Bildung ohne Schule
In den letzten Jahren ist die Homeschooling-Bewegung in Deutschland gewachsen.
Tausende Lehrer quittieren jedes Jahr in Deutschland den Schuldienst, zumeist trotz sicherer Beamtenstellung. Kinder und Jugendliche dürfen das nicht. Die gesetzliche Pflicht zwingt sie in die Schule. Alternativen sind praktisch nicht vorgesehen. Doch das lassen sich nicht mehr alle Eltern gefallen.
Die siebenjährige Lena weiß, was sie will: Sie will nicht in die Schule gehen. Obwohl sie erst die zweite Klasse besucht, hat sie schon die Schule gewechselt. Von Anfang an war es ihr in der Schule zu laut. Auch wurde sie wegen ihres kleinen Sprachfehlers gehänselt und schließlich gemobbt. Bald traute sich Lena nicht mehr zu sprechen. Die Lehrerin war schwanger und verließ zu den Weihnachtsferien die Schule. Danach gab es eine Zeitlang verschiedene Vertretungen, bis schließlich eine neue junge Lehrerin die Klasse übernahm. Diese erkannte Lenas Nöte nicht und forderte sie immer wieder auf, sich mehr am Unterricht zu beteiligen — und zu sprechen. Jeder Schultag war für Lena eine Qual. Aus dem vormals so fröhlichen Mädchen war innerhalb weniger Monate ein verängstigtes Kind geworden, das viel weinte und häufig unter Bauchschmerzen litt.
Nach mehreren unbefriedigenden Gesprächen mit der Lehrerin gelang es Lenas Mutter, dass ihre Tochter die Grundschule wechseln konnte. Das war nicht so einfach, denn in Deutschland herrscht Sprengelzugehörigkeit. Das bedeutet, dass jedem Kind aufgrund seines Wohnorts eine Grund- und Volksschule zugeordnet ist. Um in eine andere Regelschule gehen zu können, muss man einen Gastschulantrag stellen, der nur aus einem triftigen Grund genehmigt wird, insbesondere wenn die abgebende Grundschule unter geringen Schülerzahlen leidet. Zu den triftigen Gründen gehört beispielsweise, dass das Kind nach dem Unterricht nur von der Oma betreut werden kann, die im Schulsprengel der anderen Grundschule wohnt.
Wenn man keinen Gastschulantrag genehmigt bekommt, bleibt als einzige Alternative die Anmeldung an einer Privatschule — eine Alternative, die oft mit sehr hohen Kosten und langen Fahrdiensten für die Eltern verbunden ist.
Auch in der anderen Grundschule fühlt sich Lena nicht wohl. Für sie beginnt ein Leidensweg, der viele Jahre andauern wird. Es folgen Untersuchungen, Diagnosen und weitere Schulwechsel. Eine Diagnose lautet „Hochsensibilität“. Doch eine Schule für Hochsensible gibt es nicht. Und egal, wo Lena ist, ihr ist es überall zu laut.
Erwachsene dürfen kündigen
Wenn uns Erwachsenen unsere Arbeit und vielleicht sogar unser Beruf nicht mehr gefällt, dann wechseln wir die Arbeitsstelle oder beginnen vielleicht sogar eine neue Ausbildung. Frauen, die ein Kind bekommen, entscheiden sich, ob sie zuhause bleiben oder bald wieder in den Beruf einsteigen wollen. Wenn wir mit unserem Partner nicht mehr zurechtkommen, trennen wir uns. Wir verändern uns, immer danach bestrebt, die Umstände so zu ändern, dass wir glücklich werden können.
Auch viele Lehrer und Schulleiter fühlen sich an der Schule nicht wohl. Im vergangenen Schuljahr haben in Nordrhein-Westfalen über 930 Lehrer den Schuldienst verlassen — die Zahl hatte sich innerhalb von zehn Jahren mehr als verdreifacht (1)! Ebenfalls im Jahr 2023 quittierten in Baden-Württemberg 26 Schulleiter den Dienst — doppelt so viele wie noch im Jahr 2019 (2).
