Da Vincis Code
Lernen wir von Leonardo da Vinci den richtigen Umgang mit unseren Kindern. Exklusivabdruck aus „Kindheit 6.7“.
Der größte Universalgelehrte des Abendlandes wuchs in einer Patchworkfamilie auf. Er wurde sowohl von Mutter und Vater als auch von seinen beiden Stiefeltern bedingungslos angenommen. Er ging nicht zur Schule, sondern lernte zuhause. Lesen und Schreiben sogar erst relativ spät. Dafür durfte er sich ungehindert seinem Natur-Erforschungsdrang hingeben und vor allem Kind sein. Auf der Spur nach dem wahren „Da Vinci Code“, der uns Anregungen für den Umgang mit unseren eigenen Kindern geben kann.
„Wissen ist ein Kind der Erfahrung.“ - Leonardo da Vinci
Am Scheitelpunkt zwischen Mittelalter und der sogenannten Neuzeit wird der wohl bedeutendste Universalgelehrte des „Abendlandes“ geboren. Leonardo da Vinci erblickte am 15. April 1452 in einem kleinen Dorf der schönen Toskana, etwa 30 Kilometer von Florenz entfernt, das Licht der Welt. Die Mutter namens Caterina ist eine 22-jährige (Bauern-)Magd. Der Vater, Piero da Vinci, ist ein 25-jähriger erfolgreicher Notar aus eher wohlhabendem Haus.
„Die da Vinci gehörten zu den eingesessenen Familien: nicht adelig, nicht besonders reich, nicht außergewöhnlich glanzvoll, aber angesehen und mit gutem Auskommen. Sie lebten jenes beneidenswerte Doppelleben, das typisch für die wohlhabenden Schichten des Quattrocento war: città e villa – Geschäft in der Stadt und Landwirtschaft auf dem Lande. Sie pflegten ihre Florentiner Beziehungen und die Anbahnung einträglicher Heiraten mit demselben Eifer, mit dem sie ihre Weinberge und Obstgärten verwalteten.“ (1)
Città e villa, städtisch und ländlich, aktiv und kontemplativ, einfach und vielfältig, so lässt sich die gesamte Kindheit von Leonardo beschreiben, die er überwiegend im Haus seiner Mutter verbringt. Er wächst zuerst in ländlicher Umgebung und sehr bescheidenen Verhältnissen auf, umsorgt von Mutter und Großeltern und alsbald begleitet von weiteren (Halb-)Geschwistern mütterlicherseits und äußerst unterstützenden und ihn anerkennenden Stiefeltern, von beiden Seiten.
Etwa acht Monate nach Leonardos Geburt heiratet der Vater Albiera, die Tochter eines reichen Florentiner Notars, mit der er bereits verlobt war. Leonardos Mutter heiratet etwa ein Jahr nach seiner Geburt einen im Dorf ansässigen Mann, der formaciacio war: Ofenarbeiter beziehungsweise Kalkbrenner. Der größte Universalgelehrte des Abendlandes wuchs in einer Patchworkfamilie heran.
Das in einer sehr innigen „Liebschaft“ entstandene Kind wird vom Vater von Geburt an anerkannt. – Keine Selbstverständlichkeit zu dieser Zeit. Obwohl Patchworkfamilien heute sehr zahlreich sind, erfuhr und erlebte der kleine Leonardo etwas, was damals wie heute sehr selten und ein großes Kinderglück ist: Er wurde von Mutter und Vater bedingungslos angenommen und von ihnen wie auch von beiden Stiefeltern bedingungslos emotional unterstützt. Das „kleine Genie“ hatte von Geburt an gelingende Beziehungen zu allen primären und rein familiären Bindungs- und Bezugspersonen, zu denen nicht nur Großeltern, sondern auch Tanten und Onkel gehörten. Was für ein menschlicher Reichtum!
Dass Leonardo, wie in vielen (Internet-)Kurzbiographien zu lesen, bereits im Alter von etwa fünf Jahren nach Florenz in das Haus seines Vaters zog, ist historisch und von der gesamten Quellenlage her nicht verbürgt. Die gesamte Kindheit – bis etwa dem 6./7. Lebensjahr – verbrachte Leonardo überwiegend im Hause seiner Mutter „am Lande“.
