Bedrohung aus dem Osten

Westliche Russophobie knüpft an die traumatischen Erfahrungen unserer Vorfahren mit Hunnen- und Mongolenstürmen an. Der heutigen Realität wird dies keineswegs gerecht.

Die Angst im Westen vor Russland ist nicht nur Propaganda. Dass aus dem Osten Gefahr droht, ist tief im europäischen Bewusstsein verankert. Diese Vorstellung hat geschichtliche Ursachen. Gerade deshalb bot sie sich so gut an, um die öffentliche Meinung zu manipulieren.

Feudalherrschaft in Europa

Vor der französischen Revolution war die Geschichte Europas von der Feudalherrschaft geprägt. Der Adel war die herrschende Klasse. Die wirtschaftliche Grundlage des Feudalismus bildete die Landwirtschaft, die sich im Laufe der Entwicklung immer mehr auf zinspflichtige Bauern stützte. In der Hochzeit der Adelsherrschaft existierten kaum noch freie Bauern, sondern weitgehend abhängige Tributpflichtige. Als entgegengesetzte Entwicklung bildete sich das Bürgertum als neue Klasse — vornehmlich in den Städten. Dessen ökonomische Grundlage waren Handwerk, Handel und Geldwirtschaft.

Zur Steigerung ihrer Finanzkraft standen den Feudalherren im Wesentlichen zwei Wege zur Verfügung: Entweder sie erhöhten die Abgaben und Steuern ihrer Untertanen oder aber sie erhöhten deren Zahl, das heißt, sie weiteten ihren Landbesitz aus und damit die Zahl der zinspflichtigen Bauern. Der Zuwachs von Ackerland vollzog sich im eigenen Herrschaftsbereich durch Rodungen, Trockenlegung von Mooren oder Eindeichungen.

Ein anderer Weg zur Ausweitung der feudalistischen Wirtschaftsgrundlage bestand in der Übernahme anderer Ländereien durch Heirat oder Krieg. Krieg war immer teuer und risikoreich, denn er konnte auch verloren gehen, weshalb man ihn lieber vermied. Eine weitere Möglichkeit bestand in der Landnahme durch Eroberungszüge. Diese richteten sich weitestgehend in die dünn besiedelten Landstriche im Osten Europas.

Die europäischen Feudalherren schufen neue Siedlungsräume, in denen sie ihre zinspflichtigen Bauern ansiedelten oder aber die eingesessene Bevölkerung zinspflichtig machten, soweit sie es nicht bereits gegenüber früheren Feudalherren gewesen war. Landnahme war nur sinnvoll in Verbindung mit der Bereitschaft der Bauern zur Sesshaftigkeit und zur Leistung von Abgaben. Diese Entwicklung der Landnahme und Errichtung von Feudalherrschaft vollzog sich von Westen nach Osten. Eine dauerhafte Landnahme von Osten nach Westen fand hingegen nicht statt.

Nomaden und Reitervölker

Die Sesshaftigkeit ist eine spätere Stufe in der Menschheitsentwicklung. Sie ist verbunden mit einer Landwirtschaft, die in der Lage ist, die Mitglieder einer Gesellschaft zu ernähren. Entwicklungsgeschichtlich ging ihr die Nomaden- beziehungsweise Hirtenwirtschaft voraus. Den Menschen war es gelungen, wilde Viehherden aus Schafen, Ziegen oder Rindern teilweise zu beherrschen und für ihren Lebensunterhalt zu nutzen. Sie folgten diesen Herden durch deren Weidegründe und verwerteten ihr Fleisch, ihre Milch, ihre Häute und was sie sonst noch verwertbar fanden. Sesshaft wurden diese Menschen zu jener Zeit nur vorübergehend. Auf dieser Entwicklungsstufe waren sie angewiesen auf offenes Land ohne Grenzen und Besitzansprüche.

Die riesigen Flächen des eurasischen Raums bildeten die Grundlage einer solchen Nomaden- und Hirtentätigkeit. Aber sie standen im Widerspruch zu Landwirtschaft und Sesshaftigkeit, was kein Problem war, solange die Menschen beider Lebensformen keinen Kontakt hatten und in einen Konflikt gerieten. Um diese Lebensformen gegen Gefahren zu schützen, waren unterschiedliche Vorgehensweisen der Absicherung notwendig. Der Feudalismus schützte seine Länder und Bauern durch mehr oder weniger befestigte, aber erklärte Grenzen, Wehrkerne in Form von Burgen und mehr oder weniger stehende Heere.