Ich selbst bin Sonderschullehrerin und bat 2016 um Entlassung aus dem Beamtenverhältnis. In einem letzten Versuch bot mir der Ministerialbeauftragte an, ich möge ihm eine Schule nennen, in der ich eingesetzt werden wolle. Er werde dann alles in seiner Macht Stehende tun, mich dort einzusetzen. Daraufhin fuhr ich durch den Großraum Nürnberg und sah mir die Förderschulen an, die sich in für mich erreichbarer Nähe befanden. Ich stieß auf Betonklötze und Schulen, die sich für Jahre in der Sanierung befanden oder deren Sanierung gerade anstand. Das hätte jahrelanges Unterrichten zwischen Baulärm und in Containern oder anderen provisorischen Klassenräumen bedeutet. Dort sollte ich nach einer anstrengenden Erziehungszeit mit vier Pflege- und Adoptivkindern meine Arbeits- und damit einen erheblichen Teil meiner Lebenszeit verbringen?
Ich reichte mein Entlassungsschreiben ein und wechselte in die Erwachsenenbildung. Obwohl meine dortigen Einkünfte aufgrund der hohen Abgaben nur einen Bruchteil meines Beamtengehalts ausmachten, habe ich den Wechsel nicht einen Moment bereut. Ich kann meinen Anbieter auswählen, und wenn es mir irgendwo nicht zusagt, kann ich den Anbieter wechseln. Ich kann sagen, dass ich etwas unter diesen oder jenen Umständen nicht mache. Ich muss mich nicht Verhältnissen aussetzen, unter denen ich nicht arbeiten will.
Als Lehrer und Schulleiter darf man aus der Schule aussteigen, doch als Schüler nicht. Warum eigentlich nicht? Es bleibt ihnen nur Anpassung oder Verweigerung. Hunderttausende Schulverweigerer und Schulschwänzer gibt es in Deutschland (3). Dazu kommen Schüler in ähnlich hoher Zahl, die für den Schulbesuch Medikamente wie beispielsweise Ritalin benötigen (4). Und die vielen Schüler, die krank werden, die Schule aber trotzdem besuchen, sowie diejenigen, die einfach „nur“ unter der Schule leiden. Im Film „Bildungsgang“ beschreiben und erzählen Jugendliche eindrücklich, wie es ihnen in und mit der Schule erging, wie sie unter dem Druck litten und was sie sich wünschen (5).
Die Schulschließungen 2020 ermöglichten neue Erfahrungen
Wenn es einem Kind in der Schule nicht gut geht, warum muss es diese dann noch besuchen? „Weil das Kind Anspruch auf Bildung hat“, heißt es dann. Doch mit den Schulschließungen ab dem Jahr 2020 gab es ein Experiment: Mehr und mehr Eltern haben erstmals auch in Deutschland ihre Kinder selbst beschult. Zunächst geschah dies zwangsweise und unter den Vorgaben der Schule.
Alle Eltern mussten im Frühjahr 2020 neben Arbeit und Alltagsroutine ihren Kindern helfen, die von einem Tag auf den anderen plötzlich zuhause lernen sollten: mit der Bereitstellung der nötigen Technik, mit dem Empfangen und Senden der Aufgaben aus der Schule und schließlich beim Erledigen derselben. Für viele Familien war das eine anstrengende Zeit, an die sie sich ungern zurückerinnern.
Als man die Testpflicht verweigern konnte und die Aufträge aus der Schule teilweise sogar ganz eingestellt wurden, merkten zahlreiche Kinder, wie gut ihnen das häusliche Lernen tat. Um das auch beibehalten zu können, als die Schulpflicht hierzulande wieder rigoros eingefordert wurde, wanderten manche aus, andere gingen auf Reisen, wieder andere fanden Schlupflöcher. Nicht wenige widersetzten sich auch dem Schulzwang mit dem Hinweis auf die im Grundgesetz verankerten Persönlichkeitsrechte und das Recht auf Selbstbestimmung, welche selbstverständlich auch für junge Menschen gelten.
