Chinas „Überkapazitäten“
Der Westen neidet China seinen ökonomischen Erfolg und seine Beliebtheit im globalen Süden — daher unterstellt er dem Land unlauteren Wettbewerb.
Das neueste Narrativ für das westliche Publikum lautet: China subventioniert seine Firmen derart, dass sie die Produktion beliebig ausweiten können, zu Dumpingpreisen „die Weltmärkte überschwemmen“ und „die gute, anständige Marktwirtschaft des freien Westens“ zerstören. Was im Westen schlicht „gute“ Exporte sind, sind bei China „böse“ Überkapazitäten. Der Autor nimmt in seinem Artikel eine Reihe von Doppelstandards auseinander und gewährt Einblicke in ein Land, über das viele reden, von dem aber nur wenige wirklich eine Ahnung haben.
Internationaler Handel und Skalenersparnisse
Schon die Jäger und Sammler tauschten, weil beide Seiten Überkapazitäten entwickelt hatten: Die einen zum Beispiel durch die Technik, Nüsse zu sammeln und zu lagern, die anderen darin, den Höhlenbär zu jagen und sein Fell zu verarbeiten. Clans hatten sich spezialisiert, konnten Effektivitätsgewinne erzielen, mussten aber tauschen. Schon dabei ging es auch um dynamische Fähigkeiten. Der Begriff „(Über-)Kapazität“ hat bis heute neben der Bedeutung eines statischen Produktionspotentials, über den eigenen Bedarf hinaus, auch die Bedeutung der dynamischen Leistungsfähigkeit: „Capacity“, eine Fähigkeit zu zukünftiger Weiterentwicklung.
Als der englische Ökonom D. Ricardo 1817 die bürgerliche Theorie des internationalen Handels begründete, sprach er faktisch von Überkapazitäten bei beiden handelnden Ländern. Er nannte sie komparative Kostenvorteile. In seinem Beispiel tauschten England und Portugal ihre Spezialisierungsgüter, Industrie- gegen Agrarprodukte. Und diese Arbeitsteilung zwischen dem industriell entwickelten England und den Rohstoffe und Nahrungsmittel liefernden Entwicklungsländern sollte verewigt werden.
Genau deshalb war die Theorie des Ökonomen des preußischen Aufsteigers und Konkurrenten Englands, F. List, dynamisch und entwicklungspolitisch. Seine Idee: Durch Entwicklung von Fähigkeiten auf immer höherer Wertschöpfungsstufe sich selbst am eigenen Schopf entlang der internationalen Wertschöpfungskette aufwärts in einen Aufholprozess zu ziehen.
Die später berücksichtigte Dynamisierung, die Mobilisierung sogenannte Skalenersparnisse (Economies of Scale) im Zuge einer Spezialisierung, rechtfertigte im ökonomischen Mainstream aber weiter die Oligopolisierung des imperialen Clubs. Arbeitsteilung und Spezialisierung zwischen den fortgeschrittensten kapitalistischen Ländern und ihren immer engeren Oligopolen wurden kleinteiliger. Von nationalen komparativen Vorteilen zwischen großen Gütergruppen hin zu gegenseitiger Markteroberung durch internationale Konzerne. Wie war es zu erklären, dass Güter in beide Richtungen transportiert wurden? Man „erklärte“, dass am Ende ein amerikanischer Ford eben nicht dasselbe ist wie ein deutscher Mercedes.
Durchschnittseuropäer kaufen gerne das erst genannte, wohlhabende Amerikaner die zweite Marke. Am Ende waren der Ford und der Mercedes, also die Firma und das einzelne Modell je eine eigene Güterkategorie, nicht mehr substituierbar durch ein Produkt mit zwar gleicher Funktionalität aber anderer Marke und Symbolik. Der Mainstream nannte das intraindustriellen Handel. Er reflektierte internationale monopolistische Konkurrenz, Überakkumulation und gegenseitige Eroberung der Heimatmärkte.
