Außer Kontrolle
Die äußeren Ereignisse zeigen uns, was wir innen loszulassen haben.
Überwachung, Zensur, Manipulation, Herrschaft, Gewalt — die Kontrolle von außen, die wir heute erleben, hat viele Formen und Gestalten. Gegen die Bestrebungen globaler Institutionen und Unternehmen, die Macht über die gesamte Welt in wenigen Händen zu konzentrieren, können wir nichts tun. Doch wir sind nicht machtlos. Wenn wir das Problem erkennen, können wir in uns die Bedingungen dafür schaffen, dass die äußeren Machtapparate sich auflösen, weil sie nicht mehr gebraucht werden.
In der langen Geschichte der Menschheit hat es immer wieder Mächte und Bewegungen gegeben, die nach der Weltherrschaft strebten. Die Idee war bereits in der Antike entstanden. Nachdem sich in Mesopotamien, China und Ägypten vor etwa sechstausend Jahren erste Staaten bildeten und mit ihnen Kriege und Eroberungen an Bedeutung gewannen, strebten immer wieder einzelne Menschen oder Clans nach der Kontrolle über die gesamte bekannte Welt.
Alexander der Große, Dschingis Khan, Karl V., Napoleon I., Adolf Hitler, vom Römischen Reich zum Britischen Weltreich, vom Marxismus zu den heutigen Global Playern – seit Beginn des Patriarchats, das den männlichen Herrschern eine Vormachtstellung in der Gesellschaft gab, geht es darum, möglichst viel Macht und Besitz in möglichst wenigen Händen zu konzentrieren. Nachdem lange Zeit Fürsorge und der Schutz des Lebens im Zentrum gestanden hatten, ging es mit der Männerherrschaft gewissermaßen um die Wurst.
Wer jagt am besten, wer hat den größten, wer besitzt am meisten? Frauen spielen in diesem Wettrennen nur eine untergeordnete Rolle und treten vor allem dann auf den Plan, wenn sie es wie die Männer machen. Die übrigen sind entweder Mütter, Ehefrauen oder Musen berühmter Männer – oder werden gar nicht erst erwähnt. Der Kreis, in dem alle ihren Platz hatten und jeder jeden sehen konnte, wurde von der Form der Pyramide abgelöst, in der die Oberen über die Unteren bestimmen.
Schmerzhafte Ohnmacht
Viele von denen, die die Gefahr in dieser Entwicklung erkennen, fühlen sich einer quälenden Ohnmacht ausgesetzt, die sie dazu zu verdammen scheint, sehenden Auges in die Katastrophe abzurutschen. Während die Kontrolle von außen und von oben immer mehr zunimmt, ist der Einzelne immer machtloser den Ereignissen ausgesetzt. Mancher mag diejenigen beneiden, für die die Welt noch in Ordnung ist.
Es ist wie das Wissen um den eigenen Tod. Während sich alle anderen Lebewesen auf dem Planeten keine Gedanken über ihr eigenes Ende machen müssen, versetzt die Aussicht auf den Tod den Menschen in Angst und Schrecken. Fast erscheint es wie ein Fluch, mit Verstand ausgestattet zu sein.
Ist es nicht ungerecht, Dinge wahrnehmen und nicht ändern zu können? Ist es nicht geradezu gemein, eine Intelligenz mitbekommen zu haben, die uns vor allem unsere eigene Begrenztheit und Endlichkeit erfahren lässt?
Ob im Scheitern der vielen oder im Erfolg der wenigen: Tief ist unsere Geschichte von dem Ringen um Kontrolle geprägt. Kontrolle über andere Menschen, Kontrolle über Territorien, Kontrolle über alles, was lebt und sich bewegt. Macht euch die Erde untertan. Alles versucht unsere Kultur seither zu kontrollieren und zu steuern: Territorien, Elemente, Bodenschätze, Pflanzen, Tiere, Menschen, den Lauf der Flüsse und selbst das Klima.
Versteckte Kontrolle
Wenn das Thema Kontrolle heute so allgegenwärtig ist, dann haben wir alle etwas damit zu tun. Es betrifft uns alle und stellt uns vor die Frage, wie wir es denn selber halten mit der Kontrolle. Wen oder was versuchen wir zu lenken? Worauf halten wir unsere Hand? Wo versuchen wir, die Führung zu übernehmen und gehen möglicherweise über die Interessen und Befindlichkeiten anderer hinweg? Wo sind wir dominant und lassen nicht zu, dass jemand so handelt oder so lebt, wie er es will?
Welche Eltern lassen ihre Kinder im Erwachsenenalter vollkommen frei? Welche Ehepartner versuchen nicht, aneinander herumzuerziehen? Welches Unternehmen schafft es, wirkliche Teamarbeit zu leisten? Wer lässt andere in Ruhe das tun, was sie für richtig halten? Wer mischt sich nicht ein, wenn ein nahestehender Mensch sich plötzlich verändert? Wer kommt nicht mit guten Ratschlägen daher, wenn jemand einfach nur ein offenes Ohr braucht? Wer bürdet anderen nicht seine eigenen Ängste auf, wenn jemand sich dazu entscheidet, seinen ganz eigenen Weg zu gehen? Wer respektiert Entscheidungen, die er selber nicht treffen würde?