So konnten in den Jahren ab 2020 erstmals seit Einführung der Schulpflicht 1919 tausende und zeitweise sogar zehntausende Familien auch in Deutschland die Erfahrung machen, was häusliche Bildung bedeutet (6). Dabei machten viele von ihnen erstaunliche Entdeckungen: Vieles lernt ihr Kind von ganz allein. Ihr Kind ist fröhlicher und unbeschwerter, wenn es die Schule nicht besucht. Wenn man sich im häuslichen Lernen dem Schulstoff widmet, dann geht es viel schneller. Wenn der junge Mensch dann schulische Prüfungen mitschreibt, schneidet er oft sehr gut ab. Während ich diesen Artikel schreibe, erreicht mich eine E-Mail aus Marokko:
„Um unserem Sohn Homeschooling zu ermöglichen, sind wir vor einem Jahr nach Marokko gezogen. Dort entwickelt er sich sehr gut und er ist ein selbstbewusster junger Mann geworden, der drei, und nun fast schon vier Sprachen spricht.“
Diese Erfahrungen sind bezaubernd und ermutigend.
Zahlreiche deutsche und internationale Persönlichkeiten haben im Homeschooling gelernt: Johann Wolfgang von Goethe, Wolfgang Amadeus Mozart, Blaise Pascal, Thomas Alva Edison und viele andere.
Was wäre aus ihnen geworden, wenn sie in ein allgemeines Pflichtschulsystem gepresst worden wären? Viele Geistesgrößen, die das Schulsystem durchlitten, kritisierten es heftig: „Ich hatte das Gefühl, dass mein Wissensdurst von meinen Lehrern erstickt wurde“, sagte Albert Einstein einmal. Und Hermann Hesse stellte in seinem Roman „Unterm Rad“ dar, wie ein rigides Schulsystem Jugendliche in den Suizid treiben kann.
Neben der allgemeinen Schulkritik waren es in den vergangenen Jahren die Corona-Maßnahmen, die viele Eltern ihre Kinder der Schule fernhalten ließen. Sie wollten sie den nachweislich schädlichen Maßnahmen wie Maske-Tragen, Abstand halten oder Hände desinfizieren nicht aussetzen. Und seit 2020 gibt es noch einen weiteren Grund, warum Eltern ihre Kinder dem derzeitigen deutschen Schulsystem nicht anvertrauen wollen: Es ist der Wertekanon, der in Schulen landauf landab in allen Unterrichtsfächern gepredigt wird und mit dem sehr viele Eltern nicht einverstanden sind. Dazu gehört ab dem Jahr 2020 das Predigen von „Solidarität“ und das Einfordern von Rücksicht gegenüber Menschen, die Angst vor COVID-19 hatten, während gleichzeitig keine Rücksicht auf einsame Menschen, auf Menschen, die keine Maske tragen können, oder generell auf Andersdenkende genommen wurde. Des Weiteren konfrontiert man nun, den neuen Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) folgend, Kinder in frühem Alter mit unterschiedlichsten sexuellen Ausdrucksformen und ermutigt sie zu geschlechtswechselnden Maßnahmen.
Anstatt den Kindern zu helfen, in ihr eigenes Geschlecht hineinzufinden, verunsichert man sie damit zutiefst. Dazu kam die einseitige Positionierung mit dem Beginn des Ukraine-Kriegs.
Eltern erleben, dass die Schule nur noch in seltenen Fällen ein Ort ist, an dem alle Sichtweisen und Meinungen offen ausgesprochen werden können. Unter dem Deckmantel der „Demokratiebewahrung“ werden Menschen, die in politischen und gesellschaftlichen Fragen anders denken, als es der vorgegebene Meinungskorridor erlaubt, als „rechts“ diffamiert.
Das gilt derzeit in Politik und Medien, und so ist es auch in der Schule. Damit verletzen die Lehrer die Postulate des in den 1970er Jahren formulierten Beutelsbacher Konsens auf Gröbste. Dort wird nämlich gefordert, dass die Kontroversität, die in Gesellschaft und Wissenschaft vorherrsche, auch in der Schule ihren Platz haben und zur Sprache kommen müsse. Der Beutelsbacher Konsens geht sogar noch weiter. Er spricht von einer „Korrekturfunktion“ des Lehrers und fragt, ob dieser nicht besonders solche Standpunkte und Alternativen herausarbeiten müsse, die den Schülern fremd seien (7). Doch Lehrer, die das heute tun, geraten selbst ins Fadenkreuz der Kritik.
„Nein“, sagen viele Eltern.
