Bauch zeigen für den Weltfrieden
Dass wir stark sein sollen, heißt es immer. Doch wahre Stärke zeigt sich in dem Moment, da wir unsere schwache Seite zeigen.
Stärke und Härte sind die Haupttugenden, die heute zählen. Nicht nur für Individuen, sondern auch für Länder und ganze Weltregionen. Auf keinen Fall nachgeben, das könnte der Feind als Schwäche auslegen, und dann überrennt er uns. Wenn beide Seiten eines Konflikts so denken, dann verursacht dies mitunter ein Monate andauerndes Gemetzel — selbstverständlich ein notwendiges, gar alternativloses, das leider Gottes notwendig erscheint, um möglichen zukünftigen Gräueltaten des Gegners vorzubeugen. Auf diese Weise verlieren Tausende „Starke“ beider Seiten ihr Leben, ihre Gesundheit und ihre Heimat. Und mit ihnen auch die „Schwachen“, die für das alles gar nichts können. Die Schlussfolgerung, die man hier ziehen könnte, ist: Wenn Stärke in der Weltgeschichte derartige Verwüstungen anrichtet, wäre es dann nicht an der Zeit, Schwäche zu kultivieren? Und könnte man mit dem Zulassen und Zeigen von Schwächen nicht schon im „Kleinen“ anfangen, in unserem Alltagsleben?
Wir leben in einer seltsamen Welt, über die man bisweilen lachen muss, um sie zu verstehen. Um das zu begreifen, was sich derzeit nicht nur in Deutschland, dort aber traditionell besonders grell und krass abspielt, genügt ein Rückgriff auf einen gerne übersehenen Klassiker der Weltliteratur: eine kleine, famose Erzählung des genialen Schriftstellers Carl Barks, die in mehreren Varianten vorliegt, aber immer auf das Gleiche hinausläuft: Da fühlen sich zwei Nachbarn wechselseitig voneinander gestört und in ihrem vermeintlichen Frieden bedroht. Dem ersten, noch lauen Verdacht folgt — verstärkt durch maßlos überdrehte, einseitige und zunehmend rachsüchtige Aufmerksamkeitsfokussierung — Schritt für Schritt das Hineinsteigern in die unerschütterliche Überzeugung, Nachbar Knackfuß beziehungsweise Nachbar Donald Duck sei das absolut Böse, das nur eines im Sinne habe: die totale Vernichtung seines Gegners. Weshalb der Gegner, der dies im Schilde führt, logischerweise total vernichtet werden muss.
Am Ende ist von den jeweiligen Wohnungen beziehungsweise Gärten nicht mehr viel übrig, und lustig sind diese Geschichten auch aus zwei Gründen: erstens weil sie fast jeder Leser spätestens im Kindergarten irgendwie selbst erlebt hat — sei es in der Variante „Wenn du mir dein Spielzeug nicht freiwillig übergibst, mache ich es eben kaputt“ oder „Haust du mir auf die Nase, haue ich dir zweimal auf die Nase, damit du mir nicht dreimal auf die Nase haust, obwohl ich weiß, dass du genau das genau deswegen tun wirst“. Und zweitens weil sie in einer Welt spielen, die sich, wenn sie mal in Trümmern liegt, recht umstandslos wieder in ein Idyll verwandeln lässt, mit Radiergummi, Bleistift und Wasserfarben. Ach so, und weil die dem Menschen phylogenetisch angeborene eskalierende Dummheit nun mal ihre putzigen Seiten hat, solange kein Blut fließt.
Man muss nicht besonders gebildet zu sein, um den unter der Slapstick-Oberfläche versteckten Kern der Parabel und der Sache zu verstehen: Lasst die Menschen toben und sich federn, wenn’s sein muss, so sind sie nun mal. Problematisch wird das Spiel, sobald die Herrschaft des Menschen über den Menschen ins Spiel kommt und das zweck- und sinnlose Gebolze als Generator für Profite herhalten soll. Wenn die mächtigen Führer — die es als solche wirklich nur beim sogenannten Sapiens-Affen gibt — beschließen, es sei an der Zeit, „Stärke zu zeigen“, dann werden die Ausgebeuteten aufs Schlachtfeld geschickt, müssen sich totschießen und ihre Häuser niederbrennen lassen, und am Ende ist alles im Eimer und die Mächtigen und Reichen sind noch mächtiger und reicher als zuvor.
