Besonnenheit gegen „Bombenstimmung“
Mit seinem Vortrag „Warum ist der Ukraine-Krieg ausgebrochen?“ im Hannover Congress-Centrum zeigte Daniele Ganser den Kriegstreibern die rote Karte.
Am 24. Februar 2022 begann nach politisch-medialer Lesart offiziell der Ukraine-Krieg. Ein Jahr danach ist Daniele Ganser auf Vortragsreise durch Deutschland, Österreich und der Schweiz. Sein Anliegen als Historiker und Friedensforscher, die Ursachen des Krieges zu beleuchten, stößt beim politischen Establishment und seinen Leibmedien auf erbitterten Widerstand. Diffamierung, Hetze und versuchte Auftrittsverbote sind die selbstlegitimierten Scherenschnitte gutbürgerlicher Demokraten, um Meinungsfreiheit und kritische Beschäftigung mit geschichtlichen Zusammenhängen auf ein weichgezeichnetes Bild vom guten Westen und bösen Russen zurechtzustutzen. Das Anfeindungsvokabular wirkt stereotyp, voneinander abgeschrieben und fernab von einer offenen Auseinandersetzung mit Daniele Gansers Worten. Warum besuchen die „Kritiker“ nicht seinen Vortrag? Das könnte die Stimmungskanonen zum Schweigen bringen. Ein Einblick.
19 Uhr, Theodor-Heuss-Platz
Dichter Schnee fällt auf den Platz vor dem Congress Zentrum, der benannt ist nach dem ersten Bundespräsidenten der BRD und Mitgestalter des Grundgesetzes. Vor dem mächtigen Eingangsportal ist eine Bühne aufgebaut. Sie leuchtet pinkfarben, darin prangt ein Banner, auf dem steht: „GEMEINSAM GEGEN GANSER und seine Verschwörungsfantasien“.
Seit Wochen wurde zu einer Gegendemo aufgerufen. Ihr folgten um diese Zeit etwa 50 Personen, ganz links die „Omas gegen rechts“. Um die 100 sollen es noch werden. Zu den Rednern zählt auch Hannovers grüner Oberbürgermeister Belit Onay.
20 Uhr, Kuppelsaal
Ein Klimawandel hat sich vollzogen. Vom feucht-kalten Draußen mit überschaubarer Protest-Haltung in ein wohlig-warmes Drinnen mit eindrucksvoller Friedensbewegung, denn fast 3.000 Gäste haben sich hier zusammengefunden. Sie eint — symbolhaft für den Abend — der Blick auf die Leinwand. Picassos „Friedenstaube“ als sinnstiftendes Bild. Im Schnabel der Ölzweig. Es ist Land in Sicht.
Daniele Ganser beginnt seinen Vortrag. Es sind Sätze wie „Die Mehrheit der Deutschen will keinen Krieg“ oder „Wer vom betreuten Denken abweicht, wird diffamiert“, mit denen die Zuhörer in Resonanz gehen. Denn der eine bringt das Urbedürfnis der Menschen nach Frieden auf den Punkt, der andere erinnert an oft traumatisch Erlebtes aus den letzten drei Jahren, als das Einstehen für eigene Überzeugungen abgestraft und geächtet wurde.
Die Agenda des Abends, eine Chronologie der historischen Geschehnisse, wird gerahmt von Gedanken zum Zusammenhang zwischen Medien und Nervenzellen und dem Umgang mit der Natur. Wiederholungen in Bild und Ton führen zu neuronalen Verknüpfungen im Gehirn. Kontinuierlich wiederkehrend, verfestigen sich Informationen zu Glaubenssätzen, Überzeugungen und Wissensschätzen. Dessen bedienen sich die Medien in Nachrichten zur Erlangung der Deutungshoheit und mit Werbung zur Produktplatzierung. So werden bewusst Ängste erzeugt und über die Wertung als aktuell wahr im Volk zum Gemeinplatz gebündelt. Daniele Ganser: „Glauben Sie nicht alles, was Sie denken. Es ist genug Angst für alle da, man kann auch mal eine auslassen. Kommunikation ist Nahrung; treffen Sie sich mit Menschen, die ohne Abwertung kommunizieren.“ Auch Kriegsbilder sollten auf Wahrheitsgehalt und Wirkmechanismus geprüft werden, bevor man sie in den Kopf lässt.