Aufstiege von Ländern, vor allem der Sowjetunion und Chinas, oder der Wiederaufstieg Russlands unter Wladimir Putin, waren dabei nicht vorgesehen, nicht erlaubt und wurden bekämpft.
Dynamischer Strukturwandel und nationaler Aufstieg
Ein Land, das aus der Reihe der neokolonialen „Werte- und Regel-Ordnung“ tanzt, in der es, mit wenigen Ausnahmen, jahrzehntelang keine Aufstiege mehr gab, und sein Schicksal in die eigene Hand nimmt, muss eine langfristige soziale und ökonomische Dynamik generieren. Der Strukturwandel, den es organisieren muss, besteht aus der Schaffung von Überkapazitäten auf höheren Stufen der Wertschöpfung sowie der Vernichtung von rückständigen und umweltschädlichen Überkapazitäten.
China zum Beispiel hat in den letzten 15 Jahren Überkapazitäten in allen ökorelevanten Technologien und Produktgruppen aufgebaut und gigantische alte Überkapazitäten in Kohlebergbau, Kohleverstromung, Stahlproduktion und so weiter stillgelegt.
Deutschland dagegen denkt seit Helmut Kohl, Gerhard Schröder und Angela Merkel nicht im Traum daran, seine weltweit relativ größten Überkapazitäten in der Verbrennertechnologie, seine jahrzehntelange Überschwemmung der Weltmärkte mit Verbrennern, die Überproduktion einer jahrzehntelang gepamperten „Flaggschiff“-Industrie, abzubauen. Im Ergebnis läuft jetzt die deutsche Automobilindustrie in den neuen Mobilitätsformen wie E-Vehikel (EV), Wasserstoff, Solarplatteninduktion et cetera technologisch und preislich hinterher.
Ehemaliger Exportweltmeister Deutschland
Deutschland hatte sich zum wirtschaftlichen Hauptkonkurrenten des Hegemons entwickelt und wurde in den 2000ern und 2010ern, vor allem mit dem chinesischen Nachfrageboom nach 2008, noch einmal der wichtigste Exporteur der Welt. Der deutsche Höhenflug wurde erst mit Corona im Jahr 2022, dem nachfolgenden Krisenmodus der Weltwirtschaft und der Zerschlagung der eurasischen Wirtschaftsverflechtung mit Russland durch die USA für immer beendet.
Bis dahin war Deutschland Exportweltmeister. Mit einem Weltbevölkerungsanteil von 1,1 Prozent und einem Weltexportanteil von 7,3 Prozent im Jahr 2021 hatte es Überkapazitäten vom Faktor 6,6. Für die USA mit einem Weltbevölkerungsanteil von 4,3 Prozent und Exportanteil von 7,9 Prozent ist der Überkapazitäten-Faktor 1,8. China hat mit 18,5 Prozent und 15,5 Prozent einen Überkapazitäten-Faktor von 0,8!
Vervielfachung der Zollsätze und neue Wertschöpfungsketten
Die politischen Maßnahmen zur Überkapazitätenkampagne waren lange vorbereitet. In den USA hatte „Joe, the Donald“ keine von Trumps Maßnahmen aufgehoben, viele aber verschärft und ausgeweitet. Nun kam die Vervielfachung protektionistischer Zölle, pikanterweise auf die chinesischen Produktgruppen, die für die globale Klimawende unabdingbar sind. Der Zollsatz für EVs wurde von 27 Prozent auf 100 Prozent erhöht. Die EU folgt gehorsam, mit von der Leyens politisierter „Anti-Subventions“-Prüfung vorbereitet, und erhebt nun Zölle in Höhe von 27 bis 48 Prozent.
Nach allen Studien, die nach Trumps Zollerhöhungen 2017 durchgeführt wurden, sind angesichts der Nicht-Substituierbarkeit der chinesischen Produkte durch nicht vorhandene westliche Produkte die US- und EU-Verbraucher die Leidtragenden. Sie zahlen die höheren Zolleinnahmen, eine Umverteilung von Privathaushalten in die Staatskasse.