Weil das als Ganzes und im Detail grauenhaft, idiotisch und wider jede Vernunft, Logik und Natur ist, funktioniert es eben nur durch Herrschaft und Gewalt. Selbst unter diesen Bedingungen indes kümmert es die ausgebeuteten Klassen wenig, von wem sie jeweils ausgebeutet werden und an wen sie Steuern blechen, damit er sie noch besser ausbeuten und zum Zwecke der Ausbeutung weiterer Menschen Waffen anschaffen kann. Der Mensch an sich mag sich noch so sehr hassen — zum emotionslosen Massenmörder wird er erst durch Drill, Befehl und Disziplin, durch Angst, Zwang und Brutalität. Wer eine militärische Grundausbildung erfahren hat, wird die dadurch erzeugte Verkrüppelung von Seele, Gewissen und Anstand nie mehr wirklich los. Deshalb sind Herrschende aller Zeiten und Länder so fürchterlich darauf aus, genau diese Verkrüppelungen herbeizuführen.
Dass die Geschichten von Donald Duck und seinen Nachbarn ausgerechnet in den USA entstanden, das mag erstaunen. Handelt es sich doch um das vielleicht einzige Land der Welt, das sich noch nie eines militärischen Angriffs von außen erwehren musste, selbst aber auf den Gründungsmythos zurückgeht, die ganze Welt sei im Grunde herrenlos und warte nur auf ihre Eroberung, es gebe keine akzeptable Grenze oder vielmehr sei jede solche Grenze nur dafür da, sie zu überschreiten, sich nach Belieben zu erweitern und alles zu unterwerfen, was einem auf dem Weg zur Universalherrschaft begegnet.
Man könnte es aber auch als typisches und zwangsläufiges literarisches Phänomen verstehen, dass — um Hölderlin zu paraphrasieren — dem Ort des größten Wahnsinns stets auch die treffendste Diagnose dieses Wahnsinns und vielleicht sogar Mittel dagegen entspringen.
Carl Barks’ bitterkomische Satiren enden nämlich stets damit, dass beide verlieren. Sie führen zwangsläufig in die totale Erschöpfung. Der Leser — falls er von hinreichend jugendlichem Gemüt und militärisch unverkrüppelt ist — begreift schon auf der ersten Seite: Wenn jetzt einer der beiden aufhört, Stärke zu zeigen, hört der andere auch auf, und es ist Ruhe. Und er weiß am Ende, wenn alles in Scherben liegt: Das hätten die doch von Anfang an haben können!
Das ist auch die ewig gleiche, ewig unbeachtete Summe und Lehre aus so ziemlich allen Kriegen, die Menschen seit Jahrtausenden gegen Menschen führen: Hinterher ist nichts besser. Es sind nur viele tot und vieles kaputt und die meisten seelisch verkrüppelt; und weil sie so verkrüppelt sind, aber nichts anderes gelernt haben, lecken sie ein paar Jahre oder Jahrzehnte lang ihre Wunden und fangen dann genau den gleichen Wahnsinn wieder von vorne an. Diesmal aber aus „guten Gründen“, und diesmal können sie selber selbstverständlich wieder mal überhaupt nichts dafür. Sie wollen sich ja nur „schützen“ und „sichern“ und deshalb „Stärke zeigen“ gegen einen Feind, der genau das Gleiche will und von dem sie eigentlich wissen müssten, dass er gar kein Feind wäre, wenn es irgendwann mal gelänge, diese saudumme Geschichte mit den Verkrüppelungen, dem Profit und dem Stärkezeigen aus der Welt zu schaffen.