Warum nun ist der Ukraine-Krieg ausgebrochen? Und welche Geostrategen bekommen wegen groben Fouls die Rote Karte?
Die erste Rote Karte erhält der russische Präsident Wladimir Putin für seinen völkerrechtswidrigen Einmarsch in die Ukraine. Damit hat er gegen das UNO-Gewaltverbot verstoßen, denn in Artikel 2 der Charta der Vereinten Nationen wird allen Mitgliedern verboten, Gewalt gegen die territoriale Unversehrtheit oder politische Unabhängigkeit eines Staates anzudrohen oder anzuwenden.
Der Historiker Daniele Ganser zeigt auf Grundlage seiner Forschungen den Hergang des Ukraine-Krieges auf.
Auch durch stete mediale Wiederholung wird es nicht wahrer: Der Krieg dauert nicht ein Jahr, seit 24. Februar 2022, sondern neun Jahre und begann mit dem Massaker auf dem Kiewer Maidan-Platz am 20. Februar 2014.
Die als Regierungsputsch einzustufende Eskalation, bei der Scharfschützen mehr als 40 Polizisten und Demonstranten erschossen, mündete in einen Regime Change: Präsident Wiktor Janukowytsch wurde gestürzt und floh nach Russland, Premier Arsenij Jazenjuk und Präsident Petro Poroschenko kamen an die Macht.
Zeitsprung in die Gegenwart. Vordergründig führt nicht Putin Krieg gegen Wolodymyr Selenskyj. Die Ukraine ist Schauplatz eines Stellvertreterkrieges der USA gegen Russland.
An dem auch Deutschland beteiligt ist, das seit dem 26. Februar 2022 Waffen aus dem Bestand der Bundeswehr an die Ukraine liefert und ukrainische Soldaten im bayerischen Grafenwöhr an NATO-Waffen ausbildet. Damit ist Deutschland im völkerrechtlichen Sinn im Krieg. Wie ist die politische Lesart? Die Grünen als Regierungspartei, bei der letzten Bundestagswahl mit Sonnenblume und Taube als Friedenssymbole auf den Plakaten, betreiben Wählertäuschung, wenn sie jetzt offen für die militärische Unterstützung der Ukraine eintreten. Immerhin bekennen sie Farbe, wenn sie sich in Olivgrüne wandeln.
Seitens der Politik und ihrer Konzernmedien gibt es keine Kritik an den Waffenlieferungen. Sie muss vom Volk artikuliert werden. Daniele Ganser am 25. Mai 2022: „Wir brauchen Deeskalation, kein Wettrüsten“ und am 9. März 2023: „Sollen die Kriegsbefürworter aus der Politik eine Uniform anziehen und selbst an die Front gehen. Der Krieg wäre sofort vorbei.“ Sahra Wagenknecht von der Partei Die Linke, die sich aktuell in der deutschen Friedensbewegung engagiert, wird mit den Worten zitiert: „Waffen schaffen keinen Frieden.“
Der US-amerikanische Journalist Seymour Hersh bezeichnet den Ukraine-Krieg als Krebsgeschwür, das im Sabotageakt auf die Nord-Stream-Pipelines am 26. September 2022 bereits Metastasen treibt. Ungeachtet dieser Wucherungen halten Demonstranten ein Plakat hoch, auf dem steht: „Krieg beenden — Waffen senden“. Eine massive dysfunktionale neuronale Verknüpfung, findet Daniele Ganser mit Blick auf manipulative Medienberichterstattung und ihre Wirkung auf das Nervensystem. Die zweite Rote Karte bekommt Bundeskanzler Olaf Scholz, der Deutschland in den Krieg mit Russland führte.
Rückblende ins Jahr 1990. Der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow stimmte der Wiedervereinigung Deutschlands und dem Beitritt der ehemaligen DDR zur NATO zu, verlangte aber im Gegenzug keine Ostausdehnung der NATO. Dies wurde ihm am 31. Januar 1990 vom deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher zugesichert —„Eine Ausdehnung des NATO-Territoriums nach Osten … wird es nicht geben“ — und am 9. Februar 1990 vom US-Außenminister James Baker — „… nicht einen Zentimeter weiter nach Osten ausdehnen“. Auch ließ Gorbatschow die 340.000 auf dem Territorium der DDR stationierten Soldaten abziehen.