Für Nomaden- und Hirtenvölker war das bedeutungslos. Für sie war wichtig, in den Weiten des endlosen und nicht durch Eigentumsrechte geschützten Raumes schnell dort eingreifen zu können, wo Gefahren für ihre Herden und Lebensgrundlagen drohten. Ihr Schwerpunkt zur Gefahrenabwehr lag auf der Reiterei und leicht mitzuführenden Waffen wie Pfeil und Bogen. Diese Völker entwickelten sich zu schnellen und sehr wirkungsvollen Reitertruppen.

Aber im Laufe der Entwicklung nutzen sie diese Fähigkeiten nicht nur zum Schutz der eigenen Interessen und ihres Eigentums, sondern auch zur Aneignung von fremdem. Dieser schnellen Reiterei mit ihren wirkungsvollen Distanzwaffen waren die plumpen, in schweres Eisen für den Nahkampf gerüsteten Heere der Feudalherren nicht gewachsen.

Hunnen und Mongolen tauchten plötzlich auf aus den Weiten des Ostens, überfielen die europäischen Bauern und Fürstentümer, plünderten und raubten, was sie mit sich nehmen konnten, und verschwanden dann wieder in den Weiten, aus denen sie gekommen waren. Anders als bei den Feudalherren zielten ihre Überfälle nicht auf dauerhafte Landeroberung.

Statt wie diese fremdes Land in Besitz zu nehmen, eigneten sich die Reitervölker den Ertrag des jeweiligen Landes an. Mit den geraubten Werten der Feudalgesellschaft zogen sie wieder ab, um dann nach Jahren wieder erneut einzufallen und das einzukassieren, was die Sesshaften in der Zwischenzeit erwirtschaftet hatten.

Die Stunde der Ideologen

Dieser Konflikt zwischen Sesshaften und Nomaden, als Ausdruck unterschiedlicher gesellschaftlicher Entwicklung, hatte sich im europäisch-asiatischen Raum über Jahrhunderte hingezogen. Noch heute tobt er in ähnlicher Form im Norden Afrikas und der Sahel-Zone, umgedeutet von westlichen Meinungsmachern als Religionskonflikt zwischen Christen und Moslems (1). Er tobte aber nicht nur zwischen den Nomaden- und Reitervölkern und den Feudalgesellschaften im Westen. Er griff auch nach Osten beziehungsweise Süden aus, in Richtung China, was zum Bau der chinesischen Mauer geführt hatte.

Was also in Europa als Bedrohung aus dem Osten zu einer ständigen Gefahrenlage verewigt wurde, könnte in China — wenn gewollt — zum Schlagwort für eine Bedrohung aus dem Westen oder Norden herhalten. Im Westen jedenfalls haben diese historischen Ereignisse zu einem Missbrauch im Interesse von Propaganda und Meinungsmache bereits nach der Russischen Revolution, besonders aber seit der Nazizeit geführt. Die Gefahr aus dem Osten diente hauptsächlich der Stimmungsmache gegenüber der Sowjetunion und ihrem damaligen sozialistischen System mit seiner führenden Kraft, der Kommunistischen Partei.

Die Niederlage des Faschismus gerade durch diese Sowjetunion bestätigte im Westen bei vielen politischen Kräften die Theorie von den primitiven Horden aus den Weiten Russlands. Genau auf diesen Begriff konnten sich viele im Westen verständigen, weil man vom slawischen Untermenschen nur noch hinter vorgehaltener Hand redete.

Bei vielen Menschen im Nachkriegsdeutschland galt als Erklärung für die eigene Niederlage, im Gegensatz zu den Mitgliedern des deutschen Kulturvolkes könne man die primitiven Russen zu Millionen in den Fleischwolf des Krieges werfen, weil dort ein Menschenleben wenig galt.

Aufgrund dieses primitiven Charakters bestand die Bedrohung aus dem Osten weiter fort, so lange „der Russe“ weiterhin im Osten lauerte. Diese Einstellung gegenüber der Sowjetunion war auch im Adenauer-Deutschland weit verbreitet, die es angeblich nur auf Deutschlands Wohlstand abgesehen hatte und deshalb auch jederzeit bereit sei, über unschuldige Deutsche herzufallen. Da mischte sich die Jahrhunderte alte Erfahrung von den Raubzügen der Hunnen- und Mongolenstürme mit dem neuen Weltbild der kommunistischen Bedrohung.