China wird sich, ökologisch korrekter, revanchieren mit Zöllen auf die EU-Schweine-Industrie, US-Agrarexporte und EU-Verbrenner, die ohnehin nichts mehr zu suchen haben in China. Habeck wollte in Beijing aktuell vermitteln, hat sich aber schon beim ersten Statement auf chinesischem Boden mit Verleumdungen über chinesische Kinderarbeit ins Aus geschossen. Das Treffen mit dem chinesischen Ministerpräsidenten wurde abgesagt. Ab nach Hause!
Die globalen Wertschöpfungsketten lassen sich ohnehin nicht so einfach zerschlagen, wie westliche Politlaien fantasieren. Produkte aus Drittländern enthalten nach wie vor viele chinesische Zulieferteile, chinesische Produkte werden auch in Drittländern hergestellt, einschließlich nun der EU, Beispiel Ungarn, und betroffen sind von den EU-Zöllen ohnehin auch die Re-Importe aus China von deutschen Herstellern, „also unsere eigenen Exporte, die nur aus China geliefert werden“.
Der chinesische EV-Export in die EU macht 8 Prozent des EU-Automarktes aus. Von den chinesischen EVs gehen über 88 Prozent in den eigenen Markt, nur 12 Prozent werden überhaupt exportiert. Und sie werden hier zum doppelten Preis wie in China angeboten, wo man ein kleines hochintelligentes EV für 10.000 Euro kaufen kann. Nix Dumping! Die chinesischen Firmen können die neuen Zölle vermutlich zum guten Teil absorbieren. Und was China anbietet, modernste günstige Einsteiger-EVs, gibt es in der EU schlicht noch gar nicht. Da ist nichts zu schützen.
Während deutsche und internationale Autohersteller und ihre Joint Ventures immer noch fast 50 Prozent des chinesischen Automarktes bedienen und deutsche Hersteller 30 bis 40 Prozent ihres globalen Absatzes in China verkaufen, spricht in China niemand von der „Überflutung durch ausländische Angreifer“.
Die alternativen Absatzmärkte Chinas sind weit entwickelt, in Kooperation mit den verlässlicheren Partnern des Globalen Südens, 150 Partnerländern der Neuen Seidenstraßen, den neuen Motoren der weltwirtschaftlichen Entwicklung und sich neu organisierenden Wertschöpfungsketten. Chinas Handel mit dem Globalen Süden hat sich in den letzten vier Jahren verdoppelt.
Ende Klimawende
Ein „Klimaberater“ im Weißen Haus behauptet ernsthaft, China würde mehr Klimawende-Technologien herstellen, als es globalen Bedarf gebe.
Während der Kollektivwesten aufgrund seines industriellen Niedergangs und ökologischen Versagens die Überkapazitäten Chinas in den Klimawende-Technologien dringend bräuchte, wird das Klimawende-Kind mit dem „Entkopplungs“-Badewasser ausgeschüttet.
Mit dem aktuellen Entkopplungs- und Abschottungs-Schlag wird die Klimawende im Westen endgültig beerdigt. Denn sie wäre nur mit den hochentwickelten und preisgünstigen chinesischen Ökowende-Technologien überhaupt noch zu retten gewesen.
Chinas Überkapazitäten entwickeln den Globalen Süden
Chinas Überkapazitäten in Klimawende-Technologien bringen heute den Globalen Süden an die Front der Ökoinvestitionen und tragen so die globale Klimawende. Erneuerbare Energien werden durch China nun billiger als Kohle-, Öl-, Gas- und Atomstrom. China ist nun die grüne und nachhaltige Fabrik der Welt, wie der deutsche Unternehmensberater Roland Berger sagt.