Das geht aber offenbar nicht. Anfang des letzten Jahrhunderts meinte zum Beispiel Deutschland — das heißt: seine Führer —, man müsse nun „Stärke zeigen“ gegen Anfechtungen, die bei genauerem Hinschauen gar keine waren, sondern nur Ränke, geschmiedet von Profiteuren, die dann, als Millionen Menschen elendig verreckt waren, dastanden mit ihren Profiten und damit auch nichts Rechtes anzufangen wussten oder glücklich waren. Wahrscheinlich, dachten sie, sind wir nur noch nicht reich genug, und schon fachten sie den nächsten Krieg an, und als an dessen Ende die ersten Atombomben ahnen ließen, worauf das alles hinauslief, bekam das Konzept „Stärke zeigen“ zum ersten Mal ein paar Risse in seiner schimmernden Rüstung.
Allerdings nicht lang.
Ausgerechnet in Deutschland, wo man von 1933 bis 1945 deutlicher und irrer „Stärke gezeigt“ hatte als jemals jemand zuvor und wo deshalb dieses Stärkezeigen hinterher angesichts von 55 Millionen Ermordeten eine Zeit lang wahrhaft keinen guten Ruf mehr hatte, tauchten schon nach wenigen Jahren und immer mehr gegen Ende des letzten Jahrtausends medienträchtige Blödiane auf und wollten genau das schon wieder: „Stärke zeigen“.
Da konnte man noch hoffen, so wie man in den Sechzigern und Siebzigern derartige Deppen belächelt, verspottet und notfalls mit Watschen zum Schweigen gebracht hatte. Als dann aber zweieinhalb Monate lang deutsche Bomben auf Belgrad fielen, war der Spaß vorbei. Deutschland „zeigte Stärke“ und marschierte bald darauf in Afghanistan ein, einem Land, das den Deutschen wirklich noch nie irgendwas getan hatte.
Vielleicht fragen wir uns by the way mal, wie und was Kinder spielten und spielen, früher und später: wieso wir, die sogenannten Babyboomer, in Wiesen herumhüpften und einem Ball hinterherliefen oder im Sandkasten Kuchen und Burgen bauten, während im Radio Willy Brandt Versöhnung predigte, wohingegen zwanzig oder dreißig Jahre später virtuelle Autisten vor flackernden Bildschirmen herumhingen und binnen Minuten Millionen virtuelle Menschen- oder Alienleben auslöschten, um virtuelle Punkte zu erringen? Wie konnte das Leben, wie konnte der Mensch solcherart zum Objekt menschen- und lebensverachtender Beschleunigungs- und Vernichtungswahnideen werden?
Das ist nämlich das Problem mit dem Stärkezeigen: Es führt nur dann zum Erfolg, wenn man den Gegner innerhalb kürzester Zeit vernichtet.
Ansonsten erweist sich der Feind früher oder später nicht nur als Mensch mit Rechten und als Opfer und als legitimiert, nun selber „Stärke zu zeigen“, sondern er unterminiert auch das moralische Fundament des anderen, und irgendwann schmeißen alle sämtliche Bedenken über Bord und zeigen bloß noch Stärke, und dann ist mal wieder alles im Eimer, jedesmal schlimmer und nachhaltiger. Dass diese Vokabel „nachhaltig“ erklären könnte, wieso sich ausgerechnet die deutschen Grünen als schlimmste Kriegs- und Massenmörderpartei seit der NSDAP erwiesen haben, ist mir selbst als Witz zu degoutant.
Ich denke: Nachdem wir Menschen nun seit gefühlt einer halben Million Jahren immer den gleichen Schwachsinn mit immer dem gleichen, mörderisch eskalierenden Resultat versucht haben, sollten wir vielleicht endlich begreifen: Einen Frieden kann es nur geben, wenn irgendjemand irgendwann irgendwo endlich anfängt, Schwäche zu zeigen. Nur dem Schwachen gelten das Mitgefühl und die Hilfsbereitschaft der anderen, möchte man meinen. Ganz so simpel ist die Sache freilich nicht: In totalitären Konkurrenzgesellschaften wird der Schwache beschimpft und verhöhnt, der Verweigerer bestraft und gefoltert, der Bettler missachtet, der hemmungslos größenwahnsinnige Verbrecher hingegen bewundert und angebetet, ob er nun Hitler oder Gates heißt.
