Aufrechter Gang

Menschen mit jüdischem und israelischem Hintergrund erklären, was sie an der Corona-Politik stört. Teil 2/3.

Nichts ist politisch gefährlicher in Deutschland, als das Etikett „Antisemit“ verpasst zu bekommen. Man wird zur Persona non grata erklärt und riskiert gesellschaftliche Ächtung. Die traurige Vergangenheit hat bei den Deutschen zu einem — nicht ganz unberechtigten — historischen Schuldbewusstsein geführt, welches sie bei rassistischen Angriffen gegen Juden sehr wachsam macht. Das ist gut so. Es führt aber auch dazu, dass die meisten um alles, was sie auch nur in die Nähe eines Antisemitismus-Verdachts bringen könnte, instinktiv einen großen Bogen machen. Der Begriff Antisemitismus ist zum Totschlagargument geworden, um bestimmte Themen zu diskreditieren und Kritiker in ein schlechtes Licht zu rücken. Es erfordert deshalb Mut, sich an Themen heranzuwagen, die als „antisemitisch“ abgestempelt sind. Das ist bei Menschen mit jüdischem und israelischem Hintergrund nicht anders. Die Autorin hat einige von ihnen befragt.

Es sind viele Menschen mit jüdischen oder israelischen Wurzeln, die die Auffassung teilen, dass Anetta Kahane, Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung, Felix Klein, Antisemitismus-Beauftragter der Bundesregierung, und SPD-Vizevorsitzender Kevin Kühnert in ihrer Pressekonferenz am 24. November 2020 über die wachsende Radikalisierung und die Gefahr durch Antisemitismus und die Corona-Leugner-Szene den Bogen überspannt haben.

Die Gespräche aus dem ersten Teil waren nur ein spontaner Anfang. Viele Menschen haben mit mir Kontakt aufgenommen, nachdem ich über die sozialen Medien nachfragte, wer öffentlich dazu Stellung beziehen möchte. In diesem und dem nächsten Artikel kommen sie zu Wort.

Für manchen ist diese Art der Kritik eine neue Erfahrung, einige — wie Elias Davidsson, der sich hier unter anderen zu Wort meldet — kennen sie schon länger. Bis dato war man schon Antisemit, wenn man das Finanzsystem kritisierte. Derartige Kritik gilt als struktureller Antisemitismus, da ja die Gründer mancher Bankhäuser mosaischen Glaubens waren. Heute reicht es aus, nur Vertreter der Industriemacht zu kritisieren — Herkunft oder Religionszugehörigkeit sind da nicht mehr relevant. Das gipfelt in dem Satz: Wer gegen Bill Gates protestiert, ist genuin antisemitisch.
Auf den Punkt gebracht: Wer gegen die Mächtigen protestiert, ist Antisemit. Also haltet das Maul,
wenn ihr euch eben dieses nicht verbrennen wollt.

Menschen mit jüdischen Wurzeln oder jüdischen Glaubens wie die folgenden drei — aus Sicht der Amadeo-Antonio-Stiftung „Antisemiten“ — lassen sich aber nicht so gern „das Maul verbieten“.

Sohn jüdischer Eltern aus Israel — Antisemit?

Elias Davidsson wurde 1941 in Palästina als Sohn deutscher Eltern mit jüdischem Glauben geboren, die 1931 beziehungsweise 1935 aus Deutschland emigrierten. Er lebte zunächst in Tel Aviv, später in Jerusalem. Der bekannte Autor verbrachte Jahre seines Lebens in Island und Frankreich, bis er vor zwölf Jahren nach Deutschland kam.

Frau Kahane setzt Corona-Maßnahmenkritiker mit Antisemiten gleich. Was sagen Sie dazu?

Das ist natürlich völlig absurd. Ich habe selbst an mehreren Demonstrationen teilgenommen und habe nichts — aber auch absolut nichts — in dieser Richtung gehört, gesehen oder getroffen. Man kann natürlich nicht in die Seelen, den Geist oder den Kopf der Demonstranten hineinschauen — man kann Menschen nur anhand ihres Verhaltens beurteilen. Aber was ich sah, war die Forderung nach Freiheit, Frieden und Demokratie sowie Forderungen, die Maßnahmen zu beenden. Ich habe nichts erlebt, was in Richtung Antisemitismus auch nur am Rand in irgendeine Verbindung gebracht werden kann.   