Es blieb ein einseitiger Truppenabzug, am dem sich die Westmächte ihrerseits nicht beteiligten. Die Begehrlichkeiten im Westen nach einer NATO-Vergrößerung wuchsen, vor allem Deutschland wollte nicht mehr am Rand, sondern im Zentrum des Bündnisses stehen. 1999 war es dann soweit. Auf Betreiben des US-Präsidenten Bill Clinton wurden Polen, Tschechien und Ungarn Teil der NATO. Dieser Akt der Aggression gegenüber Russland ist für Daniele Ganser der Auslöser des Ukraine-Konfliktes. Die dritte Rote Karte sieht also Clinton für das gebrochene Versprechen, die NATO nicht auszudehnen.
Die Osterweiterung des westlichen Militärbündnisses schritt voran. Nach und nach kamen Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei, Slowenien, Albanien und Kroatien hinzu. Der Wortbruch wurde salonfähig, die Täuschung Russlands marginalisiert. Die Landnahme erreichte 2008 ihren vorläufigen Höhepunkt, als unter der Regierung von George Bush junior auch Georgien und die Ukraine in die NATO aufgenommen werden sollten.
Spätestens jetzt wandelte sich aus Sicht der Russen die Ausdehnung von einer Provokation in eine reale Gefahr, denn die Vorwarnzeit im Fall eines Raketenangriffs würde dann bedrohlich gering.
Der US-Botschafter Bill Burns warnte am 1. Februar 2008, eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine würde bei den Russen „einen rohen Nerv berühren“ und könne „sogar zu Bürgerkrieg führen“. Die vierte Rote Karte wird Bush gezeigt für seinen „Krieg mit Ansage“.
Ein redaktioneller Zwischenton. Nach der Pause reicht jemand aus dem Publikum Daniele Ganser ein Bild auf die Bühne. Der zitiert den unterzeichnenden Namen und die Zahl der genannten Kinder und Enkel und sagt: „Davor gehe ich auf die Knie. Wer Kinder und Enkel hat, hat ein langfristiges Interesse an Frieden.“ Es sind auch diese Bemerkungen, die die Zuhörer zu wiederholtem Applaus bewegen.
Noch einmal ins Jahr 2011. Barack Obama ist 44. Präsident der Vereinigten Staaten, Joe Biden sein Vize. Daniele Gansers Quellenanalysen zeigen, dass es sich bei den Ereignissen auf dem Maidan-Platz um einen Putsch handelte, dessen Fäden in den USA gesponnen wurden. Ziel war es, den gewählten Präsidenten Janukowytsch zu stürzen und eine Amerika-gesinnungsfreundliche Regierung zu installieren. Weiteres Ziel: die Aufnahme der Ukraine in die NATO.
Das Mittel: die Ermordung von Polizisten und Demonstranten durch verdeckte Scharfschützen, die als erfolgreiche False-Flag-Operation der Spezialeinheit der ukrainischen Miliz Berkut in die Schuhe geschoben werden sollte, um damit den amtierenden Präsidenten zu diskreditieren.
Der Beweis: ein abgehörtes Gespräch zwischen der von Obama als stellvertretende Staatssekretärin eingesetzten neokonservativen Victoria Nuland und dem US-Botschafter in Kiew Geoffrey Pyatt kurz vor dem Putsch. Über eine neu zu besetzende Regierung sagte sie: „Ich glaube, Jazenjuk ist der richtige Mann, er hat die … Erfahrung.“ Nuland, deren Büro eng mit der CIA zusammenarbeitete, plante und leitete den Putsch, Jazenjuk wurde folgerichtig Premierminister. Die fünfte und sechste Rote Karte „verdienen“ sich Obama und Biden, unter deren Administration der illegale Staatsstreich geplant und umgesetzt wurde.