Er wird möglicherweise regelmäßigen Kontakt zu seinem etwa einen Tagesritt entfernten Vater in Florenz gehabt haben, denn diesem bleiben die schon früh sichtbaren Talente des Kindes keineswegs verborgen. Der Vater dürfte seinen Sohn, samt familiärem Umfeld, auch finanziell unterstützt haben. Leonardo wächst in bescheidenen, ländlichen Verhältnissen, aber keineswegs in Armut auf. Er wird von mütterlicher wie auch väterlicher Seite her ausschließlich „häuslich“ unterrichtet.
Der vollkommen unbeschulte und rein familial sozialisierte und gebildete Leonardo lernt – für heutige – Verhältnisse auch relativ spät Lesen und Schreiben. Dafür durfte er sich ungehindert seinem Natur-Erforschungsdrang hingeben und zuallererst eines sein: Kind. Von früh an und beständig zeigte Leonardo großes Interesse an Musik, Zeichnen und verschiedenen Formen des Modellierens.
Mit spätestens etwa 13 oder 14 Jahren zog Leonardo endgültig ins Haus seines Vaters nach Florenz. Der zählte in seinem Kundenkreis als Notar auch die erfolgreiche Familie Medici. Durch Vermittlung wurde der Junge dem Künstler Andrea del Verrocchio vorgestellt, einem der bedeutendsten Bildhauer im damaligen Florenz der Renaissance, der auch als Maler und Goldschmied tätig war. Bei ihm verbrachte Leonardo etwa vom 14. bis zu seinem 20. Lebensjahr seine erste Lehrzeit …
Der „große“ Leonardo schenkte der Welt nicht nur die berühmten Gemälde „Das Abendmahl“ und „Mona Lisa“. Er war auch begnadeter Bildhauer, Anatom, Naturwissenschaftler, Architekt, Mechaniker, Mediziner, Naturphilosoph, eben ein Universal-Gelehrter. Einer der letzten und jedenfalls der Größte des Okzidents. Da Vinci wuchs in einem historischen „Zeit-Fenster“ kultureller und ökonomischer Vielfalt und Reichtums an Humanismus auf. Er war Künstler und Wissenschaftler unisono und verachtete stets auch die Intrigen und die Doppelmoral nicht nur der kirchlichen Machthabenden seiner Zeit sowie religiösen Dogmatismus und generell Ideologien. Bis zu seinem – damals – späten Tod im Alter von 67 Jahren blieb da Vinci seinen inneren Haltungen treu.
Galileo Galilei starb mit 77 Jahren und Michelangelo erreichte das damals stolze Alter von 88 Jahren. Wie da Vinci erreichten sie das hohe Alter ohne Krippe, Kindergarten, „Frühförderung“, Impfstoffe, Antibiotika, Organtransplantationen und Physio- oder Psychotherapie.
Auch über da Vinci haben sich – nicht nur – Forscher unterschiedlichster Wissenschaften bis heute den Kopf zerbrochen. Seine Schriften und Werke wurden immer wieder analysiert und betrachtet. Vielleicht liegt das „Geheimnis“ dieses großen Mannes, der wahre „Da Vinci Code“ in ganz „banalen“ Umständen: dem familialen Kontinuum.
Leonardo wurde von Geburt an vorwiegend familial und im „wirklichen Leben“ sozialisiert. Krippe und Kindergarten blieben ihm naturgemäß erspart. Dafür wurde ihm viel elterliche Akzeptanz, Unterstützung und Nähe, nennen wir es Liebe, zuteil. – Von beiden Seiten und das auch noch zum richtigen Zeitpunkt.
Der Berufsstand und die ökonomische Situation einer Mutter sind offenbar einmal fürs erste relativ unbedeutend. Der emotionale Schmerz des Babys wird nicht geringer, wenn es mit einem SUV oder einer Luxuslimousine in die Krippe gebracht wird. Jedenfalls ist die Mama des kleinen Leonardo und später größten Genie des Abendlandes (Bauern-) Magd. Aus allen spärlichen primären und reichlichen Sekundärquellen ist zu schließen, dass der kleine Leonardo von Geburt an eine äußerst umsichtige, gütige, liebevolle und jedenfalls anwesende Mutter hatte.
