheit legen die meisten Menschen in die Hände der Götter in weißen Kitteln. Zur Wahrung der Sicherheitsillusion entstand eine ganze Versicherungsindustrie, die dem verängstigten Subjekt einer Konsumgesellschaft das Gefühl vermittelt, gegen einen kleinen oder großen Obolus den Rest-Wohlstand vor Ungemach schützen zu können.

Und bei all den Herausforderungen, die über den eigenen kleinen Mikrokosmos hinausragen, wird die Hoffnung auf Lichtgestalten und Parteien gelegt, die das „ganze Ding“ dann schaukeln sollen: Die AfD, QAnon, Sahra Wagenknecht, Donald Trump, Elon Musk oder andere Projektionsflächen.

Wie wir Menschen in dem korporatistischen Herrschaftssystem Heldentum verstehen sollen, wurde uns während der Fake-Pandemie in Deutschland mit der staatlichen Kampagne Echte Helden demonstriert: Zuhause bleiben, nichts tun und die Verantwortung für das eigene Leben in staatliche Hände geben. Hier stand der Imperativ der Bundesregierung dem Imperativ von QAnon in nichts nach: „Lehnt euch zurück, genießt die Show und vertraut dem Plan“, lautete die Devise.

Die Umdeutung des Anti-Heldentums zum Heldentum war Teil der diabolischen Umdeutung aller Werte ab 2020. Den Menschen wurde das Gefühl vermittelt, durch Faulenzertum zu Helden aufzusteigen, ohne dabei einen Finger rühren zu müssen. Und wer dann doch einen Finger rührt, dann nur, um auf einer App einen Alarm-Knopf zu betätigten, um Sicherheitskräfte herbeizurufen. So verheißt der Hersteller der App „Safe Now“, dass die Nutzer bei der Beobachtung einer Notsituation innerhalb von sogenannten Safe-Zonen im öffentlichen Raum durch Betätigen des Alarm-Buttons Hilfskräfte herbeiordern und damit zu „silent heros“ werden können. Quasi ein Heldentum, bei dem man sich nicht die Finger oder gar die Hände schmutzig machen muss. In manchen Situationen ist das sicherlich eine hilfreich Option, um sich in einer aussichtslosen Notsituation nicht selbst unnötig zu gefährden. In vielen anderen Situationen wäre hingegen ein unmittelbares und abverlangbares Hand-Anlegen erforderlich. Dabei erscheint in den Situationen, da man diesen Button betätigt, das eigene Gesicht, das Selbstbild in der Smartphone-Displayoberfläche.

Warum wird aus diesem Selbstbild nicht das Vorbild, welches so viele Menschen in anderen Menschen stets bewundern?

Trau‘ keinem Promi! Vorbild-Dysfunktion und Ent-Täuschungen

Der schöne Schein der Stars und Sternchen ist 2024 so eingetrübt wie nie zuvor. Ab 2017, mit der #meToo-Kampagne, begann die allmähliche Entlarvung vieler Vorbilder und angehimmelter Celebrities, die Ruf und Ansehen verloren, während ihr wahres, unschönes Gesicht zum Vorschein kam. Ohne die Hexenjagd gutheißen zu müssen, mit der teils bar von Beweisen Rufmorde an zahlreichen Prominenten begangen wurden, wurde hierdurch auch zu recht und mit handfesten Belegen der Unschuldsstatus vieler Promis schwer angekratzt. Während also einige Red-Carpet-Bekanntheiten sicherlich zu unrecht der sexuellen Belästigung oder gar des Missbrauchs beschuldigt wurden, so wurden doch einige illustre Täter mit gerichtsfesten Beweisen überführt, von denen „man so etwas nie erwartet hätte“, die davor als sakrosankt galten.

Mit dem gigantischen, derzeit brodelnden Meta-Fall Sean Combs (P. Diddy) — der bereits als der neue Jeffrey Epstein gehandelt wird –, findet der Promi-Entlarvungsprozess, der 2016 mit dem militant als „Verschwörungstheorie“ verschrieenen Pizza-Gate begann, seinen vorläufigen Höhepunkt. Auf diesem birgt dieser Skandal eine solche Sprengkraft, dass er es vermag, zahlreiche Stars und Sternchen vom Promi-Himmel herabstürzen zu lassen und mit ihnen die gesamte westliche Popkultur, deren menschliche Abgründe nun aus allen Ritzen zum Vorschein kommen.

Die Anklageschrift gegen P. Diddy liest sich wie ein Dokument aus der Hölle. Dem Rap-Superstar wird unter vielen weiteren Abscheulichkeiten angelastet, auf seinen berüchtigten „Freak-Out-Partys“ über Jahre hinweg Menschen unter Drogen gesetzt und zu meist absolut verabscheuungswürdigen, sexuellen Handlungen gezwungen zu haben. Da jeder Winkel von Diddys Anwesen mit Kameras und Mikrofonen bestückt und sich unter den genötigten Gästen die Crème de la Crème der US-amerikanischen Celebrities befand, war und ist die dabei entstandene Mega-Datenbank an belastbarem Material dazu geeignet, jeden mit Rang und Namen unter Druck zu setzen und für bestimmte Wünsche und Vorhaben gefügig zu machen.

Zum Zeitpunkt dieser Niederschrift ist noch gar nicht absehbar, welche Vorbilder nun in den Bilderrahmen Dorian Grays hineingeraten, wo sich ihre wahre, das heißt scheußliche Fratze offenbart. Schon jetzt sind zahlreiche Promis untergetaucht, die mit dem „Diddler“ in Verbindung stehen, während die Followerzahlen auf Social-Media wie das WTC7 einstürzen. Die Reputationsdetonation in der Welt der Stars ist jetzt schon historisch beispiellos. Viele Menschen werden sich von ihren Vorbildern trennen müssen, sofern sie die Wahrheit nicht verdrängen.

