Aus einem Leben

Ein nicht unerheblicher Anteil der Deutschen ist nach drei Jahren des Ausnahmezustands traumatisiert.

Dies ist ein persönlicher Bericht nach und inmitten des teils überpersönlichen Traumas, das 2020 seinen Lauf nahm. Die hierin geschilderten Gefühle, Gedanken und Befindlichkeiten resultieren auch aus dem bezeugten und beobachteten Vergehen an den anderen, denn anders kann es nicht sein, solange in uns ein warmes Herz schlägt. Dieser Text kann als eine Art Zeitdokument verstanden werden oder aber schlicht als Ausdruck des Bedürfnisses, auch die davongetragenen Schäden, Störungen und den Schmerz zu versprachlichen und in den öffentlichen Raum zu stellen. Von Vollständigkeit weit entfernt, versucht er wiederzugeben, was diese unsäglichen Jahre in diesem einen Leben bewirkt haben, wobei womöglich auch andere Ähnliches in sich tragen.

Die Jahre seit 2020 haben etwas in mir verschlungen und in Tiefen verschoben, die ich mit Sprache kaum mehr erreiche. Denn inzwischen kann ich sie fast nicht mehr fühlen, all diese Gefühle, die sich nie in Ruhe ausbreiten und verarbeitet werden konnten, wie das eben so ist bei traumatischen Erfahrungen. Ich bin mit der inneren Aufarbeitung nicht hinterhergekommen, wie wohl so viele, Schlag auf Schlag ging es ja, und nun komme ich beinahe nicht heran an dieses Konglomerat von Schock, Entsetzen, Wut und Trauer. Auch wenn das Verlorene zumeist ohnehin Schein war, so fühlt das Herz dennoch einen Verlust. Was ich zu tun vermochte, habe ich getan, um dem Trauma zu entwischen, doch diese Zeit war zu groß ― und ist es noch immer ― zu umfassend, zu vollständig vereinnahmt von Schlechtigkeit. Und ich wohl zu fragil in meiner Berührbarkeit.

Die verlorene Unschuld

Als sich der akute Sturm 2022 vordergründig allmählich zu beruhigen begann, nachdem der Griff scheinbar gelockert wurde, fühlte ich mich zunehmend betäubt. Bis heute ist mir die Summe alles Geschehenen in jedem Moment sehr bewusst; wie oft geht mir der Satz „Ja, auch ihr habt mitgemacht und würdet jederzeit wieder mitmachen!“ durch den Kopf, wenn ich ein Geschäft betrete, in einen Zug einsteige, wenn ich mich durch dieses posttraumatische Deutschland bewege, das von einem Trauma ins nächste taumelt. Nach dem Trauma ist vor dem Trauma.

Ich kann nicht vergessen und will es auch gar nicht, denn die Welt hat ein für alle Mal ihre Unschuld, ihre Harmlosigkeit, verloren. Ein Kino ist nicht mehr einfach ein Kino, ein Zug nicht bloß ein Zug, ein Café nicht nur ein Café; sie sind allesamt zu Orten geworden, an denen jederzeit wieder jedes Grauen mit fürchterlicher Gründlichkeit exekutiert werden kann, unter Berufung auf Gesetze und Anweisungen, die nun mal verpflichten, oder gar aus inbrünstiger Überzeugung in der Sache.

Ich weiß nicht, was ich schlimmer finde.

Und diese Menschen sind überall, sie haben alle mitgemacht, und werden es wieder tun. Es wäre im Grunde auch zutreffend zu sagen, dass sie nie aufgehört haben mitzumachen, nur die verordneten Pillen sind momentan andere. So gibt es kaum einen Ort mehr, der seine Unschuld gewahrt hat ― und wieder muss ich alles in mir selbst suchen, oder etwa nicht?

Doch ich bin ein Mensch und bewege mich durch diesen Raum und diese Zeit, und habe die Sehnsucht, in einer Welt zu leben, die in bedingungsloses Wohlwollen, gelebte Schönheit und vollkommene Wahrhaftigkeit gebettet ist. Und keine Sehnsucht ist naiv, sondern ein Indiz für das Potenzial des Möglichen. Beides ist wohl wahr: Die an das Außen adressiert erscheinende Sehnsucht ist mehr als legitim, und doch kann ich all diese Orte letztlich und gewissermaßen nur in mir finden, sollen sie tragfähig sein und verankert in Substanziellerem als dem Phänomenologischen. Dennoch hadere ich immer wieder damit, auch das ist wahr.