„Nicht mit meinem Kind. Mein Kind soll frei und unbeschwert aufwachsen dürfen. Es soll jederzeit seine Meinung sagen dürfen, ohne ausgegrenzt und diffamiert zu werden.“
„Doch wie soll das gehen?“, fragen sie sich dann. „Kann mein Kind auch ohne Schule gebildet werden?“
Unterstützung beim häuslichen Lernen
Ja, das geht. Seit 2020 begleite ich mit meiner Initiative „Homeschooling wagen“ — und mit mir viele andere Einzelpersonen und Gruppierungen mit entsprechender Ausbildung beziehungsweise Expertise — Eltern beim häuslichen Lernen mit ihren Kindern. Wir geben Tipps, Anregungen und Fachinformationen. Wir empfehlen Materialien. Wir unterstützen Eltern in rechtlichen und auch in pädagogischen Fragen. Manche von uns bieten Online-Unterricht für Kinder und Jugendliche an. Auf Online-Kongressen, Vorträgen und Seminaren beleuchten wir unterschiedliche Themen aus verschiedenen Blickwinkeln. In zahlreichen Gruppen können Eltern Fragen stellen und Erfahrungen austauschen.
Um Eltern, Mitarbeitern in Behörden und politischen Entscheidungsträgern anschaulich aufzuzeigen, wie selbstbestimmte häusliche Bildung aussehen kann, habe ich elf Geschichten von Kindern gesammelt, die ein, zwei oder mehrere Jahre zuhause gelernt haben, und in einem Buch mit dem Titel „Bildung ohne Schule kann gelingen“ veröffentlicht. Darin erzählen ihre Eltern oder sie selbst, wie sie das gemacht haben. Auch Schwierigkeiten sparen sie nicht aus, die oft Anstoß zu einer Entwicklung hin zu etwas Neuem waren. Die Berichte umfassen unterschiedliche Kinder: Kinder, die schon vorher unter der Schule gelitten hatten, Kinder, die sich vor den Corona-Maßnahmen in der Schule wohlgefühlt hatten, Kinder mit unterschiedlicher Begabung sowie Kinder und Jugendliche verschiedenen Alters. Kinder, die überhaupt nicht erst eingeschult wurden, bis hin zu Jugendlichen, die sich extern auf einen Schulabschluss vorbereiten.
Gerade Letzteres wird neben den sozialen Kontakten oft als Kritikpunkt an der häuslichen Bildung genannt.
Doch um einen Schulabschluss zu erreichen, muss man nicht neun, zehn oder mehr Schuljahre die Schulbank gedrückt haben! Jeden Schulabschluss kann man auch extern ablegen.
Außerdem braucht man aus rechtlicher Sicht keinen bestimmten Schulabschluss, um eine betriebliche Ausbildung beginnen zu können. Die Bundesagentur für Arbeit weist ausdrücklich darauf hin: „Die Ausbildungsbetriebe können selbst festlegen, welchen Schulabschluss sie bei ihren Auszubildenden voraussetzen“ (8). Jugendliche können sich einen Ausbildungsbetrieb wählen, der sie ohne Schulabschluss und allein aufgrund ihres Engagements, ihrer Neugier, ihrer Tatkraft und anderer wertvoller Kompetenzen einstellt. In der Berufsschule können sie dann gegebenenfalls bestehende Lernlücken schließen.
Es ist eine anerkannte Tatsache, dass der Bildungserfolg der deutschen Schulen unzureichend ist. Die PISA-Ergebnisse zeigen immer wieder neu das Versagen des deutschen Bildungssystems auf. Doch es gibt eine Alternative: Eltern, die dies leisten können und wollen, können ihre Kinder zuhause selbstbestimmt bilden. Es ist höchste Zeit, dass das auch rechtlich ermöglicht wird. Zu meinem Buch schrieb der Neurobiologe Prof. Gerald Hüther, der gleichzeitig Vorsitzender der Akademie für Potentialentfaltung ist:
„Wir können nur neue und bessere Lösungen für ein Problem finden, indem wir ausprobieren, ob es auch anders als bisher gelöst werden kann. Und wenn wir herausfinden, dass es so besser funktioniert, wäre es ein Zeichen von Dummheit und Ignoranz, wenn wir anschließend einfach so weitermachten wie bisher. (...) Was spricht eigentlich noch dagegen, dieses zukunftsweisende Modell selbstbestimmten Lernens überall dort umzusetzen, wo es besser als in der Schule funktioniert? Oder wollen wir doch lieber einfach so weitermachen wie bisher?“ (9)