Unter kritischen Menschen hat sich dieser Prozess bereits aus einem anderen Anlass vollzogen. Bei der Fake-Pandemie wurden Nonkonforme von zahlreichen Musikern, Schauspielern und Künstlern ob ihrer Unterordnung unter das Corona-Narrativ ent-täuscht, was bedeutete, dass sie ihr falsches Bild von diesen Menschen korrigieren mussten.

In den letzten Jahren häufen sich auch abseits der Popkultur die Meldungen von Ikonen und Gurus aus religiösen oder spirituellen Bereichen, die entweder post mortem oder noch zu Lebzeiten nach Jahren und Jahrzehnten des ungehinderten Umtriebs des Missbrauchs überführt wurden: Etwa der brasilianische Heiler João de Deus, der Yoga-Sektierer Gregorian Bivolaru, oder kürzlich erst der bereits verstorbene Armenpriester Abbé Pierre.

Dabei ist es erstaunlich, mit welcher Hartnäckigkeit Anhänger und Bewunderer ihr überführtes Idol — aller belastbaren Tatsachen zum Trotz — bis aufs Blut verteidigen. Viele halten lieber eisern an dem falschen Bild fest, statt sich einzugestehen, dass sie einer Illusion aufgesessen sind.

Wenn das Vorbild aus dem Bilderrahmen verschwindet, bleibt in der Glasscheibe nur noch das Spiegelbild des eigenen Selbst. Zur Vermeidung des Zurückgeworfen-Werdens auf sich Selbst (siehe unten), wird in den leeren Rahmen des Vorbilds – allen Beweisen zum Trotz — ein idealisiertes, realitätsfremdes Bild des Idols gezeichnet.

Das erklärt vielleicht, warum selbst Prominente, die sich moralisch weit ins Abseits geschossen haben, weiterhin über eine treue Gefolgschaft verfügen. Auf Rapper P. Diddy wurde schon verwiesen. Hierzulande steht der Rapper und Streamer Sinan-G exemplarisch für die unverwüstliche Entlarvungsverdrängung. Besagter Rapper hat ungebrochen über 130.000 Follower auf twitch, auf instagram gar knapp 370.000. Und das, obwohl erst letztes Jahr ein ungeschnittenes und verstörendes Masturbations-Video geleaked wurde, welches bei so ziemlich allen Betrachtern ob der Eindeutigkeit des Inhalts keine Zweifel mehr an dessen offenkundig pädophilen Neigungen lässt. Diese waren im Übrigen schon 2022 Ermittlungsgegenstand der Essener Polizei gewesen.

Selbstverständlich gilt wie immer die Unschuldsvermutung. Doch so lange derart ungeheuerliche Vorwürfe im Raum stehen, die dann auch noch durch so eindeutiges und schwer belastendes Material gestützt werden, ist eine solche Treue der Follower „bemerkenswert“. Man denke in diesem Zusammenhang nur an die grassierende Cancel-Culture und für welche vergleichsweise lachhaften Bagatellen im unteren Bereich der Skandal-Skala bereits Köpfe rollen und Karrieren zerstört werden.

Und als verhielte sich Sinan-G nicht schon anrüchig genug — vorsichtig formuliert —, so bewies der Essener erst Anfang August wieder, dass er moralisch wohl keine Grenzen nach unten kennt. Kaum hatte er seinen Führerschein wiedererlangt, raste er mit extrem überhöhter Geschwindigkeit durch die Essener Innenstadt und rammte dabei den Wagen einer 22-jährigen Frau, die laut dem Journalisten Tobias Huch hierbei schwer verletzt wurde. Der weitestgehend unversehrt gebliebene Sinan-G klagte anschließend auf Social-Media über seine Schmerzen, versicherte seiner Fangemeinde, dass es ihm gut gehe und schwor sie zugleich darauf ein, das Leben zu genießen, da es jederzeit vorbei sein könnte. Über die eigene Schuldfrage und das Unfallopfer verlor er kaum ein Wort.

Wir sehen also, wie sich Prominente regelrecht zu einem Testimonial für den Ehrenlos-Begriff entwickeln und sich dennoch der Nibelungentreue ihrer Anhängerschaft sicher sein können. Die Follower verharren lieber in der Illusion, ihr Vorbild sei ein bewundernswerter, gar nachahmenswerter Mensch, anstatt sich ihre Ent-Täuschung einzugestehen. So bleiben viele lieber in der „Weitertäuschung“ verhaftet. Dieses Phänomen scheint es in Deutschland stärker zu geben als in den USA, vergleicht man die Pulverisierung der Followerzahl bei Jay-Z mit denen von Sinan-G.

Personenkult als Ausdruck pyramidaler Systeme und totalitärer Strukturen

Die selbst durch Skandale nicht zu erschütternde Treue vieler Anhänger gegenüber ihren Idolen hat weitreichende Folgen. So lange es Personenkulte gibt, wird es pyramidale Machtstrukturen geben, die charakterisiert sind durch das top-down-Durchregieren und die Dominanz einer kleinen Minderheit über die Mehrheit. Bei jedem Konzert und jeder politischen Kundgebung ist diese pyramidale Form zu beobachten, wenn man aus der Vogelperspektive auf die Veranstaltung schaut. An der Spitze der Pyramide befindet sich eine große Bühne mit dem angehimmelten Sänger, Vortragsredner oder Politiker und davor steht eine nach hinten immer breiter werdende Menschenmasse, die dem Menschen an der Spitze zujubelt.

