Bildgewalt statt Bildung
Historische Dokumentationen im TV verkommen zum kurzweiligen Bilder-Fast-Food, bei dem die Zuschauer nur schauen, aber nicht sehen.
Der folgende Essay wurde vor einigen Jahren in der von Georg Seeslen herausgegebenen Filmzeitschrift Getidan veröffentlicht. Im Zuge der aktuellen Ereignisse wurde er vom Autor etwas verändert beziehungsweise überarbeitet. Die Betrachtungen beschränken sich — aus der Sicht einer Zeit vor Corona — auf ein TV-Genre: die historische Dokumentation. Sie wird hier in den Rahmen der jüngsten Medienentwicklung ganz allgemein gestellt. Die zentrale Frage lautet: Wie gehen wir mit unserer Geschichte und Vergangenheit um? Das Interesse an Geschichte orientiert sich seit etwa 30 Jahren weniger an Faktenvielfalt und womöglich neuen Aspekten der Forschung als vielmehr an der bunten Gefühlswelt des „Storytelling“.
An Geschichte zählt, was Gefühle erzeugt und abruft, nicht der Impetus an Aufklärung. Exekutiert wird dieses Vorhaben in Form von sogenannten Reenactments. Es handelt sich dabei, wie Google weiß, um „die Inszenierung konkreter geschichtlicher Ereignisse in möglichst authentischer Art und Weise“.
Zwar ist die große Welle historischer Dokumentationen inzwischen etwas abgeebbt, das zwanghafte Festhalten am Prinzip des „Story telling“ aber dringt in alle Bereiche der Medien ein. Die Redakteursfrage an den Film-Autor, der ich 25 Jahre lang selbst war, lautet: „Wie machst du aus Themen und Geschichte genießbare, konsumierbare Geschichten?“ Dies hat nicht nur das Genre verändert, sondern die Autoren selbst, die sich an Formate und ästhetische Valeurs halten müssen oder sich schon an sie gewöhnt haben, vor allem an vermutete Gefühlsvorgaben der Zuschauer.
Man kann in diesen Entwicklungen ein Vorspiel für das Narrativ Corona sehen: Die Moderatoren des Coronaszenarios bedienen das Bedürfnis der Zuschauer, indem sie es überhaupt erst über eine Ökonomie der Aufmerksamkeit, gebildet aus Alarmismus, Panik und Gewöhnung, erzeugen.
Am Ende droht eine Vermittlung von Geschichte, in welcher diese in Fast-Food-Manier verhackstückt wird und sich leicht für politische Ziele instrumentalisieren lässt.
Sollte es am Ende so sein, dass das Narrativ Corona seine größten Erfolge da feiert, wo es das historische Bewusstsein auslöscht?
Es bleibt dann nichts als ein fiebriger Aktualismus, der sich von Story Telling nährt und letztlich eine metaphysische Leere erzeugt.
Ein Streifzug durch die jüngste Filmgeschichte
Wieder einmal eine historische Dokumentation im TV: „Die Sintflut — Mythos und Wirklichkeit“. So der Titel. Und schon tauchen sie auf, Gestalten in biblischen Gewändern; die Wüste lebt, überwölbt von einem auf uns zu fliehenden Himmel, bevor vor dezent ausgeleuchtetem Hintergrund der Kopf eines Archäologen ins Bild kommt. Der Mann wirkt, als wolle er weit ausholen, aber dann sagt er etwas, das unter dem spürbaren Zwang steht, pointiert und just in time zu sein. — Man hat den lebenden O-Ton wohl im Schnitt in die entsprechende Fasson gebracht. Wieder einmal geht es darum, den zum Wegzappen neigenden Zuschauer in ein Augenblicksszenario zu bannen oder, wie es neudeutsch und redaktionell an den Fernsehautor gerichtet heißt: an die Hand zu nehmen.
Und wieder schwimmen in Slow Motion und übereinander geblendet Wüstenbewohner durch das Bild, während der Kommentar von einer sensationellen Entdeckung spricht, die flugs durch das Bild eines kraushaarigen Jungen bestätigt wird, der in einer Sandmulde hockt und mit einem kleinen Pinsel Wüstenstaub aus einem Stein wischt. Rillen werden sichtbar, Hieroglyphen, so will es uns das Filmbild suggerieren. Tausende Jahre, tausende Jahre, erzählt dieser Beitrag und wir — wir liefern sie dem Zuschauer hautnah, gefühlsecht. Häppchenweise und zugleich strömend. — Ansonsten zündet das Thema Geschichte wohl heute nicht mehr.