Das ist mir aber nicht Argument genug, weil das Gegenargument schwerer wiegt: Wir wissen ja, was herauskommt, wenn Wettbewerb und Übertrumpfung die Regeln des existenziellen Spiels sind. Wir wissen auch, dass damit noch niemand je glücklich geworden ist, weder der Reichste noch sowieso der Ärmste. Ich erinnere mich an die Bilder abziehender Sowjetsoldaten aus der DDR, die Schwäche gezeigt und sich dem Westen ergeben hatte; ich erinnere mich an ihre unsicher freundlichen, bemitleidenswerten Gesichter als Kontrast zu den „Hurra!“ schreienden deutschen Möchtegernsiegern mit vollgeseichten Nationaljogginghosen und ihren US-Kolonialherren in ihren Wall-Street-Büros, an deren triumphale Überheblichkeit und an meine Übelkeit angesichts einer derartigen Verkommenheit.
Ich erinnere mich an die Bilder des Elends, der Verwüstung und des Hungers aus Russland während Boris Jelzins torkelnder Gesamtauslieferung seines Verantwortungsbereichs an die Vernichtungsmühlen des internationalen Großkapitals. Was ist davon geblieben? Wer hat hier „gesiegt“ und „Stärke gezeigt“, und wem galten die Sympathien der Menschen, die zu Regungen der Bescheidenheit und Demut fähig waren im Gewitter des Kapitalweltkriegs?
Dass Jelzins Nachfolger Putin die Notbremse zog und die vollständige Vernichtung Russlands nach seinem Eingeständnis der eigenen Schwäche abwendete, mag man moralisch und historisch bewerten, wie man will. Ich hege für die derzeit in Russland hochkochende trotzige Tendenz, „Stärke zu zeigen“ gegen den Westen, ebenso wenig Sympathien wie für die andere Seite, die im Grunde schon 1945 mit diesem absurden Wettkampf der Idiotien angefangen hat.
Es führt trotzdem und insgesamt kein Weg daran vorbei, Schwäche zu zeigen, wenn man daran interessiert ist, dass noch ein paar Jahre oder Jahrhunderte lang Menschen auf diesem Planeten leben, die sich für ganz normale Dinge interessieren: nämlich gut zu essen, feierabends ein Bier zu trinken und blöde Sprüche zu reißen, zu träumen und sich zu verlieben, Sex zu haben, spazierenzugehen, den Sonnenuntergang zu betrachten, sich Witze zu erzählen und in den Armen zu liegen und an früher zu denken und sich Geschenke zu machen und an der Freude der anderen zu erfreuen. Und nicht nur Menschen übrigens: Da sind auch noch Tiere und Pflanzen, und die sind allesamt so unbeholfen, liebenswert, lustig und großartig wie wir, und im Krieg werden sie ebenso zu Müll geschreddert wie wir, und von dem Profit, der aus den Blutmühlen und Fleischwölfen herauswuchert, haben sie ebenso wenig wie wir.
Auch die Demokratie übrigens, jene vielbeschworene utopische Idealschimäre einer menschlichen Gesellschaft, ist ein System der Schwäche. Sie beruht geradezu darauf: auf dem bewussten, planmäßigen und völligen Verzicht auf Herrschaft, Führung, Gewalt und Macht. An die Stelle dieser historischen menschlichen Grundirrtümer und Fehler tritt ein — wie man so sagt — „freier Debattenraum“, ein ständiges Beraten, Palavern, Abwägen, Debattieren und Diskutieren, das Verfechtern „simpler Lösungen“ eine solche Angst einjagt, dass sie sich traditionell darüber mokieren und erregen und immer dann, wenn ihnen die Argumente ausgehen, nach „Führung“ verlangen. Was dabei herauskommt, sind idiotische, dysfunktionale Konstrukte wie die sagenhaft bescheuerte „wehrhafte Demokratie“, die nichts anderes ist als eine Neuauflage der totalitären Trutzburg, in der sich die Aufrechten sammeln und der Führung ihrer Führer unterwerfen und mit vereinten Kräften das tun, was sie am besten oder als Einziges können: ausgrenzen und bekämpfen. Und zwar alles, was sich nicht unterwerfen mag, sondern auf altmodischem Klimbim wie der Würde des Menschen, seiner freien Selbstbestimmung, auf Solidarität der Schwachen und dem erwähnten freien Debattenraum beharrt.
