Austauschbare Polit-Marionetten
Der österreichische Bundeskanzler Kurz ist von der Bühne abgetreten — doch das politische Theaterstück bleibt dasselbe.
„Kurz muss weg!“, skandierten Zehntausende an mehreren Winterwochenenden im vergangenen Januar 2021. Sie äußerten damit ihren Unmut über das repressive Corona-Regime. Neun Monate später ist Sebastian Kurz weg von der Bühne des Kanzleramtes … und nichts hat sich substanziell geändert.
Am Samstag, dem 9. Oktober 2021, hatte der jüngste Kanzler der Zweiten Republik seinen Rücktritt erklärt, um gleichzeitig die Parteiobmannschaft der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) zu behalten und als Parlamentarier den Posten des Fraktionschefs einzunehmen. Das Kanzleramt ging an den Adelsspross und bisherigen Außenminister Alexander Schallenberg. Die auflagenstärkste Kronenzeitung verglich den Vorgang mit der Putin’schen Rochade im russischen Präsidentenamt, als dieser 2008 seinen Platz für Dmitri Medwedew räumte, der ihn vier Jahre später wieder an den Boss zurückgab. Doch der Vergleich hinkt gewaltig.
Sebastian Kurz hat nicht wegen irgendwelcher Formalia seinen Platz an der Regierungsspitze geräumt. Er ist von seinem grünen Koalitionspartner erpresst worden. Das ist insofern bemerkenswert, als die mit ihren 13,9 Prozent und 26 Parlamentssitzen vergleichsweise schwachen Grünen ihren starken Regierungspartner ÖVP, mit 37,5 Prozent und 71 Sitzen, so weit unter Druck setzen konnten, dass dieser seinen Spitzenmann opferte. Wäre die ÖVP nicht vor der grünen Forderung, einen „untadeligen“ Kanzler anstelle von Kurz zu nominieren, eingeknickt, dann hätte es als einzig gangbare Alternative gegen die ÖVP eine Koalition aller parlamentarischen Kräfte unter Einschluss der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) zur Bildung einer Regierung gegeben.
Da die rechte FPÖ unter ihrem neuen Vorsitzenden Herbert Kickl nicht gewillt war, den leisen Steigbügelhalter für eine sozial-liberal-grüne Regierung zu machen, einigte man sich auf die Fortführung der ÖVP-Grünen-Koalition. Im anderen Fall wären möglicherweise sowohl die Corona-Politik als auch wesentliche Teile der österreichischen EU-Politik auf den Prüfstand gekommen … und hätten sich eventuell geändert.
Kommen wir zurück zum eigentlichen Auslöser des Kurz’schen Rücktritts. Dem Ex-Kanzler wurde bereits vor längerer Zeit staatsanwaltlich vorgeworfen, im Fall einer wichtigen personalpolitischen Bestellung eine falsche Zeugenaussage getätigt zu haben. Dass hierbei die Unschuldsvermutung gilt, muss wohl gesagt werden. Über diese Affäre ist Sebastian Kurz aber definitiv nicht gestolpert.
Schwerer, wiewohl nicht im rechtlichen, sondern im moralischen Sinn, wogen die publik gewordenen Chats aus seinem engen persönlichen Umfeld, die ein desaströses Sittenbild der heimischen Politik — speziell innerhalb des Klüngels um Sebastian Kurz — offenbaren. Da wurde geschimpft und nach allen Richtungen getreten, was das Zeug hielt; und es offenbarte sich ein gieriger Haufen, der mit aller Macht zum Ziel strebte; wobei das Interessante dabei ist, dass dieses Ziel in erster Linie darin bestand, die eigene Partei zu übernehmen und für eine neue, junge Garde unter Kurz’scher Führung fit zu machen. Die Geschichte hat gezeigt, dass dies gelungen ist, selbst die Parteifarbe wurde von schwarz auf türkis gewechselt.
Für diese Übernahme der ÖVP, und das ist der bislang konkreteste Vorwurf, wurden zwei Frauen aus der Meinungsforschung angeheuert sowie die Gratiszeitung Österreich dazu auserkoren, über den damaligen ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner schlecht zu berichten und über den Jungstar nur Positives zu schreiben. Auch abgefragte Beliebtheitswerte von Spitzenpolitikern sollen manipuliert worden sein, das sagt zumindest die Wiener Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA). Im Gegenzug soll es Geld für das Gratisblatt in Form von Anzeigenschaltungen geregnet haben.
Weil das Geld für diese Pro-Kurz-Kampagne aus dem Finanzministerium gekommen sein soll, also öffentliches Geld war, wie es Chat-Protokolle eines dortigen hohen Beamten vermuten lassen, wurde Anklage gegen Kurz und acht weitere Personen wegen Untreue und Bestechung erhoben.
Einem langjährigen Beobachter der österreichischen Innenpolitik kommt bei diesen Vorwürfen — sie mögen stimmen oder nicht, beziehungsweise „Unschuldsvermutung“ — etwas komisch vor, nämlich die damit einhergehende Unterstellung, die Gratiszeitung Österreich wäre mit ihrer Berichterstattung alleine in der Lage, in der ÖVP Spitzenpolitiker auszutauschen. Da würde man das Blatt krass überschätzen.