Wer ist ohne Eifersucht und Neid, ohne Berechnung und ohne Überheblichkeit anderen Menschen gegenüber? Wer versucht nicht, andere subtil zu manipulieren und selbst in möglichst gutem Licht dazustehen? Wer ist frei von Bedürftigkeiten und von Verletzungen, die immer wieder dazu führen, bestimmte Bereiche in sich abzuschotten und sich nicht berühren zu lassen? Wer ist so stabil und ausgeglichen, wer hat ein so gesundes Selbstwertgefühl, dass er nicht bewusst oder unbewusst versucht, Kontrolle über andere auszuüben und die Ereignisse so zu biegen, dass sie ihm nützlich sind?
Wer von uns kann sich wirklich hingeben? Wer hat es gelernt, ein so tiefes Vertrauen in das Leben zu entwickeln, in seine schützende und behütende Kraft, dass er sich ganz entspannt in den Lebensfluss hineinbegibt?
Wer von uns hat keine Blockaden in sich? Wer klammert nicht oder verkrampft sich in der Befürchtung, übervorteilt zu werden, betrogen, hintergangen? Welcher Mensch ist heute so klar, so in sich ruhend, dass er von sich behaupten könnte, Kontrolle wäre ihm fremd?
Von innen nach außen
Die Kontrolle, die wir von außen erfahren und über uns ergehen lassen, ist auf der Höhe der Kontrolle, die wir selbst bewusst oder unbewusst ausüben. Die Konzentration der Macht in immer weniger Händen, das Streben nach Weltherrschaft und die innere Verlorenheit, die uns daran hindert, loszulassen und uns vertrauensvoll hinzugeben, stehen in einem Verhältnis zueinander und reflektieren sich gegenseitig.
Im Außen spiegelt sich, was im Innen geschieht. Außen können wir nichts machen. Hier sind wir tatsächlich ohnmächtig. Wie könnten wir gegen die globalen Unternehmen und Institutionen angehen, die heute an der Spitze stehen? Sie sind viel zu groß und mächtig, als dass wir sie absetzen könnten. Hier können wir nichts tun. Doch in uns können wir einen Veränderungsprozess anstoßen, indem wir die Kontrollmechanismen, die uns daran hindern, frei zu sein, erforschen und überwinden.
Die äußere Situation führt uns unsere innere Haltung vor Augen. So unangenehm es auf den ersten Blick auch sein mag: Sie hilft, das Problem zu erkennen, um es lösen zu können. Das ist das bittersüße Geschenk, das uns das Leben macht. In dem Moment, in dem uns etwas bewusstwird, kann sich das Potenzial entfalten, über das die Lösung kommen kann. So schwer und unüberwindbar es auch zunächst scheint: Was wir in der Lage sind zu erkennen, trägt schon die Lösung in sich.
Schattenarbeit
„Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Kaum ein Zitat wurde in den Corona-Jahren so oft wiederholt wie diese Worte Friedrich Hölderlins. Dort, wo wir die Gefahr erkennen, kann die Rettung nahen. Nehmen wir sie wahr? Werden wir sie in der Form annehmen, in der sie auftritt? Werden wir uns darauf einlassen, das Rettende in uns wachsen zu spüren?
Was wir im Innen klären, kann im Außen keine Schatten werfen. Anstatt gegen Windmühlen anzukämpfen und uns an äußeren Ereignissen abzuarbeiten, auf die wir ohnehin keinen Einfluss haben, spüren wir die versteckten Kontrollmechanismen in uns auf und legen sie frei. Gehen wir dem auf die Spur, was uns zu Manipulierenden macht, zu Überwachenden, Zensierenden, Herrschenden, die Macht über andere haben wollen. Befreien wir uns selbst von den Zwängen, die wir anderen versuchen aufzuerlegen.
Es wird Zeit brauchen, Geduld und gegenseitige Unterstützung. Doch es wird nicht so lange dauern, wie es gebraucht hat, die Herrschaftsstrukturen zu festigen. Sechstausend Jahre Patriarchat sind genug. Sechstausend Jahre Männerherrschaft, sechstausend Jahre Kontrolle, Unterdrückung und Versklavung. Sechstausend Jahre Fortschritt, die uns dahin geführt haben, Bomben zu bauen, die alles zerstören können, und Labore, um künstliches Leben heranzuzüchten.
Wenn wir das nicht wollen, gibt es nur eines: Lassen wir los. Entspannen wir uns. Bilden wir uns nicht ein, in eine Ordnung eingreifen zu können, die unser Vorstellungsvermögen bei weitem übersteigt. Glauben wir nicht, die Ereignisse verändern zu können. Verschwenden wir unsere Energie nicht damit, irgendwelche Dinge im Außen kontrollieren zu wollen. Verwenden wir unsere Macht da, wo wir sie haben. Üben wir sie dort aus, wo wir etwas bewirken können: in uns.
Kümmern wir uns um den einzigen Menschen, den wir lenken können: uns selbst. Tun wir es mit liebevoller Hand. Seien wir gut zu uns wie eine Mutter, die ihr Kind bedingungslos liebt.
Geben wir der Macht eine neue Bedeutung. Lösen wir sie vom Herrschafts- und Fortschrittsdenken. Geben wir die Macht in die Hand der Liebe, der Fürsorge, der gegenseitigen Hochachtung. Dann kann es sein, dass plötzlich alles ganz schnell geht. Doch das liegt nicht in unserer Hand.