Bildung adé!
Ein offener Brief gegen die Zerstörung der Pädagogik im Land erklärt, warum das Scheitern von Lehrern beabsichtigt ist.
Die neoliberale Bildungspolitik ist im Kern unmenschlich, denn niemand schert sich darum, wie es den Kindern und den Lehrern damit geht. Dass Kinder ganz andere Rahmenbedingungen brauchen, um fröhlich, selbstbestimmt und hochmotiviert zu lernen, wird belegt durch viele Forschungsprojekte und sehr erfolgreiche Praxis an einigen Schulen. Auch das wird von der Politik ignoriert.
Brief an die Grundschullehrerinnen und -lehrer*
Sehr geehrte Grundschullehrerin, sehr geehrter Grundschullehrer,
weiß der Himmel, warum Sie sich für diesen Beruf entschieden haben. Sollten Sie zu denen gehören, die ihren Beruf aus Liebe zur Aufgabe gewählt haben, dann sollten Sie jetzt weiterlesen. Haben Sie einfach Lust auf die Herausforderungen gehabt, die die Arbeit mit Kindern immer mit sich bringen? Gut so. Und am Ende wollten Sie mit Ihrem Engagement einen sinnvollen Beitrag für diese Gesellschaft leisten? Dann mal zu.
Wahrscheinlich hat Ihnen niemand gesagt, in was Sie da hineingeraten. Es könnte sein, dass für Sie in früheren Zeiten der Schulhimmel noch voller Geigen hing. Es heißt, früher waren Kinder noch gut erzogen. Die Lehrpläne waren übersichtlich. Es war klar, was man zu tun hatte und man genoss Respekt bei den Kindern und den Eltern. Vielleicht hatten Sie noch gute Erinnerungen an den Beginn Ihrer Schulzeit und waren in dem Glauben, Sie könnten nun an den Ort der Unbefangenheit und gemütlicher Ordnung zurückkehren. Vielleicht waren Sie schon in der Grundschulzeit unglücklich und wollten es besser machen mit den Kindern, die Ihnen jetzt anvertraut werden.
Wie dem auch sei: Jetzt sitzen Sie in der Schule vor diesen vielen Kindern.
Da ist zum Beispiel ein Junge. Der ist noch nicht trocken. Das darf niemand wissen. Sie als Lehrerin auch nicht. Er denkt an Nichts anderes. Und da ist ein Mädchen. Ihr Vater ist vor einem Jahr ausgezogen und sie liebt es, sich stundenlang mit Käfern, Spinnweben und kleinen Steinen zu beschäftigen. Sie träumt, sie wär‘ ein Einhorn. Ein Junge hat keine Sorgen. Er geht immer über Tische und Bänke und weiß noch nicht, dass es auch anders geht. Ist er richtig sauer, pinkelt er auf den Fußboden.
Ein Mädchen ist immer laut. Es hat noch niemand herausgefunden warum. Dafür spricht eine andere nicht. Nur mit den Eltern und der Oma. Mit anderen Kindern spricht sie nur, wenn garantiert kein Erwachsener in der Nähe ist. Und das spindeldürre Mädchen ist eine geborene Athletin. Es ist ihr körperlich nicht möglich, bewegungslos auf einem Stuhl zu sitzen.
Jedes dieser Kinder und auch noch die fünfundzwanzig anderen bringen ihre Geschichten mit. Und in jeder Geschichte verbirgt sich ein Auftrag an Sie, liebe Lehrerin, lieber Lehrer. Und mit diesem Auftrag ist nicht der sogenannte moderne Bildungsauftrag gemeint, sondern ein menschlicher.
Das hat Ihnen im Studium niemand gesagt. Sie erfuhren Nichts über die Entwicklung von Wahrnehmung, Psychomotorik und das Seelenleben der Kinder. Sie kennen die Risiken und Dramen in der heutigen Kinderwelt nur vom Hörensagen. Sie wussten z.B. nicht, dass Bewegungsmangel und Reizüberflutung und häufige, oft fahrlässige Medikamentengaben die Konzentrationsfähigkeit vieler Kinder zerstört haben. Man sagte Ihnen Nichts über Auswirkungen von Armut in den Familien. Sie lernten Nichts über das Leiten großer Kindergruppen, über die Sinnlosigkeit von Verboten und moralischen Appellen. Sie kennen aber die grundlegenden pädagogischen Weisheiten, von denen die Wichtigste lautet: Kinder kann man nicht ändern, im günstigsten Fall aber unterstützen. Pädagogische Bescheidenheit üben oder gleich aufgeben?