Das ganze von der WKStA aufgedeckte Schmierentheater basiert auf Chat-Protokollen. Die allermeisten davon liegen schon fünf Jahre zurück. Unabhängig davon, ob sich der Autor dieser Zeilen darüber persönlich freut, den Rücktritt des konservativ-reaktionären Jungstars der österreichischen Innenpolitik in so kurzer Zeit erlebt haben zu dürfen, fragt er sich schon, wie es möglich ist, persönliche Dialoge, die über WhatsApp und SMS-Nachrichten geführt werden, einfach öffentlich zu machen. Genau das ist passiert, und jedermann konnte die ungefilterten Bösartigkeiten des Klüngels rund um Sebastian Kurz nachlesen. Nur dieses Breittreten in den Medien war es schließlich, das vor allem bei ÖVP-Sympathisanten Widerwillen gegen ihre einstige Politikhoffnung hat aufkommen lassen; und das, obwohl die protokollierten Chat-Texte nicht von ihm, sondern seiner Umgebung kamen.
Man fragt sich freilich auch, wie ahnungslos und dumm die Chat-PartnerInnen gewesen sein mögen, im Jahr 2016 ungeniert über falsche Rechnungslegungen und auszutricksende Parteikollegen zu reden. Sie haben wohl den Werbetext von WhatsApp für bare Münze genommen. Damals, im Jahr 2016, stand zu Beginn jeden Chats der Satz: „Die Nachrichten, die du schreibst, sind jetzt verschlüsselt und können von niemand anderem gelesen werden.“ Wie lustig müssen es die Staatsanwälte gehabt haben, als sie fünf Jahre später immer wieder und immer wieder diesen Satz zu lesen bekamen.
Politisch wesentlich für den blamablen Rückzug von Kanzler Kurz war im Vorfeld die Übernahme des Justizministeriums durch eine Grüne, der es auch gelungen ist, den umtriebigen und der politischen Rechten zugehörigen Sektionschef Christian Pilnacek zu suspendieren. Über ihn als mächtigsten Beamten des Justizressorts liefen zehn Jahre lang alle Fäden zusammen. Bereits zu Anfang der grünen Justizära wurde er wegen Amtsmissbrauch und Geheimnisverrat — wie immer gilt die Unschuldsvermutung — angezeigt. Seine möglicherweise schützende Hand fehlt nun der ÖVP.
Ein weiterer Mosaikstein, der für die Fortführung der Kurz’schen Kanzlerschaft plötzlich fehlte, liegt im Wahldebakel der CDU/CSU in Deutschland begründet. Damit fand auf internationaler Bühne ein Richtungswechsel statt, der der ÖVP im kleinen Österreich zu schaffen macht.
Von einer baldigen Rückkehr von Sebastian Kurz auf den Posten des Regierungschefs ist nicht auszugehen, eher scheint es so, dass er sich auch als Parteichef nicht mehr wird lange halten können. Diese Einschätzung beruht auf der Tatsache, dass es der Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) offensichtlich gelungen ist, eine Kronzeugin gegen das „System Kurz“ in Stellung zu bringen. Geschickt, wenn auch möglicherweise mit nicht ganz legalen Mitteln, hat sich die WKStA das mutmaßlich schwächste Glied in der Kurz-Kette herausgesucht, die 38-jährige Meinungsforscherin Sabine Beinschab.
Am 12. Oktober 2021 wurde sie wegen Verdunkelungsgefahr verhaftet und zwei Tage lang ausgequetscht. Die grün-affine Stadtzeitung Falter zitiert sie am 29. Oktober mit der Aussage: „Ich bin nunmehr bereit.“ Wenn sie das auch den staatsanwaltlichen Ermittlern sagte, und das kann als sicher angenommen werden, dann hat sie sich im Gefängnis mutmaßlich als Kronzeugin zur Verfügung gestellt. Weil sie allerdings bereits vor ihrer Einvernahme als Beschuldigte geführt worden war, dürfte die Kronzeugenregelung bei ihr nicht zur Anwendung kommen. Dass sich die WKStA darum schert, ist allerdings unwahrscheinlich.
Für Kurz und Co stehen also schwierige Zeiten bevor. Immer dann, wenn es politisch opportun erscheint, könnten Leaks aus Chat-Protokollen oder eine Aussage der Kronzeugin an die Öffentlichkeit gelangen, um dem Ex-Kanzler und seiner Partei zu schaden. Dass sich die ÖVP dieses Trauerspiel lange ansieht, darf bezweifelt werden. Nach ein paar Jahren politischem Ruhestand wäre es dann an der Zeit, dass ein gereifter Kurz auf der EU-Bühne wieder auftaucht. Diese ist ohnedies ein optimales Betätigungsfeld für national gescheiterte Figuren.
In der österreichischen Innenpolitik wird sich nicht viel ändern. Der neue Kanzler Schallenberg ist vom Typ her ebenso autoritär wie sein Vorgänger, allerdings ohne Massenbasis. Der Europäischen Union streut er mehr Blumen, die Fidesz-Regierung in Ungarn liegt ihm weniger am Herzen, das Corona-Regime überlässt er bislang seinem grünen Gesundheitsminister, dessen Erscheinung wie aus den späten 1930er-Jahren entsprungen scheint. Was sonst noch auffällt am neuen Kanzler ist seine bedingungslose Treue zum zionistischen Israel; er war es, der während der Angriffe auf den Gaza-Streifen im Mai 2021 die israelische Fahne auf dem Außenministerium gehisst hat — ein, nebenbei bemerkt, desaströses Zeichen für den Vertreter eines formal neutralen Staates.
Fazit: Die Losung „Kurz muss weg!“ war eindeutig zu kurz gegriffen.