Betreutes Wählen

Die politische Klasse stellt sich dem Bürgervotum nur noch in einem Klima massiver Meinungslenkung und unter Vorbehalt der Annullierung.

„Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie verboten“, heißt ein gern zitierter Satz. Natürlich wird er meist als Verschwörungstheorie abgetan. Schließlich bräuchte man eine Regierung ja nur abwählen oder müsste einfach selbst eine neue Partei gründen. Die Bundesbürger jedenfalls glauben im Wesentlichen noch an das System der durch Wahlen bestimmten repräsentativen Demokratie. Sonst wäre die Wahlbeteiligung hierzulande nicht so hoch. Anders in einem europäischen Land, dem sich der Autor eng verbunden fühlt: Bulgarien. Dort bleiben viele Bürger am Wahltag einfach zu Hause. Unverantwortlich? Oder einfach nur realistisch? Neue Entwicklungen in Europa zeigen, dass „falsche“ Wahlergebnisse durchaus dazu führen können, dass der Wählerwille ignoriert wird.

Das bekannte Zitat „Wenn Wahlen was ändern würden, wären sie verboten“ wird oft Kurt Tucholsky zugeschrieben. Die Kurt Tucholsky Gesellschaft kann nach eigenen Angaben heute sicher sagen, dass dieses Zitat nicht von Tucholsky stammt. Auf ihrer Seite erfährt man darüber hinaus, dass das Zitat gerne auch der US-amerikanischen Friedensaktivistin und Anarchistin Emmy Goldman zugerechnet wird: „If voting changed anything they would make it illegal.“

Die Frage nach der Herkunft eines Zitats ist einerseits berechtigt, andererseits aber auch typisch deutsch, wie ich finde. Denn es geht dabei vor allem um eines: ums Recht haben. Das sagt zumindest der Deutsche in mir. Der Bulgare, der Dank meines Vaters ebenfalls in mir steckt, sagt, dass es um etwas anderes gehen sollte. Dazu muss man wissen, dass in Bulgarien vieles anders und manches umgedreht ist. Allen voran die Kopfbewegungen beim Ja- und Nein-Sagen. Schüttelt der Deutsche den Kopf, meint er Nein. Beim Bulgaren ist es eher ein Kopf wiegen, was aber Ja bedeutet. Nein meint der Bulgarien, wenn er nickt, was in Deutschland wiederum Ja heißt. Aber nicht nur das.

Ein Ja in Deutschland bedeutet: „Ja, du hast Recht!“, womit wir wieder beim Recht haben wären. Wenn der Bulgare seinen Kopf beim Ja sagen wiegt, meint er eher: „Du, ich versteh dich!“ Was der Bulgare in mir nicht versteht, ist, warum der Deutsche sich so sehr mit dem Ursprung des Zitates beschäftigt. Es scheint mir eine regelrechte Obsession zu sein. Dabei sollte es doch vor allem darum gehen, ob die Aussage des Zitats zutrifft oder nicht. Und wenn ja: Was ist die Lösung? Diese Fragen werden aber gar nicht gestellt. Warum eigentlich nicht?

Als jemand, der in der DDR groß geworden ist und die Demonstrationen im Jahr 1989 als Anfang-Zwanzigjähriger aktiv miterlebt hat, sage ich, dass an dem Zitat etwas dran ist. Ich würde nicht so weit gehen zu behaupten, dass es die Wahrheit ist, denn die gibt es bekanntlich nicht. Trotzdem kann ich dem Zitat einiges abgewinnen, einfach weil es sich mit meiner Lebenserfahrung deckt.

Zu meiner Erfahrung gehört auch, dass Veränderungen nur allzu oft anders enden als gehofft und dass manches zwar irgendwie besser wird, aber meistens nicht gut.