Was wissen Sie über aggressive, sehr unruhige oder verträumte Kinder – außer, dass es für jeden Fall ein Medikament gibt. Wie sollen Sie damit umgehen, dass vor Ihnen Kinder sitzen, die alters- und entwicklungsmäßig sehr weit auseinander sind? Und jetzt kommen im Rahmen der Inklusion, die Sie doch aus tiefstem Herzen bejahen, noch Kinder dazu, die noch mehr Aufmerksamkeit und Anleitung brauchen.
Was für eine gewaltige Herausforderung, allen Kindern in der gleichen Zeit mit denselben Methoden die gleichen Fähigkeiten zu vermitteln. Allen Kindern? Nein, nicht allen. Da sind noch diejenigen, die schon schreiben und lesen können, wenn sie eingeschult werden. Was machen Sie mit denen?
Sollten Sie auf alle diese Fragen theoretisch eine gute Antwort gefunden haben: Herzlichen Glückwunsch. Sie lieben diese Kinder. Sie sehen das riesige Potential in jedem von ihnen. Sie sehen oder ahnen, was in ihnen vorgeht. Wieviel Zeit die Kinder brauchen! Jeder für sich, für jeden einzelnen Entwicklungsschritt. Und diese Entwicklungsschritte führen die Kinder in eine Richtung, die Sie gar nicht kennen. Aber Sie haben Vertrauen darauf, dass alles in dem Kind angelegt ist und, dass Sie als Lehrerin den Weg putzen müssen, damit das Kind unbeschwert darauf voranschreiten kann. Sie sind eine wirklich tolle Lehrerin. Offensichtlich haben Sie Herz, Sachverstand und unfassbar viel Geduld und Energie.
Und jetzt kommt die schlechte Nachricht: Das reicht nicht. Das ist gar nicht gewollt. Das ist gar nicht Ihr Auftrag.
Sie sollen allen Kindern zur gleichen Zeit mit den gleichen Methoden den gleichen Unterrichtsstoff einbimsen. Sie sollen den kindlichen Geist zerlegen in Kompetenzen. Die Kinder analysieren, sie sezieren über Tests, Tests und noch mal Tests. (Zerlegt, analysiert und präpariert man einen Käfer, ist er leider hinterher tot.) Sie sollen die Kinder immer wieder damit konfrontieren, dass Sie Defizite haben und sie „motivieren“, an den Defiziten zu arbeiten. Das ist der Defizit-Geier-Blick.
Ein Kind muss beschleunigt werden. Eines muss ruhiger werden, ein anderes muss das „Verspielte“ aufgeben. Kinder müssen mehr Konzentration entwickeln. Kinder müssen in der Wahrnehmung geschult werden. Kinder müssen sich auch mal für andere Fächer interessieren. Die Liste lässt sich mühelos fortsetzen. Fragen Sie mal Eltern nach dem Elternsprechtag.
Überlegen Sie, welches Kind in Ihrer Klasse zu hundert Prozent so ist, wie es „sein sollte“: Lerntempo, Auffassungsgabe, Kognition, Sozialverhalten … all diese seltsamen Kriterien. Wenn Sie ehrlich sind, dann sind es höchstens zwei oder drei – von dreißig. Was ist mit dem Rest? Ist das der neue „Rest“ dieser Gesellschaft?
Wenn die Kinder all das MÜSSEN, dann MÜSSEN Sie den menschlichen Auftrag, den ein jedes Kind an Sie hat, ignorieren.
Letztendlich geht es nur darum, wie viele Kinder Ihrer Grundschule hinterher auf das Gymnasium wechseln können. Der Output muss stimmen.
Niemand fragt danach, ob Sie viel mehr Zeit für die einzelnen Kinder brauchen, kleinere Klassen, Unterstützung bei der Begleitung der Kinder und Familien – sozialarbeiterisch, psychologisch, therapeutisch.
