Dammbrüche in Afrika
Der Westen verliert zunehmend die Kontrolle über Regionen in Afrika, die zuvor seiner Kolonialherrschaft unterlagen.
Die Umstürze in der Sahelzone reißen nicht ab. Nun wurde auch in Gabun die nach westlichen Standards gewählte Regierung vom Militär abgesetzt. Mittlerweile zieht sich ein Band von Staaten, die vom Militär regiert werden, vom Roten Meer bis zum Atlantik. Welcher Wandel drückt sich in diesen Umstürzen aus und welche Kräfte treiben die Entwicklung an?
Der Druck der Verhältnisse
Die meisten Gesellschaften in der Sahelzone wie auch in Gabun und anderen Staaten Afrikas hatten in den letzten Jahren versucht, durch westliche Orientierung den Weg aus der Armut zu finden. Dazu gehörten die gängigen vom Westen geforderten Voraussetzungen für dessen wirtschaftliches Engagement: Parteienvielfalt, demokratische Wahlen, Meinungs- und Pressefreiheit. Es handelte sich dabei um die klassischen bürgerlichen Freiheiten.
Dieses Modell schien sich in den entwickelten Industriestaaten des politischen Westens bewährt zu haben. So jedenfalls sahen es jene, die glaubten, auf diesem Weg den gesellschaftlichen Wohlstand auch in Afrika anheben zu können. Dementsprechend folgten die Entscheider den Vorschlägen jener Vordenker aus dem Westen und seiner Institutionen wie Weltbank, Internationaler Währungsfonds und anderen.
Um die wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben, vergaben die afrikanischen Staaten Lizenzen zu günstigen Konditionen, damit westliche Unternehmen die Bodenschätze hoben. Den afrikanischen Staaten selbst fehlten dazu die finanziellen Mittel und das technische Wissen. Dazu musste Infrastruktur geschaffen werden: Häfen, Verkehrswege, Energieversorgung. Das Geld kam über Kredite von Finanzmärkten oder internationalen Finanzinstitutionen. Diese Kredite waren mit Bedingungen verbunden, was die Sicherheit der Investitionen und des Personals betraf.
Das geliehene Geld kostete Zinsen, die erwirtschaftet werden mussten. Von den Erträgen der Konzerne blieb nicht viel für die Staaten übrig. Deshalb stieg deren Verschuldung immer mehr an.
Wurden weitere Kredite zur Staatsfinanzierung notwendig, forderten die Kreditgeber besonders in den internationalen Institutionen je nach Lage der Staatsfinanzen den Abbau sogenannter Wirtschaftshemmnisse zur Ankurbelung der Wirtschaftstätigkeit.
Darunter verstand man im neoliberalen Denken die Streichung von Subventionen, die nach Ansicht westlicher Wirtschaftstheoretiker den Markt verzerrten und damit Investitionen von gewinnorientierten privaten Unternehmen unrentabel machten. Da aber die meisten afrikanischen Staaten auf die Kredite der westlichen Geldgeber angewiesen waren, blieb ihnen oftmals keine andere Wahl, als den Abbau von Subventionen gegen die Interessen der eigenen Bevölkerung, aber zugunsten der westlichen Kapitalgeber umzusetzen.
Dieser Abbau von sogenannten Handelsschranken erleichterte den Markteintritt großer westlicher Konzerne besonders aus der Lebensmittelbranche. Mit ihren billigeren, zum Teil subventionierten Produkten — wie im Falle der Europäischen Union — vernichteten sie die lokale Kleinwirtschaft. Die Gesellschaften verarmten immer mehr.
Die Bevölkerung aber wuchs, und es entstanden nicht genug Arbeitsplätze, um diese zu ernähren. Die Vorstellung, auf dem westlichen Entwicklungsweg zu Wohlstand zu gelangen, stellte sich als Trugschluss heraus. Die Gewinne gingen ins Ausland. Armut und Unterentwicklung blieben im Land. Profiteure waren zum einen die ausländischen Konzerne und zum anderen korrupte Eliten, die sich von westlichen Konzernen schmieren ließen, damit sie die Entscheidungen trafen, die diesen Konzernen nutzten.
Umstürze
Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte es in Afrika wie auch sonst überall auf der Welt viele Befreiungskriege gegen die Kolonialmächte gegeben. Große Teile der Bevölkerung hatten sich erhoben, um nationale Unabhängigkeit zu erlangen. Mit dieser hatten sie die Hoffnung auf ein besseres Leben verbunden. Die meisten dieser Bewegungen waren nach verlustreichen Kämpfen siegreich gewesen.