Warten

Ich warte auf meine Tränen, die seit langer Zeit nur noch ganz selten und sehr kurz hervortreten. Nur in seltenen Momenten kann ich die in mir angesammelte Trauer ahnen, die unerträglich scheint für mich. Warum sonst würde etwas in mir mich davor schützen, sie vollständig zu fühlen. Die Zeit scheint noch nicht reif, das „Ausruhen-Dürfen“ noch in einiger Ferne. Ich weiß, das kann man auch anders betrachten; das allerdings ist dann wieder mehr ein Konzept für mich, das ich mir nicht ohne Weiteres aufoktroyieren kann. Manchmal warte ich auf den erlösenden Schrei, der aus mir herausbricht und mir Erleichterung verschafft, denn ich will einen kurzen Prozess, will in großen Brocken aus mir herauskatapultieren, was mein Herz beschwert, das immer nur Kleinschrittige bin ich leid.

Ich warte auf meinen inneren Perspektivwechsel, der sich hartnäckig sträubt, sich zu vollziehen; mein Kopf kann da nicht viel ausrichten, es ist diese so wohlbekannte Kluft zwischen dem lieben Verstand und meinem inneren Geflecht, das in gewisser Weise unfähig ist zu gehorchen. Es hat seine ureigenen Regeln und Bedingungen und lässt sich nicht von der Ratio manipulieren und zurechtbiegen.

Auch das Überspielen und Verleugnen gehen nur begrenzt und schon gar nicht auf Dauer. Wir wissen alle, dass unsere Dämonen uns früher oder später heimsuchen, auf die eine oder andere Weise.

Ich warte auf mich, meine neue, bessere Version, die auch mitten im Morast ihre unerschütterliche Leichtfüßigkeit und spielerische Freude aufrechtzuerhalten vermag. Zutiefst überzeugt zwar, dass alles bereits gegeben und im tiefsten Grunde auch immer gut ist, warte ich dennoch auf meine Veränderung, wissend, dass das Warten nicht wirklich Sinn macht, und doch geht es nicht anders, ich warte. Mein Kokon ist fest und hat bislang nur Risse. Aber ich warte nicht nur auf mich, sondern auch auf die neue Welt; ich höre die Rufe, dass man nicht warten kann und sollte, sondern sie hier und jetzt gestalten muss. Ja. In mir wartet es trotzdem. Aller Logik und spirituellen Konzepten zum Trotz.

Spirituell unkorrekt

So sehr ich auch spirituell korrekt sein möchte, so sehr bricht aus mir ganz viel Unkorrektes, ja Unerhörtes heraus. Die Wut will sich Luft verschaffen, der Frust über all das Nicht-gelingen-Wollen will Gehör finden und auch eine Erklärung. Es fehlt mir allerdings ein für mich funktionierender externer Adressat, und ich fühle mich zermürbt vom permanenten Adressieren von allem an mich selbst. Ein Adressat, der auch wirklich ein solcher ist, also die offiziell zuständige Beschwerdeempfangsstelle sozusagen, der ich alles unzensiert entgegenschleudern darf, ohne das Gefühl, Unrecht zu tun. Diesen Adressaten gibt es wohl nicht. Oder etwa doch? Eigenverantwortung, höre ich. Ja. Konzepte. Kollision mit inneren Gegebenheiten. Die Quadratur des Kreises.

Ich selbst habe auch meine Unschuld verloren in diesen Jahren, auch wenn von ihr zugegebenermaßen bereits nicht mehr allzu viel übriggeblieben war, als der nackte Wahnsinn über uns alle hereinbrach. Von jener Unschuld, die grundsätzlich von Wohlwollen in der Welt ausgeht und blind vertraut. Für mich gilt die Unschuldsvermutung bis auf Weiteres nicht mehr; ja, meine innere Beweislastumkehr gehört zu den meinetwegen ungesunden Auswüchsen dieser Zeit, doch ich kann mir vorerst keine andere Geschichte mehr erzählen. Zu groß sind die Lügen, zu umfassend die Propaganda, zu entkernt alles Gutgeglaubte, zu durchdrungen von schlafwandelndem Faschismus diese Zeit.

Sicher ist es bei jedem die persönliche Disposition ― also die Beschaffenheit seines inneren Bodens, auf den die Geschehnisse gefallen sind ― die darüber entscheidet, wo der Einzelne jetzt gerade steht, wie er sich fühlt und mit welchen Augen er sieht. Auch wenn keine Persönlichkeit statisch ist, so gibt es wohl doch jenen Grundton, der uns ausmacht. Doch ich könnte mir vorstellen, dass es nicht wenigen diesseits des Geschehens teils ähnlich wie mir geht, denn dieses Trauma ist ein allumfassendes, das das Individuelle auch immer wieder übertönt.

