Aus dem Takt
Katrin McCleans Erzählung ist eine Mischung aus Initiationsroman und modernem Märchen.
Anfang des Jahres veröffentlichte die Schriftstellerin und Rubikon-Autorin Katrin McClean ihr bisher persönlichstes Werk. „Aus dem Takt — ein Ost-West-Roman“ erzählt die Geschichte der Felicitas Glück. Sie war 18, als die Mauer und mit ihr die Welt, wie sie sie kannte, in sich zusammen fiel. Von Leipzig zieht sie über Berlin nach Hamburg und versucht, sich in einer neuen Welt zurechtzufinden, die mit ihren alten Werten wenig gemein hat. Sie stolpert in absurde Arbeitsszenarien und glücklose Beziehungen, bis sie schließlich stürzt. Erst im Aufstehen zeigt sich, welche Kraft aus dem Scheitern erwachsen kann.
Die Geschichte beginnt mit dem Schweigen eines Kindes an einem Strand der Insel Rügen und endet am Hamburger Elbstrand mit einem großen „Ja!“ der Protagonistin. Zwischen Osten und Westen, gesellschaftlichem Ideal und Konsumgesellschaft, bahnt sich das Erzählte seinen Weg, umspült Stolpersteine und Widrigkeiten, bis es schließlich im weiten Meer der Möglichkeiten mündet. Felicitas Glück, vor der Wende im Osten geboren und aufgewachsen, zieht zwölf Jahre nach dem Fall der Mauer von Leipzig über Berlin nach Hamburg-Ottensen. Als sie merkt, dass Sozialpädagogen auch hier nicht gebraucht werden, schlägt sie sich an der Seite eines emotional verkümmerten Musikers auf der Suche nach Klangräumen mit abstrusen Marktforschungsjobs durch.
Aus dem Takt ist, so die Autorin Katrin McClean, ihr bisher persönlichstes Buch. Zwischen Initiationsroman und modernem Märchen beschreibt es die Entwicklung einer jungen, von autobiografischen Zügen geprägten Frau, die versucht, sich aus den ihr auferlegten Zwängen zu befreien. Der Tanz hinter der verschlossenen Tür des Kinderzimmers, das Zurückstehen hinter der besten Freundin, der Schock der Wende, die Schwierigkeiten, im Beruf Fuß zu fassen und schließlich die Konfrontation mit dem Wertesystem des Westens sind Etappen eines langen und mühsamen Entpuppungsprozesses, den der Schmetterling zurücklegen muss, bevor er seine Flügel ausbreitet.
Zwischen Stasi und Corona
Die Autorin erlebte selbst den tiefen, gesellschaftlichen Umbruch, bei dem ihre Welt von einem Tag auf den nächsten eine andere war. Nichts galt mehr von dem, was vorher als richtig und wahr erlebt wurde. Der Westen eignete sich den Osten an und ließ die Bewohner der „neuen Bundesländer“ die Verachtung spüren, sich in der SED-Diktatur entmündigen lassen zu haben. Vielen galten sie als Bürger zweiter Klasse, die noch nicht gelernt hatten, wie Freiheit geht. In absurden und sinnentleerten Jobs jenseits der Menschlichkeit erlebt Felicitas Glück jedoch, dass auch der Westen in Sachen Freiheit noch viel zu lernen hat.
Vor dem Hintergrund der Coronakrise, während Ost und West dabei sind, ihre Freiheit einer trügerischen Sicherheit zu opfern, erhält das Anfang 2020 erschienene Buch eine besondere Aktualität. Was in den alten Bundesländern schwer vorstellbar ist, kommt vielen in den neuen bekannt vor: Grenzen werden dichtgemacht, das private und öffentliche Leben kontrolliert, Menschen hinter Mauern gefangengehalten. Die gleichen, die sich über Menschen lustig machten, weil sie auf SED-Propaganda und Schwarzen Kanal hereingefallen waren, starren jetzt auf die Bildschirme der staatlich kontrollierten Medien und lassen sich von zwei Spezialisten erklären, wie gefährlich ein Virus ist.
Die Einhalt gebietenden Stimmen der vielen, die die verordneten Maßnahmen in Frage stellen und nur über ein paar wenige unabhängige Medien oder soziale Plattformen zu hören sind, werden zum Staatsfeind erklärt. Während man noch mit dem Finger auf Wladimir Putin, Recep Erdoğan und Viktor Orbán zeigt und jene Menschen bedauert, die in totalitären Systemen leben müssen, werden im eigenen Land Kontrollsysteme aller Art errichtet, die Grundrechte und die Meinungsfreiheit beschnitten. Wo die einen noch darauf vertrauen, dass es keine Zwangsimpfungen und Implantate geben wird, klingt den anderen noch der Satz Walter Ulbrichts im Kopf: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!“
Die Zeit hinter der Mauer jedoch war in keinem Fall nur Gefängnis. Katrin McClean und ihre Heldin Felicitas Glück haben dort auch eine Gesellschaft erlebt, in der ihnen echte Ideale vermittelt wurden. Vieles, was man sich heute wieder erträumt, war bereits umgesetzt worden: Es gab keine Arbeitslosigkeit, keine Superreichen, eine gerechte Daseinsvorsorge für alle. Zum Leben in der DDR gehörte, Ideale zu haben, auch wenn sie zum Teil als Dogmen missbraucht wurden.
