Aufstehen in der Provinz
Nina Forberger berichtet über ihr erstes #aufstehen-Treffen in einer sächsischen Kleinstadt.
Jugendredakteurin Nina Forberger besuchte ein Treffen der Sammlungsbewegung #aufstehen nahe Leipzig. „Aufstehen“ in der Provinz bedeutet, das lernt sie rasch: den Schock über magere Beteiligung und einen hohen Altersschnitt zu überwinden, Vorurteile abzubauen und tatkräftig und alltagsbezogen aktiv zu werden.
Am 18. Oktober fand in Leisnig, einer Kleinstadt in Sachsen, ein erstes regionales Treffen von #aufstehen statt. Initiiert hatte dieses ein ehemaliger Rechtsanwalt aus der Region. Darin spiegelt sich sehr schön wieder, dass #aufstehen nicht „von oben“ kontrolliert wird, sondern eine Bewegung ist, die von den Bürgern selbst umgesetzt und in tatsächliche Bewegung versetzt werden kann.
Ich wusste nicht, wie viele Menschen sich dort treffen werden oder was mich konkret erwarten wird. Als ich den Raum betrat, war ich erst einmal ziemlich schockiert. Mir war klar, dass es keine Menschenmasse sein wird, die sich versammelt hat, zumal Leisnig und auch meine Heimatstadt Döbeln nicht mehr als 20.000 Einwohner haben – aber dass es nicht mehr als eine Schulklasse war, die dasaß, hatte ich nicht erwartet. Damit einher ging der Schock, dass die „Schulklasse“ fast nur aus Männern Ü60 bestand. Vier Männer unter 60, eine Frau, ebenfalls Rentnerin, und ich mischten uns dazu. Ich fühlte mich ein wenig wie bei einem Stammtisch alter Parteifunktionäre und zunächst nicht besonders wohl – eher ziemlich verloren.
Den ersten Schock konnte ich jedoch bei der Vorstellungsrunde verdauen und ich stellte fest, dass meine Bedenken unbegründet waren und ich mich vom äußeren Eindruck hatte trügen lassen. Die Beteiligten waren zumeist parteiunabhängige, aber regional engagierte und politisch interessierte Bürger. Alle machten sie einen sehr gefestigten Eindruck in ihrer politischen Ausrichtung. Jeder benannte als sein Hauptanliegen, bei #aufstehen mitzumachen, die Sorge um den Frieden, die soziale Ungleichheit und erkannte als Probleme den Neoliberalismus und die repräsentative Demokratie. Die Vorstellungsrunde war ein guter Eisbrecher und sorgte für eine sehr persönliche und familiäre Atmosphäre, auch dadurch, dass wir uns alle auf das „du“ einigten.
Es hat mich aber trotzdem skeptisch gemacht, dass ich erstens nur eine von drei Frauen war, zweitens die einzige Jugendliche/junge Erwachsene und drittens niemand dabei war, der nicht sowieso schon über die Probleme der Welt Bescheid wusste. Ich befürchte, dass #aufstehen nur Menschen einsammelt, die sich in der gleichen Blase bewegen und die bereits bei ähnlichen Aktionen und Organisationen mitwirken. Doch versteht sich #aufstehen ja selbst als eine Art „linke Pegida“. Es sollen die Otto-Durchschnittsbürger angesprochen werden, die spüren, dass die Welt aus den Fugen gerät, die Probleme aber nicht wissenschaftlich benennen und analytisch ergründen können. Es soll die alleinerziehende Pflegekraft, die Rentnerin an der Armutsgrenze, der Hartz-IV–Empfänger oder der Teilzeitarbeiter angesprochen werden. Doch von denen war leider niemand vor Ort.
Bei Bier und Schnitzelteller ging es anschließend in die Diskussionsrunde: Wohin wollen wir mit #aufstehen? Was wollen wir im regionalen Raum erreichen? Der Schnitzelteller war mir dabei gleich ein Dorn im Auge. Es ist ein unauflösbarer Widerspruch, sich als links zu bezeichnen, aber weiterhin Fleisch und Produkte aus Massentierhaltung zu konsumieren. Es ist nicht nur ethisch nicht vertretbar, sondern auch eine enorme Umweltbelastung. Aber das nur am Rande…
Leider verlief die Diskussion nicht sonderlich zielführend und es wurden wenige konkrete Aktionen vorgeschlagen, wie wir in der Region #aufstehen könnten. Stattdessen drehten wir uns im Kreis und analysierten zum hundertsten Mal die Problematik der Bundeswehr im Ausland und speziell die Stationierung in Lettland sowie die sich daraus ergebende Kriegsgefahr mit Russland, die Erhöhung des Rüstungsetats und das Problem sozialer Ungleichheit. Es war tatsächlich eine kleine Blase. Ich versuchte, etwas jugendlichen Schwung und Innovation in die Diskussion einzubringen – das wurde glücklicherweise dankend angenommen!