Niemand bietet Ihnen Supervision, kollegiale Unterstützung und erstklassige Fortbildungen, zu den Themen, die wirklich brennen. Niemand geht mit Ihnen, wenn Sie grundlegende Änderung an der Schule anregen, diskutieren und durchsetzen wollen.
Stattdessen gibt es Anweisungen für optimierte Lernverfahren. Pädagogisch, organisatorisch und in der grundsätzlichen Ausrichtung wird alle paar Jahre eine neue Sau durch das Dorf der Schulpolitik getrieben und Nichts wird besser durch die hundertste Schulreform. Angefangen vom erbärmlichen Zustand vieler Räumlichkeiten über die Klassengrößen und den gravierenden Lehrermangel bis zu der exorbitanten Zunahme „nicht-pädagogischer“ Aufgaben: Der Druck ist gestiegen. Und der Druck der Eltern kommt noch oben drauf. (Frau Müller muss gehen!)
Sie werden zum Handlanger einer Politik, die Ihren Idealismus zerstört, Ihren Handlungsspielraum massiv einschränkt und die Ihnen permanent einredet, das wäre effektiver und würde sogenannte „Bildungsgerechtigkeit“ schaffen.
Dabei ist es so sehr menschlich, Erfahrungen, Überlebensstrategien, fundiertes Wissen, Mut und Zuversicht an kleine Menschen weiterzugeben, die Nichts anderes wollen, als das zu lernen.
Und war Pädagogik nicht mal eine Kunst? Die Kunst herauszufinden, wie ein Kind lernt? In welchem Tempo, mit welchen Themen und welchen Rückschlüssen?
Indem man es Ihnen faktisch unmöglich macht, jedem Kind gerecht zu werden und Sie deshalb den menschlichen Auftrag ignorieren müssen, und Ihnen gleichzeitig suggeriert, dass die modernen Lernmethoden ( E-learning!) effektiv und garantiert erfolgreich sind, geraten Sie in ein Dilemma. Denn wenn es nicht klappt, dann sind Sie es, die/der versagt hat.
Da liegt es doch nahe, Lehrer gleich durch Computer zu ersetzen. Vielleicht können die besser umgehen mit blassen, unruhigen und verängstigten Kindern. Vielleicht macht denen die Lautstärke nichts aus in einem stickigen überfüllten Klassenraum.
Die neoliberale Bildungspolitik ist im Kern unmenschlich, denn niemand schert sich darum, wie es den Kindern und den Lehrern damit geht. Dass Kinder ganz andere Rahmenbedingungen brauchen, um fröhlich, selbstbestimmt und hochmotiviert zu lernen, wird belegt durch viele Forschungsprojekte und sehr erfolgreiche Praxis an einigen Schulen. Auch das wird von der Politik ignoriert.
Es wird viel gescheitert an deutschen Schulen und es ist nicht Ihre Schuld, liebe Lehrerinnen und Lehrer. Es ist die Folge einer Politik, die Menschen als „Humankapital“ betrachtet und nach ihrer Verwertbarkeit beurteilt.
Wenn Politiker heute davon reden, dass sie noch mehr Geld in Bildung investieren wollen, dann meinen sie nicht, dass Ihre Arbeitsbedingungen besser werden sollen. Sie bekommen lediglich noch mehr digitale Technik an ihrer (maroden) Schule und garantiert nicht mehr Lehrer.
Dass Sie trotzdem immer wieder versuchen eine gute Arbeit zu machen, dafür verdienen Sie Respekt. Letztendlich liegt es an uns allen, ob wir weiter den falschen Versprechungen der neuen „Bildungsmacher“ auf den Leim gehen wollen oder endlich mit vereinten Kräften gegen diese Politik vorgehen.
Ihre
Ursula Wesseler
P. S: In einer Universitätsstadt in Ostwestfalen werden Schulen gerade in großem Rahmen digitalisiert. Die Lehrer – so hört man- bekommen jeder noch ein neues Tablet gratis dazu.
Wie wäre es, wenn Sie und Ihre Kolleginnen/Kollegen die Tablets einfach zurückgeben mit dem Vermerk: Tausche Tablet gegen mehr Lehrer oder kleinere Klassen?