Der Schrecken programmierter Massen

Die Ereignisse überschlagen sich im Grunde nach wie vor, aber anders als in der Zeit der frontalen Übergriffe auf unsere Körper. In gewisser Weise ist das Tempo nicht gedrosselt, und doch hat das Geschehen inzwischen Zeitlupenqualität für mich. Ich bin kriegsmüde. Ich bin der unsagbar billigen Angriffe überdrüssig, die trotzdem bei den meisten greifen und wie die neueste Mode als der angesagte Moralkodex gelebt werden ― was ja die eigentliche Tragödie ist ―, des allerorten in mannigfaltiger Form geführten Krieges gegen die Menschheit.

Und es macht mir auch Angst, wenn ich sehe, wie eben gerade die Jungen und Jüngsten zu willfährigen Mitläufern und damit regelrecht zu einem Mob herangezüchtet wurden und werden, wie die Indoktrination so großflächig erfolgreich scheint.

Sie laufen in Scharen mit irrsinnigen Parolen durch die Straßen in der Gewissheit, das einzig Richtige zu tun, nicht ahnend, dass sie dabei sind, sich selbst abzuschaffen. Und all die „Kollateralschäden“ ― insbesondere bei den Alten ― die diese Agenda ununterbrochen verursacht, brechen mir das Herz, wieder und wieder.

War es jemals wirklich anders? Ich denke, dass vorher auf beiden Seiten alles nur weniger extrem, hemmungslos und unverhohlen vonstattenging. Auch die Denk- und Reflexionsfähigkeit sowie der innere Kompass der Menschen sind erst nach und nach geschrumpft; der Grad der Degeneration, den wir heute konstatieren müssen, ist meines Erachtens ebenfalls gezielten Angriffen über eine lange Zeit und auf allen Ebenen geschuldet; seien es Elektrosmog, Toxine in Luft, Wasser und Nahrung, oder die schon immer beabsichtigte Kastration durch Schule und Konsorten. Um nur einige zu nennen.

„Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Das trifft auf die meisten wohl zu, doch es ist trotzdem immer wieder eine schwierige Herausforderung für mich, hier keine Wut auf die „Mitmacher“ zu entwickeln.

Verzeihung als Transit

Wenn ich Wut, Bitterkeit, Frustration oder Groll fühle, weiß ich es gleichzeitig eigentlich besser, doch wie bereits gesagt, kann und sollte der Kopf das nicht unterdrücken. Ob es mir nun gefällt oder nicht, all das ist auch in mir. In akuten Momenten lösen sie das Dilemma aus, zwischen dem ungefilterten Ausagieren und Kontrollieren zu wählen, wobei ich nicht immer so viel Distanz habe, eine bewusste Entscheidung treffen zu können; zu der dritten Option, dem „entkoppelten“ und weitgehend urteilsfreien Durchfühlen, fühle ich mich oft nicht in der Lage. Aber das ist wohl der spirituell korrekteste Weg. Okay, auch der zielführendste, weil die Gefühle so zugelassen werden, ohne sich selbst oder anderen zu schaden, wodurch sie auch transformiert werden. Denn das Ziel ist es, meines jedenfalls: den Weg aus diesem Dickicht zu finden und an Orte zu gelangen, die vollkommene Freiheit atmen. Und von Destruktivem übernommen zu werden, ist alles andere als frei.

Aber was tun mit all den Unzulänglichkeiten? Ich versuche mir alles zu verzeihen ― bewusst anzunehmen, wie es gerade ist, ohne der gnadenlosen Selbstverurteilung und also Selbstvergiftung anheimzufallen ―, denn es führt kein anderer Weg hinaus aus diesen inneren Verwicklungen und Verstrickungen. Unzählige Male habe ich es anders versucht. Verzeihen, bis ich wieder fühle, dass es im Grunde nichts zu verzeihen gibt, weder mir selbst noch anderen. Das inwendig zu verstehen, was es bedeutet und was nicht, bedarf eines anderen Seinsortes; wohl jenem, den Rumi als den Ort jenseits von Richtig und Falsch bezeichnet hat. Wirklich begegnen können wir uns nur dort, davon bin ich zutiefst überzeugt.

An dieser Stelle sollte ich vielleicht ergänzen ― um Missverständnissen vorzubeugen ―, dass das kein Plädoyer für das Gutheißen von Unrecht ist. Es handelt sich für mich hier um zwei verschiedenen Ebenen, und meines Erachtens ist die eine in die andere eingebettet. Hier, in dieser Welt und Realitätsebene, gibt es sehr wohl Recht und Unrecht, und wir müssen es erkennen, benennen und die entsprechenden Konsequenzen daraus ziehen. Das eine schließt das andere nicht aus.