Sie errangen die nationale, nicht aber die wirtschaftliche Unabhängigkeit, denn diese war letztlich schwerer zu erringen als die politische. Man konnte die Kolonialmächte mit ihrem gesamten Verwaltungsapparat und Militär vertreiben, aber man konnte sie nicht zwingen, wirtschaftliche Unterstützung zu leisten und den Aufbau der Länder zu finanzieren.
An deren Stelle waren die Sowjetunion und andere sozialistische Staaten in Afrika eingesprungen. Sie leisteten Wirtschafts- und Entwicklungshilfe in Form von wissenschaftlicher und technischer Ausbildung. Damit sollte das Wissen vermittelt werden, das zum Aufbau einer modernen Wirtschaft notwendig war. Aber die finanziellen Mittel der sozialistischen Staaten waren begrenzt. Was in Afrika investiert wurde, fehlte im eigenen Land, wo aufgrund der Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs und dem vom Westen erzwungenen Wettrüsten immer noch Mangel herrschte.
Nach dem Untergang der UdSSR war den Staaten in Afrika keine andere Wahl geblieben, als sich dem Westen auf Gedeih und Verderb auszuliefern, denn dieser verfügte über die finanziellen Mittel und das technische Wissen, die notwendig waren, um Bodenschätze zu heben oder sonstige größere Wirtschaftsvorhaben anzustoßen. Mit den westlichen wirtschaftlichen Mitteln kamen aber auch politische Bedingungen zur Sicherung der westlichen Investitionen.
Dabei wurden westliches Mehrparteiensystem und Parlamentarismus auch in weiten Teilen der Bevölkerung — besonders im städtischen Milieu — als Hoffnungsträger angesehen und mit Wohlwollen begrüßt. Aber der erhoffte Wohlstand wollte sich nicht einstellen. War der Kampf um die wirtschaftliche Unabhängigkeit weniger blutig als seinerzeit jener um die nationale, so war er doch schwieriger. Denn eine Geschlossenheit wie seinerzeit in den Befreiungskriegen war schwerer zu erreichen.
Das westliche Mehrparteiensystem führte wie in den westlichen Gesellschaften so auch in den afrikanischen zu einer Zersplitterung der politischen Willensbildung entlang den verschiedenen wirtschaftlichen und politischen Gruppeninteressen. Bis zu den vom Militär eingeleiteten Veränderungen der Herrschaft war keine gesellschaftliche Bewegung entstanden gegen den westlichen Einfluss und für die Durchsetzung der eigenen nationalen wirtschaftlichen Interessen.
Angesichts des Widerspruch zwischen der gesellschaftlichen Verarmung einerseits und dem exportierten Reichtum andererseits nahm der innergesellschaftliche Druck stetig zu.
Dieses Problem zu lösen waren die westlich orientierten und vom Westen abhängigen Regierungen nicht im Stande. Andererseits aber hatte auch noch keine neue antikoloniale Bewegung ausreichend Kraft erlangt, um neue Formen der Machtausübung durchzusetzen. In dieser Situation zerschlug das Militär den gordischen Knoten. Das ist kein Einzelfall. Immer wieder ist das Militär als letzte Instanz aufgetreten, wenn die Existenz des Staates oder der gesellschaftlichen Ordnung gefährdet war — nicht nur in der Sahelzone.
Nationale Interessen im Vordergrund
In der Vergangenheit war von Militärregierungen nichts Gutes zu erwarten gewesen, betrachtet man besonders die Putsche in Südamerika von Argentinien über Brasilien bis Chile. Die meisten von ihnen waren von den USA betrieben und unterstützt worden und dienten dem Erhalt der kapitalistischen Ordnung. Es galt, diese Ordnung vor nationalen oder kommunistisch beeinflussten Bewegungen zu schützen.
Dieses Bild über Militärregierungen prägt noch heute das Denken vieler Linker. Das kommt auch nun wieder in der Diskussion um die Vorgänge in der Sahelzone zum Tragen, wo westliche Intellektuelle über äußerliche Ähnlichkeiten hinaus nicht den Unterschied im Wesen der Vorgänge erkennen. Weil sich die Umstürze hauptsächlich in ehemaligen französischen Kolonien abspielen, viele der Putschisten in den USA ausgebildet wurden und die USA nicht in das Horn der französischen Interventionsdrohungen stoßen, vermuten sie, um sieben Ecken denkend, eine Verschwörung der USA zur Übernahme der ehemaligen französischen Kolonien.
