Brücken bauen

Durch ein wertschätzendes Miteinander überwinden wir die Gräben in unserer Gesellschaft.

Corona-Skeptiker und Corona-Linientreue sind einander ähnlicher, als sie es wohl wahrhaben wollen: darin nämlich, dass beide Seiten felsenfest überzeugt sind, recht zu haben. Und dass eigentlich nur Idioten den jeweils anderen Standpunkt einnehmen können. Da geht es in Diskussionen schon mal sehr gereizt zu, und wie wir alle wissen, sind schon Freundschaften daran zerbrochen. Wirklich hilfreich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist das nicht, denn es hilft nur den Machthabern, wenn ihre „Untergebenen“ untereinander zerstritten sind. Wie aber kommen wir aus der Falle heraus? Zunächst müssen wir uns darüber bewusst werden, warum wir die eine oder andere Position gewählt haben — vielfach hängt dies mit unserer Lebensgeschichte zusammen. Allein die Beschäftigung mit demjenigen, der eine bestimmte Meinung hat, relativiert deren vermeintlich absolute Gültigkeit. Außerdem sollten bestimmte Kommunikationsregeln eingehalten werden, damit die Situation nicht eskaliert. Schließlich werden wir damit leben müssen, dass andere hartnäckig anders sind, als sie es unserer Meinung nach sein sollten.

In letzter Zeit erlebe ich immer öfter, wie aufgebracht manche Gespräche verlaufen. Auch ich gerate in solche Situationen. Bei diesen Gesprächen geht es zumeist — mehr oder weniger vordergründig — darum, sich gegen eine Corona-Infektion impfen zu lassen oder nicht. Es fallen Sätze wie: „Es ist doch unverantwortlich, sich nicht impfen zu lassen. Du gefährdest deine Gesundheit und unser Gesundheitssystem.“ Oder: „Mit der Impfung riskierst du mögliche Nebenwirkungen. Es ist doch völlig unklar, welche Langzeitwirkungen die Impfstoffe mit sich bringen. Stärke doch lieber dein Immunsystem.“

Die Menschen geraten in Streit über die richtige Sichtweise und regen sich auf, obwohl es beiden Seiten um dieselben Bedürfnisse geht, nämlich gesund und am Leben zu bleiben. Der eine hält seinen Weg für den besseren, der andere seinen. Die in einem Gespräch zum Ausdruck kommenden Konflikte haben Folgen. Sie führen dazu, dass Freundschaften zerbrechen, Familienmitglieder sich aus dem Weg gehen oder Kollegen die Zusammenarbeit meiden. Es entsteht eine Polarisierung zwischen den Menschen, zwischen Impfbefürwortern und Impfgegnern. Gräben entstehen, die sich durch die ganze Gesellschaft ziehen. Eine brisante Spaltung, denn sie gefährdet unseren gesellschaftlichen Frieden.

Warum reagieren wir so gereizt?

Der eine setzt beim Umgang mit Corona auf die Impfung, der andere vertraut auf sein Immunsystem und lehnt die Impfung ab. Die eigene Position stärkt jeder, indem er Fakten zusammenträgt, die seine Position rechtfertigen. Damit wird die eigene Sichtweise untermauert, Angst wird aufgelöst. In unserem Hirn kann wieder Stimmigkeit entstehen, ein Zustand, den der Neurobiologe Gerald Hüther als Kohärenz bezeichnet. Handelt und argumentiert jemand anders, als wir für richtig halten, fühlen wir uns angegriffen. Wir reagieren mit Verteidigung oder Gegenangriff. Dies erfolgt umso heftiger, je mehr die Gefahr besteht, dass eigene Angst, vielleicht sogar Todesangst, wieder aufbricht und damit die Kohärenz gestört wird. Bei solcher Angst kann es sich auch um Angst vor Gewalt, vor Armut oder vor Verlust freiheitlicher Rechte handeln.