Ein anderes Beispiel: Eine Luther-Dokumentation „Martin Luther — The reluctant revolutionary“ aus dem Jahre 2002 bringt Reenactments, wie sie heute üblich sind. Ausladende Szenen mit Luther und vielen Statisten wechseln mit symbolischen Bildern, die nicht minder Gravitätisches heraufbeschwören: eine Hand über einer Kerze, eine ebenfalls in Slow Motion aufspritzende Pfütze, natürlich die unvermeidlichen beschleunigten Wolkenformationen, Schnee, der unter den Hufen eines Pferdes aufwirbelt, von einem New-Age Sound unterlegt.
Luther bewegt seine Gesichtsmuskeln, während der Kommentator dessen Entschlossenheit preist.
Eine andere Gesichtsaufnahme zeigt den Reformator als Erzürnten — aber verbal ausdrücken darf sich dieser Luther nicht. Der Kommentator erledigt das für ihn. Er gleitet über Gestik und Handlung hinweg nicht im Stile eines Erzählers, sondern dem eines Effekte setzenden Infotainmentmanagers. Allein die Flow (Fließ)-Ästhetik des Films zeigt die großen Unterschiede zu früheren Produktionen dieser Art. Etwa zu einem Film aus dem Jahre 1983.
Die Produktionsfirma Eikon gab 1983 zu Luthers 500. Geburtstag den Streifen „Martin Luther“ in Auftrag. Obwohl ein Spielfilm bedient er sich dokumentarischer Mittel. Die meisten Szenen wurden in einer Kirche in Nürnberg gedreht, die hier als Topos (Ort) verstanden wird für das „Wesentliche“ an Martin Luther. Ein bewusster Minimalismus, auf dem der Drehbuchautor Theodor Schübel bestanden hatte. Heute stieße er mit diesem Ansinnen in den Geschichtsredaktionen wohl auf Granit. Das „Wesentliche“ — was soll das denn sein?
Im selben Jahr liefert Regisseur Kurt Veth eine DDR-Filmproduktion, eine auf 5 Teile ausgeweitete Luther-Saga. Die stark sozialgeschichtlich akzentuierte Darstellung Luthers sucht mittels längerer, wirklich eindrucksvoller Dialoge dem Zuschauer die geistige Spannkraft der Revolution Luthers näher zubringen. Man ist verblüfft: Kaum Ideologie wirkt hier ins Filmgeschehen ein, vielmehr ist ein Ringen spürbar um Erklärung des uns geschichtlich so fern Liegenden: Warum dieses verzweifelte Ringen Luthers um Glauben und Gnade? Warum seine Härte gegenüber den Bauern? Luthers explosive Sprachmächtigkeit: Wie entstand, entfaltete sie sich damals? Es ist der Versuch einer subtilen Annäherung an ein Phänomen — ohne emotionale Verbreiung. Auch das war die DDR.
1983/84 — war da nicht was? Richtig. Die Geburtsstunde des Privatfernsehens. RTL liefert erstmals. Täglich eine billig produzierte Show mit leicht bekleideten Girlies, die einen damals an die Darstellerinnen aus den übel riechenden Pam-Sex-Kinos erinnerten. Geliefert hatte zur selben Stunde auch Edgar Reitz mit der ersten Staffel seiner Heimattrilogie. — Große Zuschauerresonanz bis zu 12 Millionen, welche die langen schönen Einstellungen ohne den üblichen Ben Hur-Aufschlag verfolgten. Eine alte Frau, die Kartoffeln schält und spricht, eine Dorfstraße: Heimatkunde, die Kindheitserinnerungen weckt — wehmütige ob der Distanz, der verlorenen Zeit. — Zehn Jahre später erhält die Fortsetzung der Heimattrilogie eine Quote von nur noch etwas mehr als 2 Millionen Zuschauern. Und diese zehn Jahre später wären auch die zuvor genannten Lutherfilme kaum noch sendbar gewesen. Da gab es wohl einen Turning Point, der TV-Politik und unsere Sehgewohnheiten auf eine neue Schiene zwang.
Historische Dokumentationen, auch die mit fiktionalen Elementen, wiesen bis dahin einen hohen Anteil an Sprache und Dialogen auf, die häufig in kammerspielartigen Szenen die Aufmerksamkeit des Zuschauers forderten und damals auch noch fanden. Derlei gilt heute als unfilmisch, nicht authentisch, unzeitgemäß.