Seit dem Anbruch des Social-Media-Zeitalters hat sich das Massenphänomen verändert, es ist paradoxerweise individueller geworden, zumindest in der digitalen Sphäre. Während im analogen Raum ein oder wenige Idole angehimmelt werden, so haben viele Nutzer in Social-Media ihr eigenes Vorbild-Portfolio aus Influencern, Streamern und Stars, denen sie gemäß ihrer eigenen Präferenzen folgen.

Hier stellt sich die Frage nach dem „Warum?“.

„Warum?“, „Warum?“, „Warum?“, oder: Die Suche nach dem letzten Wort

In „Die Psychologie des Totalitarismus“ zeigt der belgische Psychoanalytiker Mattias Desmet auf, woher in prä(totalitären) Gesellschaften wie der heutigen das weit verbreitete Bedürfnis nach engen Regelkorsetts stammt, samt jener Befehlshaber, die diese Regeln diktieren. Hierzu setzt er an der Binsenweisheit an, dass das kommunikative Zeichensystem zwischen uns Menschen mehrdeutiger ist als das zwischen Tieren. Während die Bedeutung eines Hundegebells oder das Brüllen eines Tigers sich jedem leicht erschließt, so sind die Laute, die Zeichen und die Schriften der menschlichen Kommunikation sehr vieldeutig und bergen damit eine große Bandbreite an potenziellen Missverständnissen. Bereits ein vergessenes Komma entscheidet darüber, ob der Satz — „Komm, wir essen(,) Opa!“ — ein Hinweis auf das fertige Essen oder ein Aufruf zum Kannibalismus ist. Mit steigender Komplexität potenziert sich die Zahl möglicher Missverständnisse.

Kinder versuchen, sich das Regelsystem der Welt, in die sie hineingeboren wurden, durch teils endlose Warum-Fragen-Ketten zu erschließen. Dies tun sie, so schreibt Desmet, um die in dieser Lebensphase noch vital-elementar wichtigen Beziehungen zu den Eltern aufrecht zu erhalten, die von der Einhaltung ebendieser Regeln abhängen. Sie haben gelernt, dass die Missachtung der Regeln nicht selten mit Liebesentzug sanktioniert wird. Diese kann das Kind nur befolgen, wenn es sich unter „Brav-Sein“ etwas vorstellen kann. So durchlöchert das Kind ab einer gewissen Lebensphase die Eltern mit den bekannten Warum-Fragen. Mit dieser Kette an Fragen stößt ein Kind dann an eine Grenze, wenn es in den Erklärungen Widersprüche entdeckt, die es ihm unmöglich machen, sich ein konsistentes Regelwerk zu erschließen. Hierdurch sieht das Kind wiederum die überlebenswichtige Verbindung zu seinen Eltern gefährdet, sodass es nach noch mehr Regeln drängt.

Diesen Prozess überträgt Desmet auf die gesamte Gesellschaft. Ob Kinder oder Menschen in einer angstdurchsetzten Gesellschaft: Alle erhoffen sich von dichten Regelgeflechten eine Eindämmung ihrer Ängste in Bezug auf zwischenmenschliche Beziehungen. Einher geht der Ruf nach Regeln mit einem ausufernden Moralismus, der in narzisstischer Weise seinen Ausdruck findet; „seht, wie ‚brav‘ ich — im Gegensatz zu euch — bin und mich an die Regeln halte. Meine Eltern/Vater Staat werden/wird stolz auf mich sein! Auf euch weniger.“ (1)

Dem Nacheifern von Stars, Helden und Autoritäten im Erwachsenenalter liegt folglich die Suche nach dem letzten Wort zugrunde, von dem sich die Menschen Sicherheit und Struktur erhoffen. Ebendieses Wort ist jedoch illusionär, wie Desmet ausführt:

„Das letzte Wort, das definitiv Sicherheit bringen und die Unsicherheit aufheben würde, existiert nicht. Sowohl logisch (…) als auch historisch betrachtet (…), ist es evident, dass es genau dieser Punkt ist, an dem der Mensch sich dem Gegenteil dessen zuwendet, wonach er in seinem Freiheitsdrang gestrebt hatte: dem absoluten Meister – dem totalitären Führer —, dem Führer, der behauptet, dieses letzte Wort zu haben.“ (2)

In diesem Lichte betrachtet Desmet auch Movements wie #MeToo, Black Lives Matter und die Klimabewegung:

„Sie knüpfen an reale Probleme an, aber diese Probleme sind nicht ihr eigentlicher Existenzgrund. Sie entspringen vor allem dem dringenden Bedürfnis der Bevölkerung nach einer autoritären Instanz, die ihr die Richtung weist, ihr die ‚Last der Freiheit‘ und die damit einhergehende Unsicherheit von den Schultern nimmt.“ (3)

An dieser Textstelle verweist Desmet in einer Fußnote auf Erich Fromms Werk „Die Furcht vor der Freiheit“, in dem Fromm über autoritäre Tendenzen als Fluchtmechanismus vor der Freiheit schreibt:

„(Ein) Mechanismus der Flucht aus der Freiheit (…) ist die Tendenz, die Unabhängigkeit des eigenen Selbst aufzugeben und es mit jemandem oder etwas Außenstehendem zu verschmelzen, um so die dem individuellen Selbst mangelnde Kraft zu gewinnen; das heißt: als Ersatz für die verlorenen primären Bindungen ‚sekundäre Bindungen‘ einzugehen. Die ausgesprocheneren (sic!) Formen dieses Mechanismus finden sich in dem Streben nach Unterwerfung und in dem nach Beherrschung: in dem masochistischen und sadistischen Streben, wie man es in den verschiedenen Abstufungen bei normalen wie bei neurotischen Personen antrifft. (…) Die häufigsten Formen, in denen das masochistische Streben auftritt, sind die Gefühle der Inferiorität, der Ohnmacht und der persönlichen Unbedeutendheit. Die Analyse der von diesen Gefühlen besessenen Personen ergibt, daß sie bewußt über diese Empfindungen klagen und sie loswerden möchten, unbewußt aber von irgendeiner inneren Macht getrieben werden, sich unterlegen und unbedeutend zu fühlen. Diese Gefühle sind mehr als bloße Vorstellungen wirklichen Benachteiligtseins, Zukurzgekommenseins, oder tatsächlicher Schwäche (…). Diese Leute haben die Neigung, sich klein zu machen, so schwach, als beherrschten sie nichts. Regelmäßig zeigen solche Personen deutliche Abhängigkeit von äußeren Gewalten: anderen Leuten, Institutionen oder der Natur. Sie verteidigen sich nicht, tun nicht, was sie selber wollen, sondern fügen sich wirklichen oder vermuteten Befehlen jener äußeren Mächte. (…) Für sie ist das Leben etwas ungeheurer Schweres, Allmächtiges, mit dem sie nicht fertig werden.“ (4)

Mit Fromm können wir Personenkulte verstehen als Fluchtpunkte vor der anstrengenden und herausfordernden Freiheit, das eigene Leben selbst in die Hand zu nehmen, sich selbst zu ermächtigen. Dabei entsteht ein Unterdrückungskreislauf, bei dem sich die Klasse der Beherrschten und die der Herrschenden gegenseitig die Klinke in die Hand geben. Die Unterdrückten flüchten sich aus Furcht vor der eigenen Freiheit in die vermeintlich rettenden Arme der Lichtgestalten, die sich am Ende entweder als machtlos oder als Teil der Macht entpuppen und damit ihrerseits im Sinne der Herrscherkaste agieren, die sich wiederum des Selbst-Entmächtigt-Bleibens der Masse erfreut.

Wie kann dieser Kreislauf durchbrochen werden? Wenn es dieses letzte Wort nicht gibt, welches die nicht-emanzipierte Masse von den vermeintlichen Rettern, den neuen Eltern erhofft, dann braucht es neue Wörter, mit denen neue Geschichten erzählt werden.

Neue Wörter statt letzte Wörter

Wie können wir das Anhaften an Personenkulte überwinden, wie die Haftschicht auflösen? Dazu brauchen wir andere Erzählungen als die Helden-Erzählungen, die wir im Westen kennen. Wir brauchen solche Erzählungen, die auf Selbstermächtigung ausgerichtet sind oder noch besser auf die Aktivierung der Schwarmintelligenz. Und derlei Erzählungen finden wir sogar in der — westlichen — Popkultur:

Harry Potter

Das Finale des dritten Bandes „Harry Potter und der Gefangene von Askaban“ ist eine Allegorie für Selbstermächtigung par excellence. Dafür muss das doch etwas komplexe Finale des dritten Buches für Nicht-Potter-Kenner komprimiert werden:

Harry und seine Freunde werden nachts am Ufer eines Sees von einer Horde Dementoren angegriffen. Dementoren sind Wesen, die sich am besten beschreiben lassen als Gestalten inkarnierter, das heißt Fleisch gewordener Depressionen. Nach Aussagen der Autorin Joanne K. Rowling sind diese Wesen eine Metapher für Depressionen, die sie selber durchlitten hatte. Dementoren lösen in der Gegenwart von Menschen ein beklemmendes Gefühl der inneren Kälte und Trostlosigkeit aus. Ihre Anwesenheit fühlt sich in etwa so an, als könnte man „nie wieder froh werden“. Bei traumatisierten Menschen — wie etwa dem Titelhelden — lösen sie einen Trigger aus, der sie ohnmächtig werden lässt und sie wieder mit den sonst isolierten Trauma-Anteilen konfrontiert. So hört Harry in diesem Zustand die Schreie seiner sterbenden Eltern, die er in seinem ersten Lebensjahr durch den Antagonisten Lord Voldemort verloren hat.

Gegen die Dementoren kann nur ein einziger Zauber Abhilfe verschaffen: „Expecto Patronum!“. Das Heraufbeschwören dieses Zaubers verlangt von dem Ausführenden, dass er sich in dem Augenblick mit aller Kraft die schönsten Momente seines Lebens wieder vergegenwärtigt, dabei den Zauberspruch lauthals ausruft und gleichzeitig den Zauberstab auf die Dementoren richtet. Wenn dies glückt, erscheint aus der Spitze des Zauberstabs die Lichtgestalt eines Patronus — lateinisch „Schutzherr“ —, der von Person zu Person unterschiedliche Gestalten annimmt.

Als die Dementoren über Harry und seinem Patenonkel kreisen und beiden sämtliche Lebensenergie rauben, liegt Harry kurz vor dem Verlust des Bewusstseins auf dem Boden und erblickt auf der anderen Uferseite des Sees eine Person. Er meint, in dieser Person seinen verstorbenen Vater zu erkennen, was unmöglich ist. Als diese Person einen mächtigen „Patronus“ gegen die Dementoren heraufbeschwört, verliert Harry das Bewusstsein und erwacht wieder im Krankensaal der Hogwarts-Zauberschule im Beisein seiner Freunde Ron und Hermine. Der hinzukommende Schulleiter Albus Dumbledore bringt Harry und Hermine auf die Idee, mittels Hermines Zeitumkehrer drei Stunden in die Vergangenheit zu reisen, um mehrere Leben zu retten. Dies soll hier nicht weiter ausgeführt werden, da das für die Allegorie keine Bedeutung hat. Wesentlich ist es, zu verstehen, dass Harry fest daran glaubt, kurz vor der Bewusstlosigkeit seinen Vater erblickt zu haben. Wohl wissend, dass dies schlicht nicht möglich ist. Nicht einmal in der Zaubererwelt können Tote wieder zum Leben erweckt werden.