Was man mit Sicherheit sagen kann: Ohne dass die Menschen in der DDR in Massen auf die Straße gegangen wären — keine Wiedervereinigung! Diese wurde nicht durch Wahlen erreicht, sondern durch Massendemonstrationen und auch durch die Massenabwanderung. Selbstverständlich hatte auch Michail Gorbatschow einen Anteil am Beitritt der DDR zur BRD, was nicht unerwähnt bleiben soll.

Eine andere Erfahrung

Am 23. Februar 2025 stehen nun vorgezogene Neuwahlen zum Deutschen Bundestag an. Da ich seit Corona viel Zeit in Bulgarien verbringe, dem Herkunftsland meines Vaters, durfte ich, was Wahlen angeht, auch eine andere Erfahrung machen. In Bulgarien gab es zuletzt Ende Oktober 2024 eine vorgezogene Neuwahl. Es war die siebte Parlamentswahl innerhalb von nur dreieinhalb Jahren. Obwohl einige davon ähnlich kurzfristig waren wie die jetzt in Deutschland, stand im ärmsten Land der EU nie zur Debatte, dass eine Wahl nicht stattfinden könne, weil es nicht genug Papier gibt. Im Gegenteil, für einige Wahlen wurden hier in Bulgarien sogar teure Wahlautomaten mit Touchscreen in jedes Dorf gekarrt. Zur Wahl zu gehen bekam dadurch den Charme vom Einkaufen im Internet. Mit einem Unterscheid: Jeder erhielt sogleich eine Quittung darüber, welche Wahl er getroffen hatte — in Papierform!

Trotz Hightech-Touchscreen und Sofort-Quittung gehen viele Bulgaren seit Jahren nicht mehr wählen. Zuletzt lag die Wahlbeteiligung bei gerade einmal 38 Prozent, zuvor waren es sogar nur 34 Prozent gewesen, die noch wählen gegangen sind. Mit anderen Worten: Die größte Partei in Bulgarien ist die der Nichtwähler, wenn es sie denn geben würde. Früher nannte man das auch Abstimmung mit den Füßen.

In Bulgarien bleibt man einfach zuhause. Das letzte Mal ist man hier 1994 in Scharen auf die Straße gegangen, als Bulgarien Deutschland 2:1 im Viertelfinale der Fußballweltmeisterschaft schlug. Das war noch was gewesen! So die nicht ganz ernst gemeinte Antwort vieler Bulgaren auf die Frage nach dem Warum. Anders 1989 in der DDR. Da machten sich viele auf den Weg, entweder zur Demo, oder nach Ungarn, Polen oder der ČSSR und von dort weiter in den Westen.

Eine Frage wurde im Zusammenhang mit der niedrigen Wahlbeteiligung in Bulgarien im Westen noch nie gestellt: Welches Mandat hat bei einer Wahlbeteiligung von unter 40 Prozent eine Regierung, die sich auf gerade einmal 20 Prozent oder weniger der Wählerstimmen stützt?

Die Wahlbeteiligung ist in Deutschland bisher nicht das Problem, sie lag bei der letzten Bundestagswahl bei 76,6 Prozent. Auch ein eventueller Papiermangel steht der Wahl aktuell nicht mehr im Weg. Spannend bleibt: Was passiert, wenn ich die „falsche“ Partei wähle, wenn ich mich also „verwähle“.

Das aktuelle Beispiel Rumänien zeigt, dass es passieren kann, dass die Wahl dann nicht anerkannt wird, wenn das Ergebnis „verkehrt“ ist. Der unabhängige Kandidat Călin Georgescu hatte im Nachbarland im November 2024 überraschend die erste Wahlrunde zur Präsidentschaftswahl gewonnen. Angeblich wegen manipulierter Algorithmen beim chinesischen Unternehmen TikTok, hinter denen der Russe stecken soll. Die Wahl wurde annulliert und soll im Mai 2025 wiederholt werden.

