Aufstand der Tunichtgute
Manche Politiker, die Masken fordern, möchten diese selbst nicht tragen.
Protestbewegungen zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass sie mit ungewöhnlichen Aktionen für Aufmerksamkeit sorgen. In den vergangenen Wochen bekamen zahlreiche Politiker, die Masken fordern, eben diese auch zugeschickt. Dies sorgte bei den Empfängern für Unmut, Unverständnis und Entsetzen, sodass gar — wie im Fall des Darmstädter Oberbürgermeisters — die Staatsanwaltschaft bemüht wurde. Manche Politiker haben offenbar völlig vergessen, wie es sich anfühlt, der Arroganz der Macht ausgesetzt zu sein, die sie nun selbst verkörpern.
Die Karte des Rumtreibers ist in den Harry-Potter-Romanen von Joanne K. Rowling ein überaus nützliches Werkzeug, um sich einen genaueren Überblick über das Geschehen in der Hogwarts-Schule für Zauberei zu verschaffen. Hier wird jede Bewegung der Professoren, Mitschüler und allen anderen angezeigt, und es gibt nichts und niemanden, den die Karte nicht entdeckt. Ja sogar bei der Aufklärung einer Verschwörung hilft die Karte in der Geschichte. Der Haken an der Zauberkarte ist, dass man den entsprechenden Trick kennen muss, damit sie lesbar wird. Wem also der Zauberspruch „Ich schwöre feierlich, ich bin ein Tunichtgut.“ unbekannt ist, hält lediglich ein leeres Pergament in den Händen.
Die Geister, die ich rief
Als „Tunichtgute“ bezeichnete der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann in einer Pressekonferenz am 30. Juni 2020 jene, die ihm zuvor unzählige Gesichtsmasken zugesendet hatten und die größtenteils mit den Worten „Wer Masken will, soll Masken bekommen“ beschriftet waren. Aber auch andere, harschere Worte seien offenbar Teil der Botschaften gewesen.
Insbesondere echauffierte sich Kretschmann jedoch darüber, dass die Maskenpost an seine Privatadresse geschickt wurde. In Manier eines Meisterdetektivs erkannte Kretschmann anhand der seltenen, aber auf den Briefumschlägen durchgängigen Schreibweise seiner Heimatadresse, dass es sich offensichtlich um eine gezielte Kampagne handeln müsse. Diese Kampagne von mutmaßlich mit der Politik der Landesregierung unzufriedenen Bürgern verortete der Grünen-Politiker zwar „unterhalb einer strafrechtlichen Schwelle“, fügte allerdings hinzu, dass dies Dinge seien, die man nicht macht und ungehörig sind.
Eine ganz andere Sichtweise auf die Tunichtgute hat hingegen sein Parteikollege und Darmstadts Oberbürgermeister (OB) Jochen Partsch, der ebenfalls eine Lieferung mit — im Corona-Sprech neuerdings als Alltags- oder Communitymaske bezeichnete — Mund-Nase-Bedeckungen bekommen hatte. Partsch stellte Strafanzeige gegen Unbekannt wegen versuchter Körperverletzung. Die mutmaßlich bereits benutzten Masken könnten von Viren befallen oder gar absichtlich infektiös gemacht worden sein und somit die Gesundheit seiner Mitarbeiter gefährden, so die (Verschwörungs-)Theorie im Darmstädter Rathaus.
Den Absender vermutet Jochen Partsch in den Reihen der Teilnehmer der „Querdenken 615“-Demonstrationen, die er Wochen zuvor als „verwirrte Geister“ bezeichnet hatte. Die Staatsanwaltschaft habe die Ermittlungen bereits aufgenommen und ob auf die detektivischen Kompetenzen von Kretschmann zurückgegriffen wird, bleibt unklar.
Arroganz der Macht und Amnesie
Möglicherweise wollten diese Tunichtgute aber auch nur ein „Erinner-mich“ an Winfried Kretschmann schicken. In der Harry-Potter-Reihe ist das ein nützliches Utensil, das an jemanden verschickt wird, damit dieser sich an etwas Wichtiges erinnert. Grundsätzliche Voraussetzung dabei ist, dass man nicht völlig vergisst, was eigentlich im Gedächtnis hätte bleiben sollen. Vielleicht kann sich Kretschmann einfach nicht mehr an seine Rede vom 16. August 2010 in Stuttgart erinnern.
Wie die Redner bei den heutigen Corona-Demonstrationen, stand der damalige Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen im baden-württembergischen Landtag auf einer improvisierten Bühne und sprach auf der 39. Montagsdemo zu einer Menschenmenge, die gegen Stuttgart 21 (S 21), das umstrittene Bahnprojekt, protestierte. In dieser Rede, die sicherlich einen gewissen Einfluss auf seine spätere Wahl zum Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg gehabt hat, kritisierte Kretschman die Vorgehensweise bei der Umsetzung des S21-Projekts. Hier seien die Verantwortlichen des Vorhabens dabei gewesen, „rücksichtslos Fakten zu schaffen“, und er forderte die Beteiligten dringend auf, „endlich den Dialog mit uns zu suchen“. Zudem beklagte Kretschmann die Diffamierung der S21-Gegner sowie „das fürchterliche Wort alternativlos“, um schließlich die Lage der Protestierenden energisch und einprägsam in den Worten:
„Die Arroganz der Macht gehört in eine Monarchie, aber nicht in die Demokratie (…) in der es sich gehört, dass offen die Faktenlage und Sachargumente debattiert werden“ zu untermauern.
Ich empfehle jedem wärmstens und insbesondere Herrn Kretschmann dringend, sich diese flammende Rede auf einem sehr großen Videoportal selbst anzuschauen. Sie müssen nur den Zauberspruch „Winfried Kretschmann 16.08.2010“ in die Suchzeile eingeben. Wer nichts von Zaubersprüchen hält, kann einfach diesem Link folgen.
Offenbar waren die damaligen Tunichtgute angesichts der Arroganz der Macht in derselben Ausgangs- und Gefühlslage, wie es die Kritiker der Corona-Notverordnungen heute sind. Wie dann aus dieser Ohnmacht heraus aber einer von ihnen quasi sukzessive auf die andere, die dunkle Seite der Macht wechselt ... Aber das hat ja mit Harry Potter direkt nichts zu tun und ist eine andere Saga.
Dialog oder Dauerfehde?
Vielleicht sieht sich Darmstadts OB Jochen Partsch diese Rede ebenfalls an. Womöglich hilft es ihm dabei, einen Perspektivenwechsel vorzunehmen und darüber zu sinnieren, ob — in Anlehnung an seine eigene Logik — juristisch eine Unterstützung der Maskenpflicht und einem damit verbundenen Erkrankungsrisiko der Adressaten jener Verordnung eventuell als Beihilfe zur versuchten Körperverletzung ausgelegt werden könnte.
Viel sinnvoller statt einer juristischen Fehde scheint es allerdings zu sein, endlich in einen Dialog mit den Demonstrierenden zu treten. Manche Tunichtgute haben wohl ein großes Durchhaltevermögen, selbst nachdem die Missetat begangen wurde. Die mittlerweile 519. Montagsdemo gegen S 21 war am 6. Juli 2020 mit der ehemaligen Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin als Rednerin auf dem Marktplatz in Stuttgart sehr gut besucht.