Zudem vermissen sie die anti-imperialistische Bewegungen, die nach ihren Vorstellungen und den von ihnen verinnerlichten Theorien vorhanden sein müssten, um tiefgreifenden Wandel zu erreichen. Wahrscheinlicher aber ist, dass den USA Westafrika nicht so wichtig ist wie China und der Krieg in der Ukraine, der sich länger hinzieht als erwartet und dessen Erfolgsaussichten von Monat zu Monat schwinden.
Diese Denker übersehen, dass die Putschisten nicht revolutionäre Bewegungen zerschlagen wie seinerzeit in Südamerika, Afrika und auch Südostasien. Vielmehr scheint ihre Entscheidung auf weitverbreitete Unterstützung in der Bevölkerung zu stoßen. Bisher wurden selbst in westlichen Medien keine Berichte über nennenswerten gesellschaftlichen Widerstand veröffentlicht, was man sich sicherlich nicht hätte entgehen lassen, wenn es ihn gäbe.
Es scheint den neuen Herrschern vornehmlich um die Zurückdrängung westlichen Einflusses zu gehen und darum, den eigenen nationalen Interessen mehr Geltung zu verschaffen. Die Putschisten im Niger verstehen sich als anti-republikanische Bewegung und erklärten, das „Regime zu beenden“ (1). Gleichzeitig stoppten sie die Ausfuhr von Bodenschätze an Frankreich, was darauf hindeutet, dass diese Geschäftsbeziehung zum Vorteil des Landes neu überdacht werden soll.
Volk oder Verfassung
Auch in Gabun erklärten die Putschisten:
„Im Namen des gabunischen Volkes haben wir beschlossen, den Frieden zu verteidigen, indem wir dem derzeitigen Regime ein Ende setzen.“
Als Motiv für ihre Entscheidung sprachen sie von einer „ernst zu nehmenden institutionellen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krise“(2). Es scheint also um den Schutz von Staat und Gesellschaft zu gehen vor denen, die über beide bisher ihre Herrschaft ausgeübt hatten.
Natürlich kamen nach dem Umsturz in Gabun aus dem Westen wieder Forderungen nach der Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung. Aber sie werden verhaltener. Selbst die Frankfurter Allgemeine Zeitung zeichnet von Gabun das Bild eines Staates, der gekennzeichnet war von der Korruption einer seit fünfzig Jahren mit Unterstützung des politischen Westens herrschenden Familie. Sie floh mit Koffern voll Geld.
Im Gegensatz zu den Ansprüchen aus dem Westen scheint die Stimmung und die Einstellung zur verfassungsmäßigen Ordnung in den Ländern des Sahel eine andere zu sein. Nach den Berichterstatterinnen der FAZ „gingen nach dem Staatsstreich Hunderte Menschen jubelnd auf die Straßen, einige umarmten Soldaten. Offenkundig hatten die Putschisten die Meinung vieler ausgedrückt, als sie Ali Bongo eine unberechenbare und unverantwortliche Regierungsführung vorwarfen“ (3). Das war nicht nur in Gabun so, sondern auch in Niger und Mali.
Geht es in diesen Auseinandersetzungen überhaupt um das, was westliche Medien und Foren thematisieren? Geht es um die Einhaltung der Verfassung, was immer die oberste Forderung des politischen Westens ist?
Geht es um die Einhaltung von irgendwelchen Revolutionsidealen, die von Intellektuellen postuliert werden? Auch diese aus dem Westen! In dieser Hinsicht unterscheiden sich westliche Regierungen und deren Kritiker auffällig wenig. Beide geben vor, besser zu wissen als die Afrikaner selbst, wie die Geschicke in Afrika richtig angepackt werden müssen.
Was aber sagen Afrikaner dazu? Der Präsident der Zentralafrikanischen Republik, der im Westen als Autokrat angesehen wird, weil er die korrupte Regierung abgesetzt und die Wagner-Truppe ins Land gerufen hat, hat es nach der Bestätigung seines Verfassungsentwurfs durch das Volk so ausgedrückt: „Das Volk steht über der Verfassung.“
Darin kommt ein Denken zum Ausdruck, das dem politischen Westen abhanden gekommen zu sein scheint: Verfassung ist kein Selbstzweck, sondern formuliert die Grundsätze für das Zusammenleben einer Gesellschaft. Das bedeutet aber, dass die Verfassung sich der gesellschaftlichen Entwicklung anpassen muss und nicht das Volk der Verfassung. Anderenfalls sollten die Regierungen sich Berthold Brechts Worte zu Herzen nehmen und sich ein neues Volk wählen.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Rüdiger Rauls: „Gescheitert im Sahel“
(2) Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. August 23: „Auch in Gabun putscht das Militär“
(3) FAZ vom 31. August 23: „Ein Putsch nach umstrittenen Wahlen“