Infolge des Putsches kam es im März 2014 zur Abspaltung der Krim von der Ukraine. Wenige Tage nachdem die proamerikanische neue Regierung in Kiew an der Macht war, beschloss Putin, die strategischen Interessen Russlands auf der Krim zu verteidigen. Russische Truppen besetzten alle strategischen Punkte der Halbinsel, in einem Referendum am 16. März 2014 stimmten 97 Prozent der überwiegend russisch sprechenden Bevölkerung für einen Anschluss an Russland, was Moskau umgehend annahm.
Nach dem Putsch und dem Anschluss der Krim an Russland brach ein Bürgerkrieg aus — ausgetragen zwischen der ukrainischen Armee der neuen Regierung und ostukrainischen Separatisten der russischsprachigen Bezirke Donezk und Luhansk, die der Kiewer Putschregierung die Anerkennung verweigerten. Der Kriegsbeginn wird auf den 15. April 2014 datiert, als Kiew im Rahmen eines Antiterror-Sondereinsatzes Panzer in den Donbass schickte. Dieser Krieg hat bisher mehr als 14.000 Todesopfer gefordert.
Wolodymyr Selenskyj, 2015 durch seine Rolle des ukrainischen Präsidenten in der Fernsehserie „Diener des Volkes“ als Schauspieler bekannt geworden, betrat 2019 die internationale politische Bühne, als er tatsächlich zum Präsidenten der Ukraine gewählt wurde. Er versprach, den Krieg im Land zu beenden. Tatsächlich ließ er 2020 auf eigene Bürger schießen. Drei Menschen verloren dabei ihr Leben. Dafür „erntet“ Selenskyj die siebte Rote Karte.
Zurück in die Gegenwart. Die Position des Westens gegenüber Russland ist geprägt von einseitiger Berichterstattung, Wirtschaftssanktionen und militärischer Unterstützung der Ukraine. Die Schweiz und Österreich haben hierfür ihre Neutralität aufgegeben. Doch ist es falsch, von globalen Sanktionen zu sprechen, denn von den 193 Staaten der Erde beteiligen sich daran gerade mal 30. Dies sind im Wesentlichen die NATO-Mitglieder.
Die westlichen Medien schwingen derweil die moralische Keule, teilen heuchlerisch die Welt in Gut und Böse, als gelte das Völkerrecht erst, wenn die NATO nicht bombardiert.
Doch wenn Krieg immer weiter geht, werden immer mehr Rote Karten vergeben. Daniele Ganser: „Wir müssen alle Kriege ablehnen.“
Schlusskapitel. Zu Anfang eine Taube, nun ein Wasserfall. Die Natur bekommt viel Raum bei Daniele Ganser. Ein Aufenthalt in der Natur tut gut nach allzu intensivem Medienkonsum. Herrscht Chaos im Kopf, kann man nach Ordnung in der Natur suchen und schon werden die Neuronen neu vernetzt. Drohen Spaltung zwischen den Menschen und Abwertung im Gespräch, kann man jederzeit dazu auf Abstand gehen, einen Schritt zurücktreten — hinter den Wasserfall und dann seine eigenen Gedanken und Gefühle beobachten.
Circa 23 Uhr, Kuppelsaal
Daniele Ganser beendet seinen Vortrag mit der charmanten Entschuldigung, zu lange geredet zu haben. Er sei einfach so selten in Hannover. Es ist das einzige Statement, für das er keinen Beifall erntet (Smiley).
23:40 Uhr, Theodor-Heuss-Platz
Der Schnee hat sich in Regen verflüssigt, die „GEMEINSAM GEGEN GANSER“-Bühne ist geräumt, die Stimmungskanonade zurück im Arsenal. Waren die „Kritiker“ vielleicht doch beim Vortrag? Können sie sich durch eigenes Erleben nun von Pauschalablehnungen verabschieden? Lesen sie Daniele Gansers Buch „Illegale Kriege“ und prüfen die mehr als 700 Quellennachweise, um sich mit seiner profunden Geschichtskenntnis auseinanderzusetzen? Folgen sie seiner Einladung, Teil der Menschheitsfamilie zu sein? Braucht es die Anführungszeichen überhaupt noch, da sie wahre Kritiker sind? Man wird sehen. Und lesen.