Bunte Einfalt
Selbst wenn böswillige Alternativmedien uns etwas anderes weismachen wollen — im Grunde ist politisch alles in bester Ordnung.
Sanft und auf leisen Sohlen kam er. Das Gute versprechend, das Schöne ausmalend, ein Ziel vor Augen. So sanft wie das Entstehen eines Regenbogens. Erst sind die Farben blass, und die Form ist noch unvollständig. Doch bald leuchtet er in vollkommener Pracht. Jeder bestaunt ihn, und jede bunte Fahne erinnert an seine Schönheit und zaubert ein Lächeln auf unser Gesicht; sie steht für eine neue, eine bessere Zukunft. Ja, wir können den blauen Himmel zusammen mit dem Regenbogen hier auf der Erde errichten. Wir können unsere Gesundheit schützen, den Klimawandel besiegen, ohne Grenzen zusammenleben und Kriege für immer beenden. Wir können in einer besseren, einer sicheren Welt leben.
Um diese Vorstellungen zu verwirklichen, müssen wir nur die richtigen Maßnahmen ergreifen, unsere Gesellschaft umbauen, das Persönliche zurückstellen. Wir müssen ein geeintes und wehrhaftes Kollektiv bilden, eine demokratische Mehrheit, die gegen die Menschen vorgeht, die uns unser Zukunftsbild kaputt machen wollen.
Ganz leise fing das an. Doch nun poltert es seit vier Jahren laut und unaufhörlich durch die Luft, dringt in jedes Ohr, will mit aller Macht zur Geltung kommen. Die Sehnsucht nach dem Glück, nach der Gemeinschaft, nach der Nähe und die Angst vor der Zukunft, vor der Einsamkeit, vor dem Tod betäuben unsere Vernunft und lassen uns bedenkenlos vertrauen.
Ein Leben in Anonymität und Isoliertheit passt nicht zu uns Menschen. Wir haben soziale Bedürfnisse, sind allein unglücklich. Doch in unserer modernen, von Technik, Arbeit und Konsum geprägten Ordnung sind wir nur zu oft allein. Es fehlt die Zeit für tiefe Beziehungen, es fehlt der Halt, ein verbindender Gedanke, gemeinsame Werte und Ziele. Wir fühlen uns psychisch und physisch verlassen. Wir haben Angst, wissen aber nicht, woher sie kommt.
Neue Vorstellungen haben es da leicht. Sie fallen auf einen ausgetrockneten, aber noch fruchtbaren Boden. Dringen tief in ihn ein. Er saugt sie begierig auf, hat lange auf den Regen gewartet, ihn herbeigesehnt. Nun strahlt der Regenbogen hoch über uns. Endlich gibt es Orientierung, eine Richtung. Wir prüfen sie nicht mit individueller Vernunft. Nein, wir nehmen sie dankend an. Sie lenkt und lindert unsere Angst.
Wir besiegen mithilfe einer neuartigen Impfung ein tödliches Virus. Wir verhindern eine Klimakatastrophe, indem wir unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft umbauen. Wir schützen Europa und helfen der Ukraine, indem wir Waffen liefern und Russland besiegen.
Das sind unbedingt notwendige Maßnahmen und die ihnen entsprechenden Ziele. Sie liegen in weiter Ferne, doch sie versprechen die Befreiung von Gefahr und Leid. Wenn wir nur nicht aufgeben, weiter impfen, weiter Solar- und Windkraftanlagen bauen und weiter Waffen liefern, dann stehen am Ende unseres Wegs die Erlösung, die Erfüllung, das Ende der Angst.
Jeder, der diese Notwendigkeiten bezweifelt, macht uns wütend. Das ist verständlich. Denn wir kennen die Wahrheit. Sie hat sich manifestiert, wurde tausendfach wiederholt. Wer sie noch immer nicht verstanden hat, der kann nicht nachdenken. Wir lassen uns unseren Glauben, unsere Überzeugung, unsere Wahrheit nicht nehmen. Wer das versucht, der wird zum Feind. Klimaleugner, Querdenker und Putinversteher haben unrecht. Ihre Meinung ist falsch. Sie sind eine Minderheit, eine Minorität.
Wir sind die Mehrheit, die Masse. Wir halten zusammen, denn der Glaube an die Wahrheit vereint uns. Wir sind gebunden an das Kollektiv. Das ist zwar keine richtige Beziehung zwischen den Menschen, doch das Zugehörigkeitsgefühl ist schön. Unser Kollektiv steht über dem einzelnen Individuum, das ja doch nichts ausrichten kann. Wir sind wie eine Herde. Wir denken das Gleiche, glauben an das Gleiche, gehen in die gleiche Richtung, und wir haben die gleichen Feinde.
Vielleicht waren wir früher mal für Anarchie, waren kapitalismuskritische Punks, Antifaschisten und gehörten gern zur Minderheit. Natürlich sind wir noch immer gegen Nazis und die vielen Rechten, die unsere Überzeugung nicht teilen. Wir müssen unsere Welt vor ihnen schützen. Die Bedrohungen sind zu groß geworden. Wir sind solidarisch durchgeimpft und verachten jeden, der aus der Reihe tanzt und unseren Zielen nicht folgen will.
Wir selbst folgen der Regierung. Sie steht auf der gleichen Seite. Sie kann auf uns bauen. Sie gibt die Richtung vor, sie gibt uns den Halt. Wir übergeben ihr die Verantwortung und geben ihr damit die absolute Macht.
Medien, Polizei und Geheimpolizei, der Verfassungsschutz unterstützen sie. Sie gehen gegen Regierungskritiker vor, gegen Menschen, die die Notwendigkeit der Maßnahmen nicht einsehen wollen. Manche müssen halt zu ihrem Glück gezwungen werden.