Ich selbst bin seit meiner Jugend ein Gegner jeglicher Art des Rassismus. Wer sich bei mir zu Hause rassistisch äußert, fliegt auch schon mal raus. Aber das war bei keiner der von mir besuchten Demonstrationen, die sich gegen die Coronamaßnahmen richten, je ein Thema, das ist absoluter Nonsens.

Wie stehen Sie selbst zu den Maßnahmen?

Ich bin selbst aufgrund der Menschenrechte überzeugter Gegner der Maßnahmen und kann nur sagen, dass jeder Deutsche, jeder Mensch überhaupt gegen diese Willkürmaßnahmen aufstehen sollte. Und das hat nichts mit Verschwörungstheorien oder gar Antisemitismus zu tun. Das hat mit dem Grundgesetz zu tun.

Wie schätzen Sie den Antisemitismus in Deutschland ein?

In zwölf Jahren in Deutschland habe ich keinen einzigen bekennenden Antisemiten kennengelernt. Ich weiß nicht, wo dieser mutmaßliche Antisemitismus stattfinden soll. Es gibt Menschen, die Vorurteile gegen Juden haben. Es gibt aber auch Menschen, die Vorurteile gegen Muslime haben — denen begegnet man leider viel häufiger. Vorurteile gegen Banker oder Anwälte sind genauso vorhanden wie „der Pole, der klaut“ oder „der geizige Schotte“. Viele Menschen haben Vorurteile, falsche und dumme Ideen über dies und das, das ist menschlich. Dummheit ist doch ein Menschenrecht. So gesehen ist es auch das Recht von Frau Kahane, ihren Unsinn zu erzählen.

Meinen Sie das ernst?

Ja. Jeder hat das Menschenrecht, Dummheiten von sich zu geben, ohne dafür bestraft zu werden. Sie sollte das aber nicht im Namen der Steuerzahler tun, die ihre Stiftung ja finanzieren. Wenn sie ihre Meinung privat erzählt oder irgendwo auf einem Blog publiziert, ist das für mich völlig in Ordnung. Offiziell geht es natürlich gar nicht! Sie hat auch ein völlig überzogenes Bild von Antisemitismus, das realitätsfremd ist.

Wie meinen Sie das?

Man muss unterscheiden zwischen bellenden und beißenden Hunden. Kritik an Juden zu äußern, Vorurteile zu haben, bedeutet nicht, dass diese Vorurteile in Taten umgesetzt werden. Das ist ein sehr langer Weg dorthin. Ich habe viele Menschen getroffen, die der Meinung sind, dass Juden zu viel Macht hätten, dass Juden die Wall Street kontrollieren würden. Und so weiter. Damit habe ich keinerlei Probleme. Wenn jemand behauptet, die Erde ist flach, wäre das auch kein Problem für mich. Das lässt sich diskutieren.

Ich spreche mit diesen Menschen und frage sie, ob sie das belegen können, ob es nur Juden wären, die aufgrund ihres Reichtums zu viel Macht hätten. Ich mache den Menschen deutlich, dass man sich die Fakten anschauen muss. Reiche Juden agieren ja nicht als Juden, sondern als reiche Menschen. In Israel gibt es sehr viele sehr arme jüdische Menschen. Kein einzelner Mensch agiert im Namen des jüdischen Volkes, im Namen des Judentums, sie agieren im Namen des Geldadels. Im Gespräch merkt man schnell, dass die meisten keine Antisemiten sind, sondern Ideen haben, die man diskutieren kann. Keiner fordert, dass man Juden diskriminieren sollte.

Diese Vorurteile sind dumm. Sie zu einer existenziellen Bedrohung zu potenzieren, ist pathologisch. Vorurteile können schädlich werden, wenn sie in der Politik Auswirkungen haben. Und was derzeit gerade in der Politik passiert, ist schädlich.

Warum?

Ich bin überzeugt, das Thema Antisemitismus wird politisch instrumentalisiert. Frau Kahane dient als Alibi, weil sie Jüdin ist. Ihre Besessenheit mit Antisemitismus wird für andere Zwecke genutzt, darunter mit dem Ziel, die Querdenken-Bewegung zu diskreditieren. Dahinter steht eine faschistoide Politik, die den Antisemitismus für politische Ziele missbraucht.

Welche Ziele sehen Sie da?