Was dabei herauskommt, ist vor allem: Krieg — weil die „Stärke“, die Führer und Geführte rituell beschwören und bei jeder Gelegenheit „zeigen“ müssen, ohne kollektiven Feind ein lächerliches Kasperltheater bleibt.
Also muss ein Feind her, und den findet man traditionell dort, wo jemand vorübergehend Schwäche gezeigt hat. In Deutschland ist das nicht erst seit den Zeiten der Sowjetunion meist der Russe, der sich schon gegen Ende des Ersten Weltkriegs den noch kaiserlichen Deutschen zu Füßen warf, um Frieden bat und dafür hemmungslos über den Tisch gezogen wurde. Der sich 1990 erneut nach Strich und Faden und mit windigen Versprechungen übers Ohr hauen ließ, man werde ihn künftig endlich in Ruhe lassen und „keinen Zentimeter nach Osten“ und so weiter.
Wenn einem solchen schwachen Feind dann doch mal der Kragen platzt und er darauf hinweist, es gebe gewisse Grenzen, die man bei allem Überschwang des Stärkezeigens doch bitte schön beachten möge, weil es sonst knallt, dann wird der Stärkezeiger erst so richtig stark, weil er sich nun in seinem unbedingten Expansionsdrang bedroht fühlt. Dann kennt er keine roten Linien mehr, dann geschehen die absurdesten Paradoxien. Zum Beispiel behauptet dann die — selbstgefühlt — „einzige Weltmacht“, die zwecks Einschüchterung der Restwelt an die tausend koloniale Militärstützpunkte auf dem ganzen Planeten unterhält, sie werde „eingekreist“ und „umzingelt“. Was ungefähr so sinnvoll und vernünftig ist wie ein Waldbrand, der sich darüber beschwert, dass sich ihm immer neue Bäume in den Weg stellen und ihn bedrohen.
Wie es weitergeht, wissen die Älteren unter uns aus Erzählungen ihrer Großeltern. Und ich weiß, ich wiederhole mich, was den Deutschen und den Russen angeht; drum belassen wir’s dabei.
Es braucht kein Großmaß an Weisheit, um zu begreifen, dass das Zeigen von Stärke ein reichlich blödes Spektakel ist, das zu nichts Gutem führt. Das kann man zur Not auch von zwei beliebigen Straßenkötern erfahren, die sich zufällig begegnen: Wenn klar ist, dass eine tätliche Auseinandersetzung aufgrund unterschiedlicher Größe und muskulärer Statur wenig Aussichten bietet, wird sich der kleinere der beiden widerstandslos auf den Rücken schmeißen, den Bauch herzeigen und der Gnade des Stärkeren ausliefern, und am Ende teilt man sich die angebissene Leberkässemmel, um die es ursprünglich ging, und schließt vielleicht eine lebenslange Freundschaft, einfach so, weil man sich aufeinander verlassen kann. Das ist purer Instinkt oder vielmehr instinktive Vernunft und erspart letztlich beiden viel Ärger und Trara. Dafür braucht es kein Abitur und erst recht kein „Studium“ an einer Militärhochschule, womöglich bei notorischen Kampfhunden und verblödeten Massenvernichtungspropagandisten wie Carlo Masala. Allerdings lässt sich das Gleichgewicht stören, wenn man einen der beiden Hunde an eine stramme Leine legt: Schon fühlt er sich unbezwingbar. Auch da wiederhole ich mich: Die Leine ist das Militär des Hundehalters.