Neben der Rettung zweier Leben ist bei dieser Zeitreise Harrys Haupttriebfeder, an den See zurückzukehren, an dem er vermeintlich seinen Vater gesehen hat. Entgegen jeder Vernunft ist dieser Glaube fest verankert, und er möchte sich selbst davon überzeugen. So steht Harry in der momentanen Vergangenheit diesmal auf der anderen Seite des Sees und beobachtet seinen Patenonkel und sich selber, wie sie wiederum auf der entgegengesetzten Uferseite von den Dementoren angegriffen werden. Harry erwartet, dass sein Vater jeden Augenblick eintreffen muss. Und so wartet er und wartet er. Doch sein Vater erscheint nicht, stattdessen kommt ihm folgende Erkenntnis:

Du hast nicht deinen Vater auf der anderen Uferseite gesehen, sondern dich selbst!

Damit erkennt Harry, dass er — in diesem Roman immerhin im Alter von 13 Jahren – nicht mehr das Kind ist, das auf seinen Vater warten muss. So richtet er sich auf, vergegenwärtigst sich die schönsten Erinnerungen seines Lebens mit aller Kraft, hebt den Zauberstab und brüllt aus voller Lunge: „Expecto Patronum!“ Die mächtige Lichtgestalt eines Hirsches erscheint und vertreibt die Dementoren.

Die mittlerweile vom woke-politisch-korrekten Mainstream in Ungnade gefallene Joanne K. Rowling schuf hier eine sagenhafte Allegorie für Selbstermächtigung. Der „erste Harry“ befand sich in der passiv-hoffenden Verfasstheit, in welcher sich Personenkult-Anhänger befinden, auf einen Retter hoffend. Bei Harrys war das sein Vater, der auch stellvertretend für den Vater Staat stehen kann. ‚Vater Staat wird schon kommen und uns retten.‘ Diese Hoffnung vieler Menschen ist gut bekannt. In Rowlings Roman kommt Harry an den Punkt, da er erkennen muss, dass das Warten auf den Retter eine Illusion ist und nur er selbst es vermag, den Verlauf der Geschichte zum Guten zu wenden. Und so hat auch Harry in dieser Situation auf das letzte Wort gewartet. Es lautet „Expecto patronum“. Ausgesprochen werden sollte es von dem Vater, der letztlich nie kam. Schlussendlich erkannte Harry, dass er selbst dieses Wort ergreifen musste, das nicht das letzte sein sollte.

Ein gewisses Manko dieser Geschichte ist, dass sie wiederum erneut nur eine einzige Person in den Mittelpunkt rückt. Auch hier lautet die Botschaft: Einer rettet viele. Und das ist ebenfalls wieder der Stoff, aus dem Personenkulte gemacht werden. Betrachten wir somit nachfolgend zwei Beispiele, bei denen größere Menschengruppen eine tragende Rolle spielen und nicht alleine um Hilfe schreien oder ihrem Helden zujubeln.

The Dark Knight

Über Christopher Nolans Batman-Epos „The Dark Knight“ von 2008 schrieb der Literaturwissenschaftler Matthias Rohl eine bemerkenswerte Analyse, in der er auf die Rolle der Masse, der Bürger im finalen Showdown eingeht. In diesem Finale kommt den vielen Menschen keine Passivrolle zu, sie sind vielmehr als Kollektiv integral in den Entscheidungsprozess über den Ausgang des Dramas involviert. So beschreibt Rohl:

„Im dramaturgischen Höhepunkt der berühmten Schiffszene des Films inszeniert der Joker, von Heath Ledger mit enervierender Intensität verkörpert, jenes Sozialexperiment, das über die Zukunft von Gotham City entscheiden soll. In einer perfide anmutenden Fusion des klassischen Gefangenendilemmas mit dem Milgram-Experiment erklärt der Joker den Bürgern der Stadt:

Heute Abend werdet ihr alle Teil eines sozialen Experiments sein. Durch die Magie von Dieselkraftstoff und Ammoniumnitrat bin ich jetzt bereit, euch alle in die Luft zu jagen. Jeder von euch hat eine Fernbedienung, um das andere Boot in die Luft zu jagen. Um Mitternacht jage ich euch alle in die Luft. Wenn jedoch einer von euch den Knopf drückt, lasse ich das Boot am Leben. Also, wer wird es sein?

In den Laderäumen der beiden Passagierfähren sind also Bomben deponiert, die von der jeweils anderen Fähre gezündet werden können, während der Joker aus sicherem Versteck einen dritten Zünder bereithält, falls keine der beiden Versuchsgruppen die Wette des Jokers auf die Sprengung erfüllen sollte.

Wird eine der Gruppen die andere aus von außen erzwungener Notwehr sprengen, um selbst zu überleben? Oder wagt eine der Gruppen den Ausstieg aus der Logik des Experiments — auch um den möglichen Preis des eigenen Todes? Wird die Moralität der Masse über die Amoralität des Jokers triumphieren?“

Am Ende triumphieren tatsächlich die Menschen und mit ihnen die Menschlichkeit. Die vom Joker angenommene Misanthropie, die zu beweisen gewesen wäre, entpuppt sich als falsch. Die Menschen wurden im Kollektiv, ohne das Zutun eines äußeren, einzelnen Helden — Batman — selbst zu Helden ihrer eigenen Menschlichkeit.