Ich bin jetzt über 30 Jahre mit internationaler Politik befasst, habe mehrere Bücher zum Thema Staatsterrorismus geschrieben. Ich sehe im Hintergrund eine Agenda, die dazu dient, Rechtsstaat und Demokratie abzuschaffen, damit die Reichen noch reicher werden. Dafür müssen alle möglichen Feinde herhalten. Der islamistische Feind wurde in den 1990er-Jahren aus der Taufe gehoben.

Jetzt sind es die Corona-Maßnahmengegner, die als Feind herhalten müssen. Das ist alles nichts Neues. Es hat schon etwas Skurriles, wenn man einen jüdischen Antirassisten wie mich zu einem Antisemiten erklären würde. Dann sagt man, der Mann sei ein selbsthassender Jude oder ganz einfach ein Verschwörungstheoretiker. Auf Wikipedia werde ich tatsächlich so diffamiert. „Antisemitismus“ ist ein hervorragendes Mittel, Menschen zu diskreditieren.

Das bringt es auf den Punkt – danke dafür!

Enkelin jüdischer Flüchtlinge aus Kolumbien — Antisemitin?

Petra Derlaw, 58, stammt aus Bogotá, Kolumbien, lebt und arbeitet als Schneiderin in Köln.

Sie stammen aus Kolumbien?

Ja, meine Großmutter ist mit der Familie im Dezember 1938 nach Kolumbien ausgewandert. Dort lebte bereits mein Urgroßonkel seit Anfang der 1920er-Jahre. Ihm hatte die Entwicklung in Deutschland nicht gefallen. Er hat in Bogotá eine jüdische Gemeinde gegründet, eine Synagoge gebaut und seinem Bruder schon lange gesagt, er solle folgen.

Nach der Reichskristallnacht sind sie gegangen?

Ja, mein Urgroßvater wurde in der Reichskristallnacht einkassiert — verhaftet — und von einem SS-Mann gewarnt, er solle sehen, dass er wegkommt, weil die Familie deportiert würde. Ende Dezember sind sie verschwunden und nach vielen Schikanen mit dem Schiff nach Kolumbien geflohen. Dort haben alle den Krieg überlebt.

Wie ging es mit Ihrer Familie weiter?

Meine Großmutter hat Anfang der 1940er-Jahre einen ebenfalls nach Bogotá geflüchteten Berliner Juden geheiratet, meine Mutter nach ihrer Ausbildung im französischen Lyzeum meinen Vater kennengelernt, einen katholischen Kolumbianer. Ich kam 1962 auf die Welt. Die Rückkehr nach Deutschland war 1966. Meine Großmutter ging mit den Kindern und Enkeln, ohne meinen Vater. Meine Mutter wollte aber wieder nach Kolumbien und ist leider kurze Zeit später verstorben. Daher wuchs ich bei meiner Großmutter auf, die mich stark geprägt hat.

Haben Sie Antisemitismuserfahrung?

Persönlich kaum. Ich habe eher rassistische Übergriffe erlebt, da ich als Kind sehr dunkle Haut und Augen hatte. Aber mein jüdischer Großvater hatte in Nachkriegsdeutschland Probleme. Er hatte in Berlin in den 1950er-Jahren ein Gebäude angemietet und dort ein Hotel eingerichtet. Als ich 13 war, erzählte er mir, dass er fast wöchentlich eine Morddrohung als Jude bekäme.

Antisemitismus ist unausrottbar. Ich habe mich intensiv mit der Historie des jüdischen Lebens der Juden in den Ghettos und nach der Öffnung der Ghettos beschäftigt. Antisemitismus ist so alt, wie es jüdische Menschen gibt, die ihren Geschäften nachgehen.

Hatte Ihre Familie in Kolumbien Antisemitismuserfahrung?

Kolumbien hat nur wenige Nazis aufgenommen. Darüber hinaus haben Kolumbianer ihre eigenen Probleme, waren und sind mit Überleben beschäftigt. Es gab sicher auch dort diesbezüglich einiges, aber die Familie hat davon nichts mitbekommen.

Wie stehen Sie zu Corona?

Wenn man sich die Zahlen anschaut, wurde die Influenza durch Corona abgelöst. Es gibt das Virus, es gibt Tote, es ist eine gefährliche Erkrankung, an der Menschen sterben. ABER: Es ist nicht die todbringende Seuche, als die sie uns verkauft wird. Ich empfinde Corona nicht als bedrohlich, die Maßnahmen dagegen jedoch sehr.

Was sagen Sie zu den Coronamaßnahmen?