Was sich hernach im Fernsehen in diesem Genre tat, lässt sich in zwei Phasen aufteilen. In den 1980er Jahren hinterließ die Postmoderne ihre Spuren auch im Film- und TV-Betrieb. Für historische Dokumentationen keine gute Zeit, da nach der damals vertretenen These vom „Ende der Geschichte“ die historischen Großerzählungen als ideologisch eingestuft und demzufolge lustvoll in ihre trashigen Bestandteile zerlegt wurden.
Wahn auf allen Kanälen
Dann aber geschah auch für die postmoderne TV-Avandgarde Unvorhergesehenes: Das Ende der Geschichte, das der US-Amerikaner Francis Fukuyama ausgerufen hatte, wurde durch die Ereignisse in Osteuropa und den Wiedereintritt der Weltgemeinschaft in die Geschichte ab 1990 massiv in Frage gestellt und verworfen. Und seither gilt die Wiederaufbereitung der Geschichte als anhaltender Wahn auf allen Kanälen.
Die Rückkehr der Erzählungen, der Historien- und Familienromane, der Gestalten, Legenden, Helden, Mythen; sie ist bis heute in allen möglichen Variationen der Kultur angesagt, prägt vor allem jenen TV-Boom, dessen unerbittlicher Zuchtmeister Guido Knopp ist. Er machte History zu einer Marke, in der sich der Zeitgeist spiegelt; History is everywhere.
Und hier kommt das Reenactment ins Spiel. Das Reenactment, jener reißerisch inszenierte Kurzschluss zwischen den Ereignissen von gestern und den Gefühlen von heute.
Es begann wohl alles in der BBC, die mit den drastisch ausgespielten Reenactments einem typisch englischen Naturalismus folgte.
Etwas später sollte das deutsche TV den Faden aufgreifen. Ein Beispiel aus eigener Erfahrung zeigt noch einmal den Unterschied innerhalb der Formate: 1988 lief auf SWR eine mehrteilige Dokureihe zu den Kreuzzügen im Mittelalter. Was damals zu sehen war, zeugte von einer entwaffnenden Schlichtheit: Der erzählerische Faden in den Filmen wurde durch einen Kommentar vorgegeben, der den Weg der Kreuzfahrer beschrieb. Dazu sah man verschiedene Landkarten, auf denen rot angezeigt die Reise der Ritter nachgezeichnet wurde, wichtige Orte wurden durch Neudrehs dokumentiert, in denen aktuelles Alltagsgeschehen integriert war. Dazu traten vereinzelte O-Töne von Experten. Ein leichter Musikteppich grundierte die Reihe. Die Tatsache, dass ich diesen eher unspektakulären Geschichtsunterricht so stark erinnere, lässt mich fragen: Warum nur ist das in meinem Kopf hängengeblieben?
Es könnte natürlich mit damaligen Erfahrungen und Erwartungen zusammenhängen. Von heute aus drängt sich mir ein anderes Argument auf:
Ich hatte als Zuschauer in einer noch überschaubaren Medienlandschaft mit wenigen Geschichtsdokumentationen und ästhetischen Wertmarken die Möglichkeit, meine eigenen Bilder im Kopf in diesen eher spröden Film einzubringen.
Eineinhalb Dekaden später eine völlig andere Situation. Da finde ich mich in einer dramatisch veränderten Zuschauerposition: in der des Verführtwerdens. Als Mitglied einer von verschiedenen Mächten zugerichteten Emotionsgemeinschaft.
Mein Führer ist der Schauspieler Maximilian Schell. Er steht leicht ergraut in einer großen Kathedrale. Sein Blick ist durchdringend, seine Kleidung, sein Auftreten, das Ambiente: Es könnte auch aus einem Exorzistenfilm stammen. Die Frage ist nur: Was soll mir, dem Zuschauer, ausgetrieben werden? Maximilian Schell leitet uns durch die „Geschichte der Deutschen“ — und wie schon seine tönern raunende Stimme erwarten lässt, geht es um Großes und das heißt um große Deutsche.
Maximilian Schell — und dahinter steht natürlich die Regie — möchte uns Geschichte als eine Suggestion nahebringen, die uns möglichst unmittelbar erreicht oder, wie es neudeutsch heißt, bewegt und berührt. Dazu sind die Reenactments da, die dann auch prompt folgen: Ein Schwert sticht schräg gegen den Himmel in die Erde und wackelt dabei; ein Pferd wiehert; eine Hand fasst die andere; um die Ecke marschiert ein Tross von Schwertträgern. Alles umtost von orchestraler Musik. — Um was und wen geht es? Das sucht uns der über all diesen Bildwellen gleitende Kommentar ebenso eindringlich wie fast vergeblich einzubläuen: um Barbarossa? Um Luther? Oder Lassalle? — Nehmt es doch, wie es kommt!
Was hier verstimmt und gleichzeitig die Wahrnehmung einschnürt, ist eine mehr oder weniger durchscheinende Absicht: Geschichte wird verfügbar gemacht in einem ästhetisierenden Akt, in dem Distanzen von jetzt zu damals eingeschmolzen werden und letztlich alle Katzen grau erscheinen. In Filmen wie „Ben Hur“ mochte das immerhin ein illusionistisches langes Epos ergeben, das auch der späteren Erinnerung dienlich sein konnte: In den heute so zahlreich gesendeten Historien-Dokus hingegen wird eine Verquirlung und Vermatschung von Gegenwart und Vergangenheit vollzogen, aus der keine wirkliche Erinnerung erwachsen kann.
Vielmehr nähert sich diese Form der clipartigen Zurichtung von Geschichte und Geschichten dem Pornofilm an. Es geht im Pornofilm ja eigentlich um den sexuellen Akt — aber direkt anfangen mag die Regie damit nicht. Sie baut also eine Geschichte darum auf, die zwei Funktionen erfüllen soll. Einmal ein bisschen Drumherum liefern; zum anderen bereitet diese Schrumpfform von Erzählung dem Zuschauer aber auch eine Art doppelten Boden: Sieh mal; zuerst sitzt die Dame gesittet an der Schreibmaschine — und fünf Minuten… na bitte; so sind sie halt...
In vielen Dokus — oftmals aus dem Lande „Terra X“ — läuft es kaum anders: Man suggeriert Epik, ein Drumherum, aber im Werbe-Clipformat. Und all die vielen Einspielungen von zuckenden Gesichtsmuskeln und Augenaufschlag dienen allein dem Zweck, die Aufmerksamkeit des Zuschauers hochzuhalten in Hinblick auf geile Augenblicke, die sich als Erregungsspusher, ohne Kontinuität zu bilden, aneinander reihen.
Professorale Experten als Kommentatoren
Besonders deutlich war das später in der ZDF Geschichtsreihe mit Harpe Kerkeling zu beobachten. Harpe, der „mal eben“ in der Geschichte der Menschheit unterwegs war, lieferte in launigem Erzähl- (nein: Anekdoten)stil Geschichte auf dem Niveau von Werbe-Clips: die Pharaonen, die alten Griechen, die Römer und Barbarossa — so holt man den Zuschauer ab und führt ihn in die Zauberwelt der emotionalen Uniformität, da wo Alexander der Große und Wallenstein austauschbare Folien für unsere gefräßigen Gefühle bilden; oftmals peinlich darin eingebettet (embedded) die professoralen Experten: Ihre orale Präsenz dient dazu, zehnsekündliche Statements abzusondern. Warum spielen sie mit, wo sie doch wissen müssten, wie die Medien ihre Gesichter vernutzen und Kompetenz nachhaltig beschädigen?
Geschichte braucht Distanz — kein „Authentizitätsporno“, so Dieterich Dieterichsen, in der schrille Gleichförmigkeit herrscht. Egal ob Héloise in der Klosterzelle darbt oder Christine Neubauer aus dem Jeep heraus in die Wüste blickt.
Alexander Kluge hat einem seiner Filme den Titel „Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit“ gegeben. Genau das geschieht hier. Weil man annimmt, dass wir als Zuschauer unfähig sind, Distanz zu ertragen, werden emotionale Muster unserer im Eigensaft schmorenden Psychologie über die Geschichte gestülpt. Der Rhythmus ist immer gleich: Aufblenden der Bilder, Gefühle und Gestalten. Abblenden derselben; das nächste Szenario der Aufputschung. In den präparierten Klischees geht dann auch ein Stück Zukunft verloren, die nur aus einer guten Erinnerung erwachsen kann.
Auf YouTube lassen sich inzwischen massenhaft diese Dokus anklicken und herunterladen, im Ranking vorneweg natürlich die Geschichten von Hexenverfolgung, deutschen Kreuzritterorden und Hitlers Vorlieben. Am Ende rangieren die eigentlichen Wendegeschichten und Grenzgänger der Historie wie etwa Calvin oder Luther.
Ein Zuschauerproblem also? Der Zuschauer will das, sagt der leibhaftige Quotenhansel. Die Geschichte der Bilder und des Fernsehens bestätigt diese These allerdings nicht. Hier wurde auch konzeptionell vorgestrickt, wurden Formate blindlings eingestampft, die sich vielleicht auch heute noch eines größeren Zuschauerzuspruchs erfreuen könnten.
Paul Virilio hat vom „rasenden Stillstand“ gesprochen, der unseren Ritt auf dem Pegasus der Beschleunigung leitet. Die Zeit und unser Erleben darin schrumpfen schließlich auf den Augenblick zusammen, der aber keine Tiefe gewinnt. So wird auch Geschichte eingedampft — Gibt’s noch was zu Nonnensex im Hochmittelalter oder den geilen Borgier-Päpsten? — Bitte liefern!
Kann sich wirklich jemand den Rhythmus des Mittelalters vorstellen? Ist der Takt des Lebens im 15. Jahrhundert in Slow Motion oder Zeitraffer wiederzugewinnen? Lässt sich das Gesicht auf der Shopping Mall überblenden von dem der Hildegard von Bingen? — Der klassische Ben Hur-Film suchte diese Kurzschlüsse von jetzt und damals auch — aber jeder wusste um die Illusion. Was aber, wenn diese Flow Ästhetik getragen wird von prominenten Kommentarsprechern, Fachkommentaren und Professorenköpfen? Dann entsteht eine perverse Verschachtelung von Information, Autorität, Suggestion und Fiktion, die ebenso falsch wie gefährlich ist.
Die schlimmste Ausprägung erfährt der Dokufilm mit Reenactments da, wo Szenen nicht wirklich dialogisch ausgespielt werden, sondern über die ansonsten schweigsamen Szenen ein Kommentar gezogen wird. Das schafft die Anmutung, man habe für die gute Sache Teile eines Spielfilms entlehnt, was aber nicht zutrifft, weil die Szenen meist bewusst im Schweigen liegen und auf Gesten zurückgestutzt sind. Im Zusammenspiel mit dem Kommentar entsteht der Eindruck von Professionalität und Authentizität.
Eine der Verirrungen unserer Zeit gibt sich hier zu erkennen: die Vergleichgültigung von Wahrheit zugunsten einer obszönen Wahrhaftigkeit. Auf diesem Altar des Echten opfern wir die Werte Distanz, Reflexion , Geschichte und Erinnerung.
„Die Vergangenheit zieht einen Schleiervorhang über die Dinge, der sie verschwommen und unklarer, aber auch geheimnisvoller und suggestiver macht. Eben hierin liegt der Hauptreiz aller Beschäftigung mit der Historie.“
Das Zitat des Historikers Egon Friedell leitet eine 12-teilige Geschichtsdokumentation über die Habsburger ein. Aus einem dunklen Hintergrund taucht, derweil das Zitat eingeblendet wird, der bekannte Schauspieler Friedrich von Thun auf. In seinem ersten Satz platziert er das Wort „Mythos“, jene Beschwörungsformel, ohne die es heute kaum noch geht. Folgt man dem Philosophen Hans Blumenberg ist indes der Mythos für uns so weit entfernt wie der Himmel, weshalb wir ständig davon reden müssen.
Das Zitat von Friedell scheint hingegen auf den ersten Blick das filmische Segment der Reenactments zu rechtfertigen. Zu schön erscheinen die Bilder vom Schleier, die Worte vom Verschwommenen und Geheimnisvollen und dem Reiz zur Beschäftigung.
Aber beschäftigen wir uns wirklich auf diese Weise mit der Vergangenheit, oder bilden die Schleier, hinter denen diese Vergangenheit verborgen liegt, nichts anderes ab als unsere Fastfood-Kultur?
Nicht einmal zum Fluchtpunkt wird diese Vergangenheit — wir verleiben sie uns ein. Immer wieder und immer wieder ein letztes Mal: der Mythos Wallenstein, die Legende Wallenstein, der Held Wallenstein — und ewig dreht sich das Rad der quotenfixierten TV-Maschinerie.
Ein letztes Bild: Ein kleiner Junge steht in den 1950er Jahren auf einer Weide und ruft die Kühe zur Tränke. Die Szene liegt für mich so weit weg in der Zeit und erfüllt mich doch mit einer Sehnsucht, wie es kein Reenactment aus weit zurückliegender Geschichte je vermöchte. Etwas stimmt nicht an der Erinnerungskultur, wenn sie nach dem Konsum von 100 oder mehr historischen Dokumentationen nicht mehr zurücklässt als ein fortlaufendes Déjà-vu — eine Wiederholung des „Immer Gleichen“ — die Anmutung eines „rasenden Stillstands“.