Warum beurteilen wir Menschen eine Situation unterschiedlich?

Alle Menschen haben ihren individuellen Lebensweg. Wir erfahren auf diesem Weg unsere persönlichen Prägungen durch das Elternhaus, im Kindergarten, in der Schule, in der Ausbildung beziehungsweise im Studium, durch Freunde, Partner und Kollegen. Außerdem hat jeder Mensch spezifische Gene, die seine Entwicklung beeinflussen. Große Bedeutung haben auch die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen ein Mensch aufwächst. Die einen werden zur Eigenverantwortung erzogen, die anderen dazu, die Verantwortung für ihr Leben dem Staat zu überlassen. Durch die Einflussfaktoren auf unserem Lebensweg erwerben wir individuelle Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen. Jeder Mensch wird geprägt durch seine individuellen Erlebnisse.

Auf der Grundlage all dessen, was einem Menschen auf seinem Lebensweg widerfährt, entwickelt er spezifische

  • Wahrnehmungs-, Empfindungs-, Denk- und Verhaltensweisen,
  • Ansichten und Einstellungen,
  • Glaubens- und Antreibersätze,
  • Werte, Bedürfnisse, Gefühle, Strategien sowie
  • Wünsche, Erwartungen und Ziele.

Jeden Menschen prägt, woran er glaubt. Bei dieser Vielfalt an Prägungen ist es kein Wunder, dass Menschen Situationen unterschiedlich beurteilen.

So entscheidet sich ein Mensch mit einer ernsten Erkrankung wahrscheinlich für eine Corona-Impfung. Jemand, der in seinem Leben nie ernsthaft erkrankt ist, wird eher das Risiko von Nebenwirkungen meiden und „Nein“ zur Impfung sagen. Wichtig ist bei der eigenen Entscheidung, sich selbst zu fragen, was stimmig ist. Schließlich ist jeder Mensch für sein Leben selbst verantwortlich.

Sich seiner selbst bewusst sein

Will ich in gute Verbindung mit einem anderen Menschen kommen, muss ich mit mir selbst in Verbindung sein. Bin ich gerade aufgebracht beziehungsweise weiß ich, dass mich ein Thema „auf die Palme bringt“, ist es wichtig, sich zunächst größtmöglich zu entspannen. Das kann mir gelingen, indem ich beim Thema Impfung akzeptiere, dass Menschen unterschiedliche Ansichten haben können.

Was kann ich tun, wenn mich etwas in Rage bringt? Zuerst sollte ich mich fragen, ob ich etwas daran ändern kann. Kann ich es, dann heißt das, Lösungen zu suchen und umzusetzen. Kann ich an einer Sache nichts ändern, bleibt mir nur zu akzeptieren, dass es im Moment so ist, wie es ist.

Belastet mich das Thema Corona allzu sehr, kann hilfreich sein:

  • den Informationskonsum zu minimieren,
  • Gedankenhygiene zu betreiben und
  • sich Gutes zu tun.

Sich immer wieder mit einem Thema zu beschäftigen, das belastet, ist letztlich kontraproduktiv. Denn damit wühle ich immer wieder aufs Neue auf, was mich belastet.

Ich muss auch nicht täglich versuchen, möglichst keine Information zu verpassen. Es reicht, sich so viel zu informieren, wie zur eigenen Lebensgestaltung nötig ist.

Gedankenhygiene meint, dem Gedankenkarussell nicht freien Lauf zu lassen. Da heißt es auszusteigen und die Gedanken auf etwas zu lenken, das guttut, die Pläne für den nächsten Urlaub oder die lustigsten Erlebnisse mit Kindern und Enkeln. Wer gelernt hat zu meditieren, verfügt in dem Zusammenhang über ein wirksames Hilfsmittel.

Sich Gutes tun, bedeutet für mich beispielsweise, eine Wanderung in der Natur zu machen, gute Gespräche mit mir nahen Menschen zu führen, mir einen entspannten Saunatag zu gönnen oder mir einfach einen Latte macchiato zuzubereiten, natürlich ohne Kaffeeautomat.