Rohl zitiert hier ausführlich aus der Dissertation „Kollektivierung der Träume“ des Soziologen Samuel Strehle, die im Zusammenhang mit dem Filmfinale auf Seite 255 äußerst erhellend ist:

„Die Bevölkerung (...) hat sich in der Schiffsszene selbst gerettet — ohne fremde Hilfe durch einen maskierten Superhelden, der über den Ausnahmezustand gebieten müsste. In dieser Selbstrettung der Massen liegt vielleicht die größte Besonderheit von ‚The Dark Knight‘, die ihn vom Gros der Unterhaltungskultur, aber auch von allen anderen Batman-Erzählungen abhebt. Erstmals wird hier die politische Macht erfolgreich auf die Massen übertragen, wird ihnen die Wahl über die moralische Verfassung des Gemeinwesens überlassen. ‚You choose‘, verspricht der Joker den Gefangenen auf den Schiffen. Und tatsächlich spielt der Joker eine Schlüsselrolle in diesem Akt der Emanzipation, der nur durch sein Sozialexperiment ermöglicht, ja überhaupt erst erforderlich wird. Damit die Brüderlichkeit der Massen aufscheinen kann, braucht es zuerst den Zusammenbruch jener Institutionen, die den Mangel an Brüderlichkeit normalerweise kompensieren. Erst die radikale Zertrümmerung aller institutionellen Haltepunkte, erst der absolute Ernstfall der Entscheidung im Moment des Tötens oder Nichttötens setzt die sittlichen Regungen frei. Einem teuflischen Versucher gleich wird der Joker somit zur Bewährungsprobe derer, die er zu verführen sucht. Die Zerstörungen, mit denen er die ersten zwei Drittel des Films zubringt, sind insofern schöpferische Zerstörungen. Sie machen Platz für Neues, indem sie Lücken ins Bollwerk der alten Ordnung reißen, die dann von den Massen neu ausgefüllt werden — wenn auch gänzlich anders, als es sich der Joker mit seinem pessimistischen Menschenbild zuvor ausgemalt hatte.“

Godzilla

Der Filmanalyst Wolfgang M. Schmitt, der — mit Ausnahme von Corona — stets ideologiekritisch ist, stellte einen Vergleich zwischen zwei Godzilla-Filmen her. Der eine Streifen ist der japanische „Shin Godzilla“ aus dem Jahr 2016, der andere der US-amerikanische „Godzilla minus one“ von 2023. Beide könnten unterschiedlicher nicht sein.

Während „Godzilla minus one“ die altbekannte hollywoodeske Heldenerzählung abliefert und obendrein Kriegsbeschönigung und Geschichtsklitterung betreibt, verfolgt „Shin Godzilla“ nach Schmitt einen gänzlich anderen Ansatz. Im japanischen Film steht auf Seiten der Menschen kein heroisch-singuläres Subjekt im Fokus, das neben der großen Heldentat auch noch ein privates Problem zu lösen hat, während die breite Menschenmasse zu einem zu rettenden Panikvieh degradiert wird. Ganz im Gegenteil, hier dreht sich die Handlung um das durchdachte, abgewogene und koordinierte Zusammenspiel vieler einzelner Menschen. Das Ziel ist überdies hinaus nicht die Vernichtung der Riesen-Echse, die hier nicht wie bei Hollywood als Symbol für das Böse fungiert, sondern als Naturgewalt. So war Godzilla in seinen japanischen Ursprüngen stets ein Sinnbild für die Folgeerscheinungen der Atombomben-Abwürfe sowie der unzähligen Atombombentest im Pazifikraum.

Die Menschen schicken sich also an, den Godzilla, genauer gesagt seine Laserstrahlen einzufrieren. Schmitt versteht die Riesenechse als Metapher für den Krieg, der hier durch taktisch kluges Handeln eingefroren wird, statt ihn wie in den Hollywood-Interpretationen des Stoffs durch martialische Bombastik zu vernichten. Der japanische Film zeigt also nicht die Heldenreise eines Einzelnen, sondern — wenn man so will — eine Kollektiv-Heldenreise, bei der das Individuum seine eigenen Befähigungen im Zusammenspiel mit denen der anderen zum Wohle des Ganzen einbringt.

Zurück zu uns

Die Beispiele zeigen, dass es zu den Heldenerzählungen mit der Formel „einer rettet alle“ bereits einige Gegenentwürfe gibt. Diese Erzählungen arbeiten mit der Formel „jeder rettet letztlich alle“. Kein Einzelner oder wenige nehmen die Zügel in die Hand, sondern alle setzen sich an die Ruder und bringen das Schiff in Absprache miteinander in den sicheren Hafen. Das ist selbstverständlich komplizierter und mit Konfliktpotenzial verbunden, ganz im Gegensatz zu der schlichten Einfachheit, wenn die Masse mit gen Himmel gestreckten Köpfen Spiderman zujubelt.

In den Beispielen „The Dark Knight“ und „Shin Godzilla“ hat sich das Kollektiv die Souveränität zurückerobert. Das Kollektiv wurde — nach Wolfgang M. Schmitt — zum über den Ausnahmezustand gebietenden Souverän. Bei Corona wurde die Souveränität der Bürger an „die Wissenschaft“ abgetreten. Willkürlich herbeigetestete Fallzahlen und die Entwicklung von modmRNA-Genpräparaten bestimmten über den Grad sowie das Ein- oder Aussetzen des Ausnahmezustandes. Die Fake-Pandemie hätte niemals ihre zerstörerische Wirkung entfalten können, wenn ein Großteil der Menschen souverän geblieben wäre, sich in dieser Zeit zu wahren „wahren Helden“ gemausert hätte, sich also die Maske vom Gesicht gerissen und den Corona-Faschisten in sämtlichen Alltagssituationen die Stirn geboten hätte.