Dass zu jener Zeit der Sozialismus mit seiner Forderung nach der Enteignung der Kapitalbesitzer starken Zuspruch auch in den westlichen Gesellschaften hatte, verstärkte dieses Feindbild und die damit verbundenen Ängste und Projektionen. In diesem Weltbild stehen dem deutschen Kulturvolk primitive Horden gegenüber, egal ob es sich dabei um Hunnen, Mongolen, slawische Untermenschen, fanatische Bolschewiken oder sonstige kulturlose Gruppen oder Völker handelt.

Heute schließt sich daran auch Russlands Putin nahtlos an. Seit der politische Westen woke geworden ist und dem Rassismus abgeschworen hat, steht Russland nicht mehr für den slawischen Untermenschen. Dennoch wird weiterhin ein kulturelles Gefälle zwischen dem politischen Westen und Russland gesehen und vermittelt. Nach Ansicht der westlichen Meinungsmacher ist Wladimir Putin getrieben von der Angst, dass sich an den Grenzen seines autokratischen Reiches Demokratien westlichen Zuschnitts entwickeln. Deren überlegene freiheitliche Lebensart üben nach Ansicht dieser Meinungsmacher eine Anziehungskraft aus, der Russland wenig entgegensetzen kann.

Wenn auch faschistische Parolen im woken Westen nicht mehr salonfähig sind, so wird doch stets aufs Neue deutlich, dass sich die westliche Führungsriege in Medien, Politik und Wissenschaft Russen und Chinesen intellektuell und kulturell überlegen fühlt, denn aus vielen Veröffentlichungen schimmert das Herrenmenschendenken immer noch durch.

Rassische Überlegenheit gegenüber Untermenschen wurde ersetzt durch die Vorstellung kultureller, moralischer und intellektueller Überlegenheit.

Unfähige Ideologen

Solche Theorien sagen aber mehr aus über diejenigen, die sie schaffen und verbreiten, als über jene, mit denen sie sich beschäftigen. Der politische Westen kann sich nicht trennen von dem Wahn eigener Überlegenheit, und je fadenscheiniger und inhaltsloser solche Vorstellungen werden, umso heftiger scheint der Kampf um deren Aufrechterhaltung.

Jene, die solche Weltbilder bedienen, belegen nichts weiter als die eigene Unfähigkeit, geschichtliche Vorgänge als geschichtliche, das heißt, vergangene zu betrachten. Sie sind nicht in der Lage, die Unterschiede zwischen den Zuständen zu erkennen, geschweige denn Entwicklung wahr zu nehmen. Für sie ist die Welt stehen geblieben bei den Hunnen- und Mongolenstürmen. Für sie ist gleich, was ähnlich aussieht, und das versuchen sie mit oberflächlichen Analysen zu belegen. Wenn Russland in der Ukraine einmarschiert, ist das die Erklärung dafür, dass die Gefahr immer aus dem Osten kam, die Russen ein kulturell niederes Volk sind, das die Demokratie fürchtet und die starke Hand eines autokratischen Führers braucht.

Im Weltbild der westlichen Meinungsmacher leben die Gefahren aus den Weiten des eurasischen Ostens und seiner Bewohner, den Russen, weiter. In Ermangelung tieferer Einsichten in die Entwicklung von Gesellschaften und Menschheit greifen sie zurück auf einfache Weltbilder.

Ihre Fähigkeit zur Analyse ist so weit verödet, dass sie weiterhin alte Ängste pflegen und damit bedienen wie die der Gefahr aus Russland oder die Angst der Europäer, besonders der Deutschen, vor der Inflation.

Das sind alte Ängste, denen heute die Grundlage fehlt. Da aber die inneren Triebkräfte solcher Entwicklungen nicht erkannt werden, schwären sie als Ängste weiter. Die Meinungsmacher und Ideologieschaffenden im Westen sind immer weniger in der Lage, diese Ängste durch sachliche Erklärungen aus der Welt zu schaffen. Hinzu kommt, dass sie es in vielen Fällen auch gar nicht wollen.