Die Trennung zwischen „Beruf und Privat“ gab es im 15. Jahrhundert genauso wenig wie künstliche Babynahrung. Der kleine Leonardo kam in dieser Zeit mit 100-prozentiger Wahrscheinlichkeit als Hausgeburt oder im Freien, entweder alleine mit der Mutter, einer Hebamme oder anderer vertrauten Personen zur Welt. – Jedenfalls nicht „industrialisiert“. Ebenso hochwahrscheinlich dürfte er nicht nur gestillt, sondern auch umarmt und getröstet worden sein, wenn ihm danach verlangte.
Warum die Eltern Leonardos nicht heirateten, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Vermutlich waren es letztlich Standesgründe, die die einst innige Liebesaffäre nicht in eine dauerhafte Elternbeziehung wandeln ließ. Die in den letzten Jahrzehnten zur Norm gewordenen Obsorge- und sonstigen elterlichen Streitigkeiten blieben dem kleinen Leonardo mit großer Sicherheit erspart.
Seit längerem schon erklären uns Wissenschaftler, wie wichtig für die sogenannte psychosoziale Entwicklung von Jungen im zunehmenden Alter der Vater ist. Im 15. Jahrhundert, bevor die antifamilialen Konstrukte der Neuzeit so richtig in Fahrt kamen, war auch die väterliche Zuwendung oder Nähe gelebte Selbstverständlichkeit. Für das von mütterlicher wie auch väterlicherseits familial sozialisierte „kleine Genie“ Leonardo wird auch folgendes selbstverständlich und alltäglich gewesen sein: ausgiebig, gemischtaltrig und auch im Freien zu spielen. Nicht am PC oder Tablet, denn das gab es genauso wenig wie TÜV-geprüftes Spielzeug und Spielpädagogen.
Im Hause des Vaters setzt sich ein weiteres Kontinuum des kleinen Leonardo fort. Nicht nur der Vater, sondern auch seine weitere Ehefrau, sprich Stiefmutter samt Großeltern, stehen ihm äußerst wohlwollend und unterstützend gegenüber.
Da Vincis Autoren haben immer wieder beklagt, dass dieser große Meister, der auch tausende Skizzen und Schriftstücke hinterlassen hat, kaum etwas über seine Kindheit und Familie berichtete. – Wieso sollte ein Mensch, der eine glückliche (und artgerechte) Kindheit erlebte, diese zum Thema machen? Zumal ihm an nichts Entscheidendem fehlte. Da Vinci lernte unter anderem Land und Stadt, Natur und Kunst, Bescheidenheit und Vielfalt, und vor allem kompetente Menschen – darunter Mutter und Vater – offenbar zum richtigen Zeitpunkt und im richtigen Maß kennen.
So unbestritten alle seine großen Werke. Die können auch heute noch bestaunt werden. Weniger bekannt ist, dass Leonardo da Vinci von Zeitgenossen stets als offener, sehr freundlicher und umsichtiger Mensch beschrieben wurde.
Das ist heute – und war auch damals – bei großen oder „einflussreichen“ Persönlichkeiten alles andere als selbstverständlich.
In Dan Browns viel diskutiertem Roman und Bestseller „The da Vinci Code“ geht es um ganz andere, nicht so elementare Dinge, wie sie hier angesprochen werden. Dan Brown geht in seinem hoch fiktionalen und sehr spannenden Thriller ein paar Fragen nach, die von unterschiedlichen Personen seit Jahrhunderten gestellt werden. Wie: War Maria Magdalena nicht nur eine Anhängerin von Jesus, sondern seine Geliebte oder gar Ehefrau, (Lebensgefährtin)? Hatten die beiden zusammen sogar ein gemeinsames Kind, namens Sarah, wie in Legenden seit über tausend Jahren spekuliert wird?