Niemand wird zu einem Helden, wenn er sich von einem totalitaristischen Sog mitreißen lässt, um dort Verbundenheit, Sinnstiftung und eine Projektionsfläche für seine vormals unbestimmte Angst und die daraus entstehenden Aggressionen zu finden, wie Desmet es detailliert beschreibt. (5)

Insofern ist die Notwendigkeit der Emanzipation der Vielen auch nicht zu verstehen als das Umkippen in das gegenteilige Extrem, der heroischen Selbstüberhöhung über andere, da nun kein Idol mehr vor einem schwebt. Die Emanzipation der vielen Einzelnen von der Sogwirkung der Vorbilder, Idole und Gurus ist zu begreifen als ein Balanceakt zwischen Wahrung der eigenen Persönlichkeit und des Im-Blick-Behaltens der umgebenden Menschen mit ihren Nöten, Bedürfnissen, Begabungen, Schwächen und Lebensentwürfen.

Der Therapeuth Richard Beauvais fand für diesen Akt sehr passende Worte:

„In der Gemeinschaft kann ein Mensch erst richtig klar über sich werden und sich nicht mehr als den Riesen seiner Träume oder den Zwerg seiner Ängste sehen, sondern als Mensch, der Teil eines Ganzen – zu ihrem Wohl seinen Beitrag leistet.“

Das ist eine Gesellschaftskonzeption, die es nicht mehr zulässt, dass Einzelne als den Rest dominierende Lichtgestalten über anderen, der Mehrheit stehen. Nicht alle Menschen sind gleich — um Gleichmachung soll es dabei keinesfalls gehen — aber gleich-wertig. (6)

Dann schwinden die Errettungs- und Erlösungsfantasien. Rettung, Autorität und Hierarchie sind in solch kollektiv emanzipierten Gesellschaften auf das notwendige Maß beschränkt. Eine Rettung erfolgt zum Beispiel ausschließlich in Notsituationen und nicht im Sinne eines nie endenden Erlöser-Narratives. Autorität und Hierarchie beschränken sich auf die Bereiche und Situationen, in denen gewisse Befähigungen Einzelner gefragt und ein Dirigieren und Delegieren notwendig sind. Die tumbe Masse, die auf ihren Retter wartet, gibt es dann nicht mehr.

In derartigen Gesellschaften mit reifen Individuen sind oben beschriebene Dispositive wie die bei einem Konzert nicht ausgeschlossen. Innere Reife und die zeitweilige Transzendenz in der Menschenmenge während einer Musik-Performance schließen einander nicht aus, sofern die Wertschätzung gegenüber dem Künstler und gegenüber sich selbst kein Nullsummenspiel ist. Derart gefestigte Persönlichkeiten werden in der Gegenwart eines Musikers oder anderer Kultur-Perfomer nicht ohnmächtig, sondern bleiben im Kern trotz Respektbekundung und einem zeitweiligen Aufgehen in der Masse bei sich.

Als besonders immunisierend gegen Personenkulte erweisen sich diese Dispositionen zwischen Performer und Zuschauer dann, wenn die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerbereich verschwimmt. Selbstredend ist das nur bei einer überschaubaren Anzahl von Menschen möglich. Doch so ist gerade bei kleineren Festivals immer wieder zu beobachten, dass die Künstler die Menschen selbst einladen, für beispielsweise das letzte Musikstück auf die Bühne zu kommen, um dort gemeinsam zu performen. Auch gab und gibt es viele von Improvisation getragene Theaterkonzeptionen, bei denen die Zuschauer selbst Teil des Stücks werden. Dann stehen sich mit einem Male auf der Bühne und im Zuschauerbereich in etwa gleich viele Menschen gegenüber, sodass die pyramidale Form der eines Trapezes weicht.

In solchen Anordnungen ist der Mensch auf der Bühne keine gottesgleiche Lichtgestalt mehr, den der Großteil der Zuschauer bis zur Selbstaufgabe anhimmelt, sondern einer unter Gleichen, der, auf den Zeitraum seiner Performance begrenzt, bewundert wird, ohne, dass die Respekt bekundenden Menschen in ein ohnmächtiges Unbedeutend-Sein verfallen. Das Bei-sich-bleiben in der Masse geschieht, weil jeder Einzelne zum Erwachsen-Sein herangereift ist und daher nicht mehr an den Lippen der Stars, Idole und Gurus — als Stellvertreter für die Eltern – hängt. Dazu noch einmal Desmet:

„Von nun an versteht das Kind intuitiv, dass auch seine großen Meister (die Eltern) die Bedeutung der Wörter nicht gänzlich kennen und die Unsicherheit nie aufgehoben werden wird. An diesem Punkt gibt es zwei mögliche Reaktionen: Angst oder Kreativität. Soweit die Angst überwiegt, kann das Kind sich an Narzissmus und Regeldrang klammern. Doch die Einsicht in das Unvermeidliche führt auch zu einer anderen Erkenntnis: Da niemand die definitiven Bedeutung der Wörter kennt (…) darf und muss ich ihnen selbst Auslegung geben. Das ist der Punkt, an dem das Kind sich vom Diskurs seiner Eltern emanzipiert und auf kreative Weise Individualität und Persönlichkeit entwickeln kann.“ (7)

An diesem Punkt des Heranreifens steht die Menschheit derzeit. Der Weg gabelt sich: in die Richtungen der Angst oder der Kreativität. So werden die einen nach mehr Regeln, mehr Tracking, Tracing, Nachverfolgung, Überwachung, Social-Credit-Scores und Predictive Policing rufen. Andere werden den Weg der Kreativität einschlagen.