Die sind menschenverachtend! Wenn Großeltern ihre Enkel nicht sehen dürfen, wenn Menschen in ihren Wohnungen isoliert werden, wenn alles, was Menschen ausmacht, auf einmal untersagt ist, dann stimmt etwas nicht. Die gesetzlichen Änderungen sind furchtbar. Das Aushebeln des Grundgesetzes ist ein Todesstoß für jede Demokratie.

Also haben Sie auch dagegen protestiert?

Ja, mehrfach — in Köln und an vielen verschiedenen Orten. Aber es ist jedes Mal ein ziemlicher Stress aufgrund der intensiven Polizeipräsenz. Ich fühle mich in das Leben meiner Großmutter versetzt, merke die heftige familiäre Retraumatisierung. Ich komme immer wieder in einen Film — früher war es der Judenstern, heute ist es das „Nichttragen der Maske“.

Sie gehen auf Demos und tragen keine Maske — also sind Sie eine rechtsradikale Antisemitin?

Wenn man den Medien und Frau Kahane folgt, ja. Aber das ist absurd. Und ich verniedliche auch nicht die Schoah — wie man schon hören durfte. Ich begreife das alles nicht. Wie kann man die Menschen so dermaßen belügen und so tun, als ob das ganz normal wäre? Das hat alles nichts mehr mit Demokratie zu tun. Diese Propaganda wird in einer unglaublichen Perfektion betrieben.

Kaum geht man auf die Straße und protestiert für den Erhalt des Grundgesetzes, schon heißt es überall: Das sind alles Rechtsradikale. Das verfolgt mich seit April, das belastet mich psychisch enorm. Ich bin froh, dass ich meine Arbeit noch erledigen kann. Ich versuche, der Verleugnung aktiv entgegenzuwirken, auch um mich zu entlasten.

Was tun Sie?

Ich sage den Menschen: „Das mit dem Virus ist die eine Sache. Die andere ist, wenn ein Mensch nicht mehr Mensch sein kann. Da fühle ich mich jetzt wie im Leben meiner Großmutter. Wir werden in Deutschland mithilfe von Verordnungen und einem Ermächtigungsgesetz regiert.“ Manche reagieren darauf, können verstehen, dass mir das Angst macht.

Was erwarten Sie für die Zukunft?

Ich hoffe, dass dieser Spuk nicht mehr lange dauert. Wir tragen alle dazu bei, es zu verändern — und ich bin ein optimistischer Mensch.

Danke dafür!

Traditionell-religiöse Jüdin — Antisemitin?

Carmen M., 46, stammt aus Wien und pendelt jetzt zwischen Wien und Berlin. Aktuell ist die Buchhändlerin aufgrund von Corona arbeitslos und kann auch ihren kulturellen Interessen nur eingeschränkt nachgehen.

Warum wollen Sie das Interview nicht mit vollem Namen führen?

Ich kriege bereits auf Facebook entsprechende Kommentare. Es gibt enorme Anfeindungen, ich werde beschimpft und gemobbt, eine frühere Freundin hat mich sogar bedroht. Das sind keine antisemitischen Bedrohungen, auch jüdische Freunde greifen mich an, weil ich nicht das gängige Narrativ vertrete.

Sie sind Jüdin?

Ja — traditionell. Also weder ultraorthodox noch liberal. Ich bin Mitglied der Israelischen Kultusgemeinde (IKG) in Wien, einer Gemeinde, in der es derzeit keine Gottesdienste gibt.

Wie stehen Sie zu den Coronamaßnahmen?

Die Maßnahmen sind völlig unangemessen, die psychischen Schäden unabsehbar. Ich fürchte, es kommen heftige psychische Erkrankungen mit Langzeitfolgen auf die Gesellschaft zu. Ich habe erst vor Kurzem eine Studie gelesen, wie Isolation Psyche und Existenz der Menschen zerstört. Das ist unvertretbar — für eine Erkrankung, die man nicht auslöschen kann.

Auch Grippeviren kommen jedes Jahr wieder. So traurig das ist: Täglich sterben Menschen an multiresistenten Keimen, an Influenza, Herzinfarkten oder Krebs. Sterben gehört zum Leben. Da die Gottesdienste ausfallen, sind wir in der Religionsausübung beeinträchtigt. Gott sei Dank ist Berlin da etwas mutiger.

Wie meinen Sie das?

Die Synagoge in Berlin hat ein Hygienekonzept. Man muss anrufen und sagen, wann man in den Gottesdienst gehen will. Jede Woche wird Fieber gemessen, und es werden die Daten aufgenommen. Aber immerhin finden Gottesdienste statt.