Frühdystopische Beobachtungen

Ich laufe durch die Straßen, sehe den zunehmenden Verfall und noch abwesendere, degeneriertere Menschen als zuvor ohnehin schon. Bilde ich mir das ein?

An manchen Tagen nehme ich es zwar weniger drastisch wahr, doch eine Glocke klebriger Depression liegt schon immer über der Stadt, und auch wenn sie nicht neu ist, kommt sie mir jetzt noch dicker und schwerer vor. Die Menschen sind überzogen von einer Patina des Durchhaltens unzumutbarer Zeiten; auch ich bin nicht verschont geblieben.

Die Welt ist aus den Fugen geraten, die Städte und ihre Atmosphären haben sich auch durch andere Einflüsse stark verändert und vieles wirkt wie aus der Zeit gefallen. Doch noch hält das Gesamtbild einigermaßen zusammen und der Anschein kann gewahrt werden. Der Geruch von Verwesung liegt aber bereits in der Luft.

„Erkältung ist okay, aber bei C. geht mir der Arsch auf Grundeis!“ Ein Gesprächsfetzen, den ich auf dem Heimweg beim Vorbeilaufen an einer Frau am Handy aufschnappe, die vermutlich von ihrem Gesprächspartner gefragt wurde, ob sie ein Problem damit hat, wenn er erkältet zum geplanten Treffen kommt. Während sie redet und vor der Imbissbude an der frischen Luft auf ihre Bestellung wartet, zieht sie ihre dunkelblaue FFP2-Maske herunter.
Stille Verzweiflung keimt in mir auf.

So grenzt es für mich inzwischen fast an ein Wunder, wenn ich strahlende, unbekümmerte Kindergesichter erblicke, wenn ich überall vor Lebendigkeit strotzende Tiere und Pflanzen sehe, wenn die Natur sich Bahn bricht durch jedes Grau, jede Barriere, und sich ihre Unantastbarkeit in jeder noch so dunklen Ecke zeigt. Das gibt mir immer wieder die Zuversicht, die mir in manchen Momenten abhanden zu kommen droht. Unverhofft werde ich so an die allem innewohnende Herrlichkeit des Seins erinnert.

Innere und äußere Aufarbeitung

Wir können uns nicht auf Dauer negieren und so agieren, als seien wir neutrale, urteilsfreie Wesen, die entlang eines „rechtskonformen Gerechtigkeitsprotokolls“ die Aufarbeitung streng sachlich abzuarbeiten imstande sind. Dieser mechanistische Anspruch ist nicht artgerecht. Und ohne die ― parallele oder vorgeschaltete ― innere Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit den eigenen „Dämonen“ kann eine äußere Aufarbeitung letztlich nur formhaft und damit anfällig für Wiederholung bleiben. Jede noch so vernünftig gestaltete und sorgfältig strukturierte Institution für systematische Aufarbeitung der Geschehnisse seit 2020 wird auf tönernen Füßen stehen, solange sie ausschließlich in genau dem Rahmen stattfindet, innerhalb dessen auch das Verbrechen stattgefunden hat.

Ohne die Komponente der Einbettung des Weltgeschehens in einen übergeordneten Zusammenhang, ohne eine weit über „das System“ hinausreichende Sicht und ohne das rückhaltlos ehrliche eigene innere Aufräumen und Klarwerden wird keine Aufarbeitung viel mehr als Systemkosmetik sein können. Es sei denn, das Ziel ist lediglich, die „Täter, ihre Erfüllungsgehilfen und Mitläufer ausfindig zu machen und ihrer gerechten Strafe zuzuführen“. Für mich ist das allerdings noch lange keine vollständige Aufarbeitung.

Im Hintergrund

Hinter all diesen Empfindungen und Gedanken fühle ich immer wieder einen Strom, leise, beständig und unbeirrt. In ihm fließt das ganze Wissen um alles Leben, alle Spiele, Sterne und Zauber. Er ist nicht die Hoffnung, denn Hoffnung ist ein Kind der Angst. Er ist auch nicht die Zuversicht, denn auch sie ist noch immer verwandt mit der Hoffnung und so auch mit der Angst ― wenn auch entfernt. Dieser Strom kennt keine Angst. Er ist das Sein selbst, ruhend, unberührt; er ist Zuflucht, Heimat, der Ort unserer Sehnsucht. Dieser Strom muss durch uns alle fließen, und er ist es wohl, der uns weitermachen und nicht aufgeben lässt, der uns daran erinnert, dass sich alles lohnt, wie gegenteilig es sich in manch‘ dunkler Stunde auch anfühlen mag.



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