Das sind durchaus sehr spannende Fragen. Faktum ist: Weder von der Bibel selbst, noch irgendeiner historischen Quelle, die ihr zugrunde liegt, noch wissenschaftlich lassen sich diese Fragen bis heute mit einem definitiven Ja oder Nein beantworten. Dieser „Sachverhalt“ ist nicht ausgeschlossen, er ist möglich und denkbar. Gesunder Menschenverstand erlaubt – und mit dem war Leonardo da Vinci reichlich gesegnet:
Ja, warum denn nicht soll Jesus eine Frau oder Geliebte gehabt haben? Es stünde auch nicht im Widerspruch zu dem, was er sagte und vorlebte.
Er achtete Kinder wie auch Frauen, war auf Seiten der Unterdrückten, und materieller Reichtum war ihm herzlich einerlei. Ein definitives historisches Faktum ist, dass später die Standesvertreter der „christlichen Religion“ mit all dem Aufgezählten ein gewaltiges Problem hatten ...
Gesetztenfalls, wir wüssten es irgendwann definitiv, ob Jesus zu Maria Magdalena eine „reale“ Liebesbeziehung hatte: All die gewaltigen Probleme, die national und global in absehbarer Zeit auf uns zukommen, würden dadurch nicht mitgelöst werden. Viel hilfreicher zum Fortbestand der Spezies Mensch wäre doch beispielsweise die Frage: Warum hat der neuzeitliche und „moderne“ Mensch ein so großes Problem mit gelingenden Liebes- und generell menschlichen Beziehungen? Dabei ist jedenfalls – monotheistische und dogmatische – Religion und Ideologie seit jeher wenig hilfreich.
Auch die Frage, der in Dan Browns Roman nachgegangen wird, ob auf da Vincis berühmten Gemälde Das Abendmahl zur rechten Seite nicht sein Jünger Johannes, sondern seine Frau Maria Magdalena sitzt, ist interessant und berechtigt, auch wenn Kunsthistoriker dies vehement bestreiten. Die Beantwortung dieser Frage wäre nur durch Leonardo selbst möglich. Sie würde gegenwärtig auch keinen Beitrag zu einem gelingenderen und humaneren Fortbestand der gesamten Menschheit leisten. Denn das war diesem Meister stets ein großes Anliegen.
Die „Entschlüsselung“ des da Vinci „Geheimnisses“ oder „Codes“ könnte am Beginn dieses dritten Jahrtausends nach Christi doch auch so lauten: Um auf dem evolutionären Pfad vom Affen zum Menschen erfolgreich voranzuschreiten, braucht der kleine Homo sapiens nur ein paar unverhandelbare Dinge: von Geburt an eine lange, überwiegend familiale Sozialisation und Bildung bis jedenfalls zum Zahnen (6./7. Lebensjahr) durch Mutter und Vater, Großeltern, eine echte Kindheit, möglichst keine standardisierte Pflicht-/Zwangsbeschulung, keine religiöse oder ideologische Erziehung, sondern Liebe und Beziehung – vorurteils- und bedingungslose Akzeptanz und Unterstützung – und so viel wie möglich Teilhabe am „wirklichen Leben“, der vielfältigen menschlichen Gemeinschaft.
Das ist auch bei tausenden weltweit heute und morgen geborenen „kleinen Genies“ äußerst förderlich. – Nicht „Frühförderung“ in Krippen und Kindergärten durch Pädagogen. Nichts anderes lehrt uns die Biographie des größten Universalgelehrten des Okzidents.
Dass Leonardo völlig unbeschult aufwuchs, war auch im 15. Jahrhundert, im Italien der Renaissance und des Humanismus, keine Selbstverständlichkeit mehr. In Florenz des wohlhabenden Vaters gab es (Latein-)Schulen, die dem kleinen Leonardo vermutlich wegen seiner „nicht standesgemäßen“ Herkunft verwehrt blieben. Die innige Liebschaft des Vaters mit der Bauernmagd Caterina erwies sich wohl als Segen für den begabten Jungen, der auch als Erwachsener stolz darauf war, senza lettere, ohne Schulbildung, zu sein.