„Stärke zu zeigen“ ist übrigens auch dann blöd und schädlich, wenn es nicht um Waffen, sondern bloß um eine vermeintliche glanzvolle moralische Integrität und Überlegenheit geht. Um das zu belegen, muss man nicht unbedingt auf die peinlichen Trotteleien der derzeitigen deutschen Außenamtshampelfrau und deren Wirkung in der Welt verweisen.
Mahatma Gandhi gilt vielen zwar als moralischer Held, aber wie alles Heroische stets ein unangenehmer Stunk umweht, so findet man auch bei dem indischen Nationalheiligen nach einigem Suchen dunkle Stellen — wobei ich allerdings gerne ein Tabu ankratze und behaupte: Es hätte den Millionen europäischen Juden, die innerhalb von fünf Jahren von Deutschen mit industrieller Akribie ermordet wurden, nichts geholfen, wenn jeder von ihnen einen Revolver besessen hätte, um sich zu wehren. Wo Waffen sind, gibt es immer noch schlimmere Waffen. Und um den historischen Gipfel menschlicher Grausamkeit zu verhindern oder aufzuhalten, hätte es einer Einsicht, Einkehr, einer Besinnung auf Demut und Moral und Akten des zivilen Ungehorsams, der Verweigerung, des Zeigens von Schwäche bei den Tätern bedurft, die dazu in der fanatisierten Euphorie ihrer Stärke ganz offensichtlich nur viel zu vereinzelt fähig waren.
Aber hier beginnt schon der Debattenraum. Einsicht in einer Hinsicht muss nie bedeuten, dass jemand das Grundprinzip des Schwächezeigens wirklich verstanden hat. Das ist ja auch gar nicht nötig. Um noch ein tabuisiertes Beispiel an den Haaren herbeizuziehen: Was immer man der christlichen Kirche an Dummheit, moralischen Abgründen, Greueltaten und Irrsinn über viele Jahrhunderte hinweg vorwerfen mag, ist ihrem Begründer kaum anzulasten. Und der wählte, als es darum ging, seine Kirche metaphorisch auf einem sicheren Felsen zu errichten, zu diesem Petrus eben nicht den heldenhaften Kämpfer Jakob, den glänzenden Missionar Paulus oder wenigstens den in seiner ostentativen Überzeugtheit unbeugsamen Andreas, sondern einen Feigling, Verräter und Lügner namens Simon, der besser als jeder andere verstand, was Schwäche ist und Schwächen sind und wann man sie zeigen muss, um Schlimmeres zu verhindern.
Als standhafter Agnostiker möchte ich übrigens darauf hinweisen, dass Jesus selbst nur ein einziges Mal wirklich „Stärke zeigte“ — und zwar indem er Schwäche zeigte und am Palmsonntag vollkommen unbewaffnet auf einem Esel in Jerusalem einzog, um sich auszuliefern und, wie er selbst ankündigte, zu sterben. Wäre er mit einem hochgerüsteten Sturmtrupp in die Stadt marschiert, wüsste man heute sicher nicht mehr viel von ihm, und gelten täte er wenig.
Man könnte ähnliche Beispiele aufzählen, allerdings nicht arg viele, weil die Geschichte meist von den vermeintlichen Siegern geschrieben wird und weil der Mensch nun mal nicht die Krone der Schöpfung, sondern höchstens ihr Schwert oder vielmehr die Krone der Blödheit ist. Deshalb auch wird er sich — sehr bald und sehr radikal — zusammenreißen müssen: Stärke ist Schwachsinn, Stärke zeigen ist öffentlicher Schwachsinn und führt direkt in den Untergang. Wenigstens diese kleine Sache wird der Mensch sehr bald endlich begreifen müssen. Weil das Verweigern dieser Erkenntnis halt schlicht und einfach genau da hinführt: in den Untergang.
Ich weiß: Diese Gedanken sind reichlich roh und ungeordnet. Vielleicht werde ich sie eines Tages in eine Form gießen können, die der Zeit und dem Scharfsinn des Hörers und Lesers widersteht. Einstweilen mögen auch sie als Zeichen der Schwäche herhalten: Habt Nachsicht, ausnahmsweise auch mit mir!