Aufstehen kann die Menschen nur dann von der Straße abholen und auch auf regionaler Ebene erfolgreich sein, wenn es sie in ihrem Lebensbereich immer wieder berührt.
Als „Problem“ linker Bewegungen sehe ich, dass alle Themen und Anliegen ausdiskutiert werden und sehr lange in ihrer Umsetzung brauchen, weil das Ganze schließlich möglichst demokratisch ablaufen soll. Das ist in keinem Fall schlecht, im Gegenteil! Doch damit sind die Rechten immer einen Schritt voraus. Sie stellen einfach einen Führer vor die Menge, der sagt, wo es langgeht, und die Masse folgt blind. Ein weiters „Problem“ ist, dass Linke in ihrer Argumentation oft überheblich, belehrend und zu idealistisch rüberkommen. Das liegt nicht zuletzt an der hochtrabenden und fachlichen Analyse. Viele Menschen glauben, dass sie, bevor sie nicht alle drei Bände von „Das Kapital“ gelesen haben oder mit Brzeziński vertraut sind, gar nicht zum Kreis gehören und mitreden könnten, weil sie „zu ungebildet“ seien.
Ein bisschen Populismus würde #aufstehen daher, vor allem in der Provinz, nicht schaden. Ich schlug vor, die „großen Themen“, beispielsweise die Erhöhung des Rüstungsetats, zu vereinfachen und nahbar für den Durchschnittsbürger zu machen. Kaum ein Deutscher weiß, wie hoch das BIP ist, wie viel 2 Prozent davon sind und wie man die unglaubliche Zahl von fast 60 Milliarden Euro einordnen soll. Daher müssen wir Aktionen starten, die den Menschen vor Augen führen, was genau es für ihr Leben bedeutet, wenn weiterhin die Rüstungsausgaben erhöht werden, wenn Deutschland weiterhin Waffen exportiert oder was passieren würde, wenn es Krieg gäbe.
Es muss klar werden, inwiefern es sie konkret tangiert, denn nur dann interessieren sie sich dafür. An Theatern, Stadtbädern oder Schulen müssten Transparente angebracht werden mit Sprüchen wie „Dieses Theater muss geschlossen werden/Diese Schule wird weiter verfallen, dank Erhöhung der Rüstungsausgaben!“ Wir müssen die Menschen da abholen, wo sie stehen. Wir dürfen sie nicht dafür verurteilen, dass sie Fußball oder „Berlin Tag und Nacht“ gucken, statt die Schwarten linker Philosophen zu wälzen.
Wir müssen sie aufklären darüber, welche größeren Systemfragen sich aus ihren Alltagsbeschwerden ergeben.
Dazu müsste #aufstehen permanent präsent sein und seine Botschaften massenwirksam verbreiten. Demonstrationen zu veranstalten oder Unterschriften-Aktionen zu machen, ist meiner Meinung nach für #aufstehen wenig sinnvoll, da dies nur die Menschen in einer bestimmten Blase anspricht.
Ich war direkt nach der Veranstaltung ziemlich ernüchtert und niedergeschlagen, weil ich mir mehr Bewegung und Tatendrang erhofft hatte. Mittlerweile glaube ich aber, dass die richtige Mischung aus jugendlicher Frechheit und erfahrener Tradition das sein kann, was #aufstehen besonders macht. Wenn es gelingt, über massenwirksame, neue und freche Aktionen auch in Kleinstädten mehr Menschen aufstehen zu lassen und eine kritische Masse zu finden, kann #aufstehen eine der wenigen politischen Bewegungen von links sein, die nicht im Sande verläuft.
Sich aus dem berühmten Hamsterrad auszuklinken und dann noch gegen die bestehende Ordnung anzukämpfen, kostet viel Kraft. Es ist kein einfaches Aufspringen vom Schreibtischstuhl, sondern ein kräftezehrendes Befreien und anstrengendes Aufstehen aus einem Stuhl mit einigen Fesseln. Doch hat es einer geschafft, kann er den anderen helfen, ihre Fesseln zu lösen und ihnen beim Aufstehen helfen. Trotz des anfänglichen Schocks werde ich bei der Bewegung dabeibleiben, mich bestmöglich einbringen und schauen, wohin sich die Sache entwickelt.