„Er hat sein Wissen durch Beobachtung und Erfahrung erworben, statt fertige Meinungen von anderen zu übernehmen. Leonardo ist ein ‚Schüler der Erfahrung’, ein Sammler von Beweisen - ‚die geringe Gewißheit ist doch besser als der große Trug’.“ (2)
So die Worte des großen Meisters. Sein Geist war nicht gefüllt mit dem Gerümpel von Regeln, Vorschriften und richtiger Erziehung und Bildung.
„Der Blick auf die Welt vor seinen Augen ermöglichte es ihm, mit größter Genauigkeit in das Herz der Dinge zu schauen. Für Leonardo ist das wichtigste Organ zum Verständnis der Welt nicht das Gehirn, sondern das Auge.“ (3)
Für ihn war es nicht nur Hauptmittel zum Verständnis von Natur, sondern auch Fenster zur menschlichen Seele.
Etwa zur selben Zeit da Vincis lebte der unumstritten bisher größte Dramatiker und Lyriker des Abendlandes, William Shakespeare. Der brachte es auf den Punkt, was nun einmal auch für das Menschenkind gilt:
„Jedes Ding muss seine Zeit zum Reifen haben.“
Da Vinci begann „erst“ mit etwa acht/neun Jahren zu lesen und zu schreiben, Albert Einstein „erst“ im Alter von drei Jahren zu sprechen. So ein Kind wird heute vielfach zum Therapeuten Logo/Psycho, oder gleich zu beiden, gebracht. Auch wenn die Mehrheit heute anderen „Wahrheiten“, Ideen und Ideologien folgt. Da Vinci stellte einmal richtig fest: „Die Wahrheit ist immer nur eine Tochter der Zeit.“ Eine Wahrheit erweist sich seit Jahrtausenden immer wieder als richtig. – Die der familialen Sozialisation, Bildung, die des mütterlichen und väterlichen Kontinuums, nicht zu trennen, sondern zu verbinden.
Leonardo da Vinci hatte stets die gesamte Menschheit im Blick, beherrschte in allem meisterlich die Balance und er war höchst innovativ. Er war ein ganz großer Visionär ...
Quellen und Anmerkungen:
(1) Charles Nicholl, Leonardo da Vinci. Eine Biographie, S. Fischer Verlag, 2006, Im Original erschienen 2004: Leonardo da Vinci. The Flights of the mind
(2) ebenda
(3) ebenda. Trotz tausender Skizzen und Schriftstücke gab Leonardo fast keinen Einblick in seine Kindheit und in sein Familien- und Privatleben. Wer alleine bei Google (Deutsch) auf die Schnelle nach Leonardo da Vincis Kindheit sucht, stößt zumeist auf Sigmund Freuds Essay Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci. Wie einige da Vinci Forscher und Biographen nachweisen konnten, türmen sich in Freuds Essay Spekulationen auf Spekulationen. Der Biograph Charles Nicholl weist unter anderen darauf hin, dass manche Quellen von oder über da Vinci ihm überhaupt noch nicht bekannt waren. Die Frage, die Freud letztlich interessierte, ob der vermutlich kinderlose da Vinci homosexuell war, ist durch keine einzige primäre oder sekundäre Quelle mit Ja zu beantworten und ist sie wirklich von Relevanz? Einmal abgesehen davon, gab es auch in den letzten Jahrhunderten (und Jahrtausenden) „Kinderlose“, die deshalb nicht zwangsläufig homosexuell waren. Dass da Vinci homosexuell gewesen sei, ist bis heute eine Mutmaßung, nicht nur von Sigmund Freud. Ebenso ist es von der Quellenlage her weder nachvollzieh- und schon gar nicht beweisbar, dass da Vinci, wie im Internet oft behauptet, mit fünf Jahren in das Haus seines Vaters nach Florenz zog und danach keinen Kontakt mehr zu seiner Mutter hatte. Wann auch immer Leonardo zu ihm zog (das ist bis heute ungeklärt), er hatte weiterhin, in welcher Häufigkeit auch immer, Kontakt zu seiner Mutter. Der erwachsene Leonardo notierte selbst einmal in sein Notizbuch, dass seine Mutter ihn in Florenz besuchte. Die meines Erachtens in Hinsicht Kindheit und Leben da Vincis ausführlichste und am wenigsten spekulative Biographie ist die von Charles Nicholl.