Gehen Sie auf Demonstrationen?

Ja, soweit mir das am Schabbat möglich ist. Vormittags gehe ich in die Synagoge, da muss ich erst nach Hause, um mich umzuziehen. Am Anfang bei den Hygienedemos für das Grundgesetz und mehrere Male in Wien bei den Demos der Initiative für evidenzbasierte Corona-Informationen (ICI) war ich dabei.

Warum sind Sie da hingegangen?

Es ist mir wichtig, dagegen zu protestieren, dass Gesetze ausgehebelt werden und sich alles in Richtung einer globalen Diktatur entwickelt. Das sind Entwicklungen, die ich als sehr bedenklich erachte. Die Maske ist für mich ein Symbol der Unterdrückung. Die Menschen haben nichts zu sagen, man klebt ihnen den Mund zu. Das hat einen starken symbolischen Wert, wir werden als Bürger entmündigt. Das ist nicht hinnehmbar. Da muss ich etwas machen. Leider tun viel zu wenige etwas.

Wie verhält sich die jüdische Gemeinde?

Ich höre von Rabbinern Sätze wie „Man soll befolgen, was die Regierung sagt, die meinen das nur gut“ oder „Es ist keine Zeit für falsch verstandene Religiosität — es besteht Lebensgefahr“. Da kann ich nur sagen: Selbst in Auschwitz haben die Menschen gebetet – da bestand Lebensgefahr. Zwei Brüder meines Großvaters mütterlicherseits starben im KZ.

Nach der Schoah stand die Frage im Raum: Warum habt ihr euch nicht gewehrt? Ist es überzogen, diese Frage heute wieder zu stellen?

Nein. Die Frage muss man stellen. Ich verstehe nicht, dass Menschen sich — freiwillig — wegsperren lassen, dass sie Vorschriften akzeptieren, die sie hinter vorgehaltener Hand für sinnlos erklären. Ich verstehe nicht, dass nicht mehr Menschen auf die Demos gehen. Eigentlich würde ich Proteste wie 1989 in der DDR erwarten. Es ist wieder die schweigende Masse, die einfach aus Angst oder anderen Gründen mitmacht. Indem man mitmacht, unterstützt man die Mächtigen. Damals wie heute ist das der gleiche Mechanismus. Gerade von Juden müsste man mehr Widerstand erwarten.

Waren Sie früher schon politisch aktiv?

Ich war immer interessiert, aber nicht aktiv. Aber bei gesellschaftlichen Entwicklungen wie jetzt muss man doch handeln. Ich bin definitiv nicht der typische Demonstrant, eher ruhig und zurückhaltend, also niemand, der auf die Straße geht. Aber jetzt muss es einfach sein.

Gab es auf den Demos Antisemiten oder Rechte?

Ein Einzelner hat in Wien mal „rechte“ Flyer verteilt, mehr habe ich nicht gesehen. Von der Oma bis zum Enkelkind waren das alles offene, aufgeschlossene, ganz normale Menschen. Aber ich habe als Jüdin schon mehrfach zu hören bekommen, dass ich ein Nazi sei, weil ich auf die Demos gehe. In Israel sind die Maßnahmen übrigens noch diktatorischer. Der Lockdown war umfassend, und es gibt seitens vieler Israelis heftige Kritik. Sind Israelis jetzt Nazis?

Laut Frau Kahane sind es zumindest Antisemiten. Was sagen Sie zu der Pressekonferenz?

Diese Vermischung aus Corona und Antisemitismus hat keinen Bezug zur Realität. Zu sagen, Antisemitismusbekämpfung dient dem Gesundheitsschutz, ist einfach nur wirr, wirft alles in einen Topf. Ja, es mag einzelne Demonstranten aus dem rechten Spektrum gegeben haben, aber in der Pressekonferenz gewinnt man den Eindruck, das wäre die übergroße Mehrheit. Das ist schlichtweg falsch und auch verletzend. Irgendwie ist es ein persönlicher Angriff, dass ich mich mit Antisemiten und Nazis in einem Topf wiederfinde, dass ich verunglimpft werde, nur weil ich gegen die Maßnahmen protestiere. Das geht doch gar nicht.

Ja, das sehe ich auch so. Danke für Ihre Unterstützung!

Weitere Betroffene melden sich im nächsten Artikel zu Wort. Wir sind viele. Es trauen sich nur — noch — zu wenige, es offen auszusprechen.