Wie kann ich ein Gespräch in gutes Fahrwasser bringen?

Hilfreich kann sein, sich über die Beweggründe einer Entscheidung auszutauschen. Bei einem Geimpften kann hinter der Impfentscheidung die Angst stecken, bei einer schweren Coronaerkrankung die hilfsbedürftige Mutter nicht mehr unterstützen zu können. Ein Ungeimpfter kann große Angst vor den möglichen Nebenwirkungen einer Impfung haben, weil sein eigenes Kind unter Impfschäden leidet. Wir können Hintergründe erfahren und auf dieser Grundlage Verständnis und Mitgefühl füreinander entwickeln. So manch tiefer Graben kann so überwunden werden.

Allerdings ist es sehr unwahrscheinlich, einen Ungeimpften dazu zu bringen, sich impfen zu lassen. Auch wird kein Ungeimpfter einen Geimpften davon überzeugen, dass es falsch ist, sich impfen zu lassen. In den meisten Fällen sind die jeweiligen Positionen längst manifestiert. Druck verstärkt sie eher noch mehr. Wir können aber akzeptieren, dass wir unterschiedliche Ansichten haben. Die Managementtrainerin Vera F. Birkenbihl nannte dieses Einigen „Zweinigen“.

Wenn ich meinem Gegenüber Einblicke in mein Inneres gewähre, besteht die Chance, dass sich sein Herz öffnet und ein Gespräch zu einem verständnisvollen wird.

Eine Garantie dafür gibt es leider nicht, denn mein Gesprächspartner muss sich dem öffnen können. Ein möglicher Einstieg in einen Dialog könnte sein: „Magst du hören, wie es mir mit dem Thema geht?“ Ein „Nein“ heißt dann auf jeden Fall nein. Dieses zu übergehen, würde die Situation nur noch mehr befeuern. Mein Gegenüber will und kann zum betreffenden Thema nichts mehr hören und wird sich zur Wehr setzen. Ein „Ja“ kann Offenheit signalisieren. Ob diese tatsächlich besteht und Bestand hat, auch das ist leider nicht gewiss.

Brausen ich oder mein Gesprächspartner im Gespräch auf, ist es auf jeden Fall geboten, sich zurückzunehmen. Der Scherbenhaufen könnte nur größer werden. Eine ehrliche Selbstaussage ist dann hilfreich. Sie könnte lauten: „Ich bin gerade sehr aufgewühlt und kann dir nicht mehr zuhören.“

Gelingt ein Austausch über persönliche Beweggründe, besteht die Chance, gegenseitige Wertschätzung zu erfahren. Gelingt er nicht, bleibt nur die Frage, ob es ein anderes Thema gibt, über das sich beide Seiten austauschen möchten. Sonst empfiehlt sich nur noch, klar zum Ausdruck zu bringen, dass man über das betreffende Thema nicht sprechen möchte.

Brücken bauen, statt Gräben schaufeln

Die Gräben zwischen Einzelnen sind die Bausteine für die Gräben in der Gesellschaft. Doch selbst die tiefsten Schluchten können überwunden werden, indem wir Menschen Brücken bauen. Und das fängt mit Gesprächen an.

Ein gutes Miteinander ist so wichtig. Es macht uns das Leben einfacher und reicher. Verständnisvolle Gespräche sind dafür eine unverzichtbare Grundlage.

Wir sollten uns nicht von unseren Stimmungslagen mitreißen lassen, sondern stattdessen unseren Verstand gebrauchen. Akzeptieren wir gegenseitig unser Anderssein und sorgen wir trotzdem für ein gutes Miteinander. Meiden wir die Gespräche in aufgewühlter Stimmung und suchen wir Möglichkeiten, miteinander in einen für beide Seiten guten Dialog zu kommen.


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