Aber auch chinesische Ökowende-Kapazitäten sind unzureichend. Das Ausbautempo der Erneuerbaren muss verdreifacht werden, um die globalen Klimaziele zu erreichen. Die Internationale Energieagentur berechnet, dass sich der Absatz von Fahrzeugen mit neuer Energie global auf das 4,5-Fache von 2022 erhöhen muss, und der Photovoltaik-Paneelen-Absatz muss sich verzehnfachen, um die Klimaziele bis 2030 zu erreichen.
Subventionen und die „Geheimnisse“ der chinesischen Effektivität
Im Gegensatz zum Wertewesten forciert China die Klimawende praktisch ohne betriebliche Subventionen. Washington hat mit seinem „Inflation Reduction Act“ 700 Milliarden US-Dollar für Produktionsansiedlung in den Ring geworfen. Die EU hat einen „Resilienzfonds“ von 723 Milliarden Euro, Subventionen für grüne Projekte kommen auch aus EU-Struktur- und Kohäsionsfonds. Deutschland ist seit je eines der Länder mit den höchsten Subventionsquoten. Aktuell werden EV-, Batterie- und Halbleiter-Ansiedlungen subventioniert, erhält Intel für eine Produktionsstätte in Deutschland 10 Milliarden Euro, der taiwanische Halbleiterhersteller TSMC 5 Milliarden Euro und so weiter.
In China wird zum Beispiel die E-Mobilität, entgegen Behauptungen in Brüssel und Berlin, seit 2019 überhaupt nicht mehr gefördert. Ebenso wenig Photovoltaik oder Batterien. China forciert Strukturwandel und ökologische Entwicklung praktisch nur indirekt, WTO-konform. Die „Geheimnisse“ des chinesischen sozioökonomischen Erfolges sind für jeden erkennbar:
- Economies of Scale: Eine Ökonomie mit 1,4 Milliarden Einwohnern, die in die globalen mittleren Einkommens-Bereiche hineinwachsen, kann niedrigere Stückkosten realisieren als eine mit 80 Millionen Einwohnern.
- Komplette und effektive Wertschöpfungsketten: Hunderttausende junge Gründerfirmen sorgen für eine Zuliefer-Infrastruktur und regionale Cluster, die ihresgleichen suchen.
- Kostenlose Bereitstellung vollständiger und effektiver Infrastrukturen: Kostenlose Infrastruktur-Nutzung ist ein Faktor hoher Kaufkraft der Haushalte, aber auch der Kostenersparnis der Firmen.
- Bildung und Qualifikation: Gute Schulbildung und 600.000 neu ausgebildete Ingenieure jedes Jahr. Vom Arbeiter bis zum Entwicklungsingenieur ist qualifiziertes Potential für die Klimawende vorhanden, das größer ist als das des gesamten Westens. Gefördert wird entsprechend auch über öffentliche Forschung und Entwicklung.
- Preiswettbewerb: Insgesamt ist ein Umfeld entstanden, das der Kapitalismus schon lange nicht mehr kennt: Chinesische Unternehmen müssen wieder echten Preiswettbewerb zugunsten der Käufer und Nutzer generieren. China hat die Konzerne gerade in den letzten Jahren einer harten Wettbewerbskultur unterworfen und entsprechende Crackdowns auf die Oligopole des IT-, Immobilien-, Banken- und Finanzsektors durchgeführt. Es ist der
- „Fitnessclub“ der Welt für die deutsche Industrie. Westliche Firmen kommen nun in Bedrängnis, weil chinesische Unternehmen ihre hohe Effektivität auch preislich weitergeben müssen und können.
In Kreisen des deutschen Maschinenbaus hat man erkannt, warum Chinas Unternehmen führend sind: „Harter Wettbewerb bei gleichzeitig guten Rahmenbedingungen.“
„Überkapazitäten“ haben also viele ökonomische Facetten und Dimensionen sowie positive und negative Potentiale für die Menschheit. Die Narrative fürs infantil zu haltende Publikum sollte jedenfalls niemand mehr glauben.