Was das bedeutet, hat Raymond Unger in seinem Werk „Die Heldenreise des Bürgers: Vom Untertan zum Souverän“ eindrucksvoll beschrieben. Anhand der Heldenreise-Konzeption des Mythenforschers Joseph Campbell zeigt er auf, dass die individuelle Heldenreise nicht nach Außen, sondern nach Innen verläuft, dass der Schlüssel zur Befreiung und Selbstermächtigung in jedem Menschen angelegt ist und mit den Mitteln der Kunst freigeschaufelt werden kann:

„Im gelungenen kreativen Prozess können verletzte kindliche Wesensanteile endlich die Anerkennung ihrer Gefühle erhalten, die ihnen über so viele Jahre verwehrt wurde. In der Folge wird aus einem lediglich gealterten Menschen ein tatsächlich erwachsener. Erst diese integrative Heilung ermöglicht den Wandel vom infantilen Untertanen zum mündigen und souveränen Bürger, der sich fortan weder manipulieren lässt, noch seine Gefühle projiziert oder durch übersteuerte Wiedergutmacher-Programme befrieden muss (…).“ (8)

Um zu einem solchen souveränen Bürger zu werden und damit auf den Ausnahmezustand wenigstens einwirken zu können, ist es zielführend, sich von den Herrschaftsnarrativen zu lösen und Kraft eigener Sinneswahrnehmung, Ideen und Gedanken die Welt zu erschließen und damit die vorgefertigten Erzählungen selbst weiterzuschreiben. Das bedeutet, mit eigenen Worten das vermeintlich letzte Wort zu überschreiben. So vermag jeder Einzelne, ebendieses letzte Wort, dessen Besitz und Urheberschaft derzeit „die Wissenschaft“ (Trademark) für sich beansprucht, als unbedeutend zu entlarven. Das kann jeder Einzelne durch naive, doch letztlich den Kern anbohrende Warum-Fragen eines Kindes machen:

  • Warum müssen wir unsere Wirtschaft zerstören, um den Klimawandel zu verhindern?
  • Warum dürfen Menschen nicht zu Wort kommen, die den Klimawandel anzweifeln?
  • Warum müssen wir das 1,5 Grad-Ziel erreichen?
  • Warum produzieren wir so viel Energie für KI und Digitalisierung, wenn wir doch das Klima retten müssen?
  • Warum soll ich mich alle paar Monate impfen lassen?
  • Warum werde ich trotz der vielen Impfungen nicht gesünder?
  • Warum soll ich nur den Faktencheckern vertrauen?
  • Warum haben die Faktenchecker immer recht?
  • Warum soll ich den Faktencheckern glauben, wenn sie in der Vergangenheit so oft falsch lagen?
  • Warum gibt es auf einmal so viele Geschlechter?
  • Warum fühle ich mich nicht sicher, obwohl ich in einer Demokratie lebe?
  • Warum gelte ich plötzlich als rechts, obwohl ich meine Ideen nie als rechts einordne?
  • Warum werde ich von Behörden beobachtet, wenn ich die Regierung kritisiere?
  • Warum verliere ich meinen Job, wenn ich meine Meinung frei äußere?
  • Warum soll ich beim Schreiben nun Gendersternchen verwenden?

Und immer so weiter. Immer weiter nach dem „Warum“ fragen: Warum? Warum? Warum? Durchlöchern wir Mutter Wissenschaft und Vater Staat immer penetranter mit unseren Warum-Fragen, bis das Herrschaftsnarrativ so durchlöchert ist, dass die Statik es nicht länger aufrechtzuerhalten vermag und es letztlich zum Kollaps kommt.

Mit dem Kollaps werden die Buchstaben des letzten Wortes wieder Teil einer riesigen Buchstabensuppe, in der wir nach eigenem Belieben herumrühren können und dabei erkennen: Dieses letzte Wort, wonach wir sehnlichst suchen, gibt es nicht. Und jede Lichtgestalt, die behauptet, in dessen Besitz zu sein, lügt. Es gibt dieses letzte Wort nicht, weil wir alle Teil einer unendlichen, immer weiter fortgeschriebenen Geschichte sind, die naturgemäß gar kein letztes Wort haben kann. So darf sich jeder aufgefordert fühlen, nicht weiter an den Lippen seiner Vorbilder zu hängen, sich von der Illusion zu trennen, es gäbe jemanden, der ebendieses letzte Wort haben könnte. Weder ihn noch das letzte Wort gibt es.

Aber es gibt uns. Jeden Einzelnen, der es vermag, selbst das Wort zu ergreifen — das eigene Wort. Dieses eigene Wort lässt sich jedoch nur dann vernehmen, wenn das Geschwätz der Vorbilder abgedreht wird, Stille einkehrt und die innere Stimme erklingen kann.

Und im Gegenzug werden auch die Mitmenschen zu Wort kommen. Dann entsteht — im Gegensatz zu dem Top-Down-Monolog der pyramidalen Verlautbarungen — ein horizontaler, zwischenmenschlicher Dialog auf Augenhöhe, der unsere unendliche Geschichte weiter webt — und zwar zu unseren Gunsten.

So schließt dieser Text mit den Worten, dass es nie das letzte Wort geben wird, aber eines Tages ganz gewiss den letzten Guru.