Was mache ich hier eigentlich?
Obwohl Felicitas Glück vom Plüschtierkostüm in der Altonaer Fußgängerzone in ein Stöhnstudio auf Sankt Pauli stolpert und dazwischen versucht, sich an die Welt, für die sie sich entschieden hat, anzupassen, verliert sie dennoch nicht aus den Augen, was sie eigentlich beseelt: Sie will Gutes tun! Nachdem alle ihre Versuche, ihren Wunsch zu leben, schließlich gescheitert sind, steht sie vor einem Ende, das zu einem neuen Anfang wird. Als es ihr gelingt, sich mit ihrer eigenen Schwäche und Verletzlichkeit anzunehmen und zu akzeptieren, dass sie sich in Lebensbedingungen hat zwingen lassen, die ihr zutiefst widerstreben, erwacht die alte Kraft in ihr zu neuem Leben.
Wie aus einem schlechten Traum taucht sie auf und wagt es, sich die alles entscheidende Frage zu stellen: „Was mache ich hier eigentlich!?“ Ihre Ehrlichkeit sich selbst gegenüber schließlich gibt ihr den Mut, ihre alten Werte und Ideale nicht sterben zu lassen. Sie befreit sich von den Menschen und den Strukturen, die sie eingeengt haben und beginnt, sich selbst zu vertrauen. Es bleibt der Schritt, ins Handeln zu kommen. Die Möglichkeit dazu erhält sie bei ihrem letzten Job, dem einzigen, der etwas mit ihrer Ausbildung als Sozialpädagogin zu tun hat.
Von der Unterordnung zur Eigenverantwortung
Aus einer telefonischen Seelsorge für misshandelte Kinder, in der sie selbst ausgebeutet wird und die wie alle anderen menschliche Werte erfolgversprechenden Marketingstrategien opfert, bricht sie schließlich aus und wagt den Schritt ins Unerlaubte. Der alte Traum ist nicht gestorben und bereitet den Boden für eine neue Realität. Auch wenn dieser Schritt nicht allein gelingt: Entscheidend ist, dass Felicitas es wagt, sich auf ihr Glück einzulassen.
Die Erzählung endet damit, dass sie die Herausforderung annimmt, an dem Aufbau eines Kinderdorfes mitzuwirken. „Wo ist Felicitas heute?“, frage ich Katrin McClean. Und gemeinsam stellen wir uns vor, wie es für Felicitas nach dem Ende des Romans weitergegangen ist. Sie hat ihren Wunsch verwirklicht und lebt in ihrem Kinderdorf an der Ostsee. Hier lernen die Kinder auf spielerische Weise das eigenverantwortliche Gestalten ihrer Lebenswelt. Sie sorgen für den Raum, der ihnen gegeben wird und machen ihn so schön sie können. Bei allem, was sie unternehmen, wird ihnen Zeit gegeben und zugehört. Die Kinder können sich in ihrem eigenen Rhythmus, nach ihren Bedürfnissen und Wünschen entwickeln, ohne von den Erwachsenen unterbrochen und gemaßregelt zu werden.
So werden aus ihnen verantwortungsbewusste Erwachsene, die nicht alles mit sich machen lassen und die sich ihrer selbst ermächtigen. Sie haben es gelernt, sich zu versorgen, bauen Obst und Gemüse an, können Feuer machen und kochen. Sie lassen sich nicht beirren und vor den Karren spannen. Diese Menschen verrichten nicht jeden Job und verkaufen dafür ihre Seele. Sie richten sich nicht nach Deadlines und werden nicht zur Ressource. Sie bleiben Mensch. Sie ordnen sich nicht unter, sondern achten ihre ureigenen Werte und bauen ihr Leben auf dem von ihnen selbst bereiteten ethischen Boden auf. Sie tun das, was ihrem Herzen entspringt, und bestimmen, was sie denken, fühlen und tun.
Das Gute bewahren
Diese Menschen tragen keine Masken. Von Felicitas Glück ermutigt zeigen sie sich so, wie sie sind. Sie verstecken sich nicht mehr, kommen raus und sagen, was sie bewegt und was sie bewegen können. Sie haben den Egoismus eines ganzen Systems und die Entwertung durch andere überwunden, tun, was sie für richtig halten, und gehen neue Verbindungen ein. In einem laufenden Emanzipationsprozess schaffen sie sich eine Identität jenseits des Gehorsams gegenüber Stasi- oder Coronaregeln.
Sie brauchen kein Konkurrenzdenken und keine Marketingstrategien, um das zu gestalten, was sie wollen: eine lebendige Gemeinschaft. Sie nehmen Rücksicht, da sie wissen, dass sie dazu gehören, und folgen ihrem Wunsch, Gutes und Sinnvolles zu tun, für sich selbst und andere.
Beide Frauen, Katrin und Felicitas, haben sich nicht unterkriegen lassen. Vom Vergangenen haben sie das Überflüssige losgelassen und das Gute bewahrt. So entstand in einem alchimistischen Prozess aus den Resten einer vergangenen Kultur und einer aus dem Takt geratenen Kadenz etwas Leuchtendes, Wertvolles — eine neue Melodie, die nun den Ton angibt.
Und da sie nicht gestorben sind, machen sie sich jetzt an die Arbeit.