Besondere Situationen erfordern besondere Gesetze. Klimagerechtigkeit bedeutet eben, dass das Klima an erster Stelle steht und nicht der Mensch. Wir müssen die Freiheitsrechte, die Grundrechte, das persönliche Leben einschränken, wenn wir das Klima retten wollen. Das ist alternativlos. Dazu haben wir eine nahezu magische Justiz.
Das neue Recht muss das Menschentier in Zaum halten. Gehorsam ist wichtig. Als Kinder haben wir das gelernt. Als Erwachsene können wir den neuen Gesetzen genauso gehorchen. Der einzelne Mensch ist doch nichts, nichts wert. Er darf daher auch nicht abweichen von der Mehrheit. Er muss mit. Wir leben in einer Demokratie. Da bestimmt die Mehrheit. Wenn die Demokratie bedroht ist, dann sind Zensur und Spionage gerechtfertigt. Das kann jeder verstehen. Das Recht gilt für uns, nicht für die, die nicht mitmachen.
Es war großartig, wie die Wissenschaft in der Corona-Pandemie in wenigen Monaten einen Impfstoff entwickelt hat. Wir hatten solche Angst und konnten endlich aufatmen. Die Schwurbler und Leugner machten uns den Kampf schwer und wurden zu Recht verbal gelyncht. Wenn wir den Klimawandel besiegen, können wir wieder aufatmen. Für die globale Erwärmung ist das CO2 verantwortlich. Die mathematischen Klimamodelle zeigen das. Sie sind zwar nicht verifizierbar, aber sie können die Entwicklung des Klimas vorhersagen. Der Meeresspiegel wird steigen, die Gletscher schmelzen, unsere Lebensgrundlagen werden von uns selbst zerstört, wenn wir nicht handeln. Das ist wissenschaftlicher Konsens, also die Wahrheit.
Die Kernkraft war viel zu gefährlich. Die Länder um uns herum bauen sie aus, ohne die Folgen zu bedenken. Wir bauen Zehntausende Windräder, Offshore-Windparks in das Meer und riesige Solarflächen auf Wiese und Acker. Der Regenbogen sieht trotzdem noch schön aus. Die Natur wird geschädigt, die Artenvielfalt leidet, aber das ist das kleinere Übel.
Die hohen Energiepreise zahlen wir gern. Sie erzeugen Inflation, und manche Unternehmen gehen pleite. Für den guten Zweck müssen wir Opfer erbringen. Wo gehobelt wird, fallen schließlich Späne.
Es ist in Ordnung, dass die Industriellen der Klima-Industrie und unser Staat mit der Energiewende viel Geld verdienen. Wir geben es ihnen für unseren Schutz, unsere Sicherheit.
Der Profit muss sein. Ohne ihn funktioniert die Wirtschaft nicht. Zur Not muss er erzwungen werden. Die neuen Gesetze der Regierung ermöglichen das. Ohne sie würde sich doch niemand für Gesundheit, das Klima oder den Frieden einsetzen. Das Ökonomische bestimmt diese Gesetze und unser Leben. Das ist normal und mittlerweile überall so.
Die Nazis warnten vor der jüdischen Weltherrschaft. Wir warnen vor den Rechten, dem imperialistischen Angriff Russlands auf Europa, vor einer neuen Pandemie und der drohenden Klimakatastrophe.
Was ist der Mensch im Angesicht dieser Bedrohungen noch wert? Sind denn die Menschenrechte, die Humanität, die Ethik, die Kultur noch zeitgemäß, wenn wir doch so oder so in der Klima-Apokalypse, an der wir selbst schuld sind, sterben werden? Wir sind unnütze Zerstörer, überflüssige Schädlinge. Unser Leben ist sinnlos, unsere Würde verloren.
Die Menschenwürde ist unantastbar. Ja, aber weil wir nichts mehr wert sind, können wir sie auch opfern. Für die Sache. Für die Rettung. Für den Regenbogen. Zumindest sollten wir keine Kinder mehr bekommen. Sie sind Klimakiller wie wir selbst. Wir müssen das Leben schützen, indem wir es verkleinern.
Sind denn die Opfer nicht gerechtfertigt? Die Einschränkung der Freiheit, der Gleichheit, die Eingriffe in das Privatleben? Die Toten der Corona-Zeit, die psychologisch Geschädigten, die Kriegsopfer, die Menschen, die ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können, die Unternehmen, die pleite gehen, die Verhungernden in den Entwicklungsländern? Die aus Angst ungeborenen Kinder?
Wir lassen das alles geschehen. Überzeugt von den neuen Vorstellungen warten wir auf das Eintreten der Versprechungen. Wo bleiben sie? Verwirrt, überfordert, ohnmächtig befolgen wir die neuen Regeln, ohne zu reden, ohne zu handeln, ohne das politische Geschehen aktiv mitzubestimmen. Wir lassen sie machen. Lassen sie reden und handeln. Lassen sie leben. Unser Leben schläft ein.
Langsam kam das, leise vorbereitet. Noch ist er da, der Regenbogen. Er leuchtet. Die Menschen, die seine Fahne hissen, wollen tatsächlich das Gute. Wollen Frieden, Gleichberechtigung, Vielfalt, die Achtung vor dem anderen, eine offene Gesellschaft. Das will ich auch. Doch hinter ihren Fahnen steht gut getarnt der Unerkannte und lächelt. Lächelt, weil er weiß, dass er, so gut versteckt und unsichtbar, genau das machen kann, was er will.