Ich schaue kein TikTok. Oder anders gesagt: Man müsste mir erstmal beweisen, dass ich TikTok schaue. Oje, ich vergaß, dass die Unschuldsvermutung nicht mehr gilt, zumindest bei den Grünen. In dem Fall gäbe es die Möglichkeit, dass ich vor meiner Wahl eine Erklärung unterschreibe, dass ich kein TikTok schaue. Sozusagen eine Verzichts- beziehungsweise Unterlassungserklärung. Oder gar eine Verpflichtungserklärung, wenn es nach den Grünen geht? Vielleicht wird TikTok vor der Wahl ganz und gar abgeschaltet, so wie neulich in den USA.

Betreutes Wählen

Selbst dann kann ein falsches Wahlergebnis aber nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Es geht dabei, so denke ich, aber nicht um TikTok, die Chinesen oder Wladimir Putin. Es geht darum, dass man mir die Kompetenz abspricht, überhaupt wählen zu können, eine eigene Entscheidung zu treffen. Ich bin, wenn man so will, zu blöd zum Wählen. Der Bulgare in mir zieht die Möglichkeit in Betracht, dass es auch umgedreht sein könnte: Sie sind zu blöd zum Regieren.

Ich will niemanden auf dumme Gedanken bringen, aber gibt es neben der Wahlannullierung nicht auch die Option des betreuten Wählens, also dass mich jemand in die Wahlkabine begleitet und für mich das „Richtige“ ankreuzt?

Im Moment bin ich in Bulgarien. Es besteht die Möglichkeit, dass ich Ende Februar pünktlich zur Wahl nach Berlin zurückkomme, wenngleich aus einem anderen Grund. Dann würde ich noch einmal darüber nachdenken, ob ich der Einladung zur Wahl, die Wahlbenachrichtigung lag schon im Briefkasten, folge oder nicht. Aber nicht, weil ich von Wahlen überzeugt wäre. Sondern weil ich es mit dem Gang zum Wahllokal so halte, wie es Alexis Sorbas mit dem Gang in die Kirche gehalten hat. Der Hauptcharakter des Romans des griechischen Autors Nikos Kazantzakis ging nur in die Kirche, damit ihn niemand für einen Freimaurer hält.

Auf keinen Fall werde ich extra wegen der Wahl nach Berlin zurückkehren. Und hier in Bulgarien wählen zu gehen, ist einfach mit zu vielen Hürden verbunden, auch weil ich auf dem Land und nicht in der Hauptstadt Sofia lebe. Um es ganz klar zu sagen: Den Aufwand ist es mir nicht wert. Überhaupt, und ohne Anspruch darauf Recht zu haben, bleibe ich dabei: Wirkliche Veränderungen werden nicht durch Wahlen erreicht. Und um genau diese Frage geht es: Stimmt die Aussage „Wenn Wahlen was ändern würden, wären sie verboten“ mit meiner Lebenswirklichkeit überein — Ja oder Nein? Meine eindeutige Antwort: Ja!

Wenn es dafür noch eines Beweises bedurfte, dann lieferte ihn der frühere EU-Kommissars Thierry Breton, auch wenn er später von einer „sprachlichen Verkürzung“ seinerseits sprach. Ich denke, ich habe Herrn Breton ganz richtig verstanden, denn wörtlich sagte er:

„Bewahren wir einen kühlen Kopf und setzen wir unsere Gesetze in Europa durch, wenn diese umgangen werden könnten … Das haben wir in Rumänien getan und müssen es natürlich auch in Deutschland tun, wenn es nötig ist.“

Was etwaige zukünftige Massenproteste in Deutschland wegen angeblicher Wahlmanipulationen angeht, fallen mir die vom Herbst 1989 in der DDR ein. Bis heute ist ihr Slogan „Wir sind das Volk“ bekannt, woraus später „Wir sind ein Volk“ wurde. Angesichts aktueller Bilder aus der Heimat scheint mir dieses Motto von damals derzeit das wichtigere zu sein: „Keine Gewalt!“


Graffitis aus Bulgarien, die zum Nichtwählen aufrufen. Aufnahmen des Autors am 9.  Februar 2025 in der Stadt Vraca. Der genaue Text